Warum streiten sich Sunniten und Schiiten?
Im Irak, in Pakistan oder in Bahrain ist oft die Rede von Gewalt und Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Die Konflikte würden durch Fundamentalisten aus beiden islamischen Richtungen geschürt, sagt Nahost-Experte Arnold Hottinger.
Der langjährige Nahost-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) hat zahlreiche Bücher über den Islam, die arabische Welt und den Nahen Osten publiziert. Im Gespräch mit swissinfo.ch erklärt der Islam-Experte die Unterschiede zwischen Schiismus und Sunnismus, und welche Rolle die beiden Religionsgruppen in den Ländern der Region spielen.
swissinfo.ch: Wie kam es dazu, dass eine sunnitische Minderheit über eine schiitische Mehrheit regieren kann, wie zum Beispiel in Bahrain, wo zurzeit Volksaufstände stattfinden?
Arnold Hottinger: Das ist eine Machtfrage, die sich aus der Geschichte ergibt. Bahrain hat eine sunnitische Regierung und ein mehrheitlich schiitisches Volk, 70 Prozent der Bevölkerung sind Schiiten. Auch am Beispiel Irak – mit schiitischer Mehrheit – lässt es sich gut erklären.
Irak gehörte zum Osmanischen Reich, und die Türken waren Sunniten und setzten in Bagdad sunnitische Gouverneure ein. Als später die Engländer die Macht über den Irak hatten, hielten auch sie die Schiiten nieder und förderten die Sunniten.
Aber in Nordafrika, wo die Revolutionen ihren Anfang nahmen, spielt die Unterscheidung zwischen Schiiten und Sunniten keine Rolle. Dort leben Sunniten.
swissinfo.ch: Wie kam es zur Spaltung der Religionsgemeinschaft?
A.H.: Früh in der islamischen Geschichte gab es eine politische Diskussion, wer die Gemeinschaft der Muslime anführen solle.
Die Muslime, die heute Schiiten genannt werden, waren der Meinung, die physischen Nachfahren des Propheten sollten den Islam anführen. Die heute als Sunniten bezeichneten Gläubigen waren der Ansicht, die geeignetsten Personen sollten ihn führen
swissinfo.ch: Bedeutet das, dass alle heutigen schiitischen Imame Nachfahren des Propheten sind?
A.H.: Nein. Ungefähr im 9. Jahrhundert gab es keine physischen Nachkommen mehr. Die Schiiten sind der Meinung, dass der letzte Imam in die Ewigkeit eingegangen ist und wiederkommen wird. Das entspricht einer Art Messiasvorstellung, wie im Christentum. Er wird beim jüngsten Gericht wiederkommen. In der Zwischenzeit sind die Geistlichen seine Vertreter. Die Geistlichkeit hat sich allerdings in den einzelnen Ländern verschieden entwickelt.
Der Iran ist der einzige schiitische Staat. Dort hat sich der Glaube entwickelt, dass sich jeder Gläubige einen geistlichen Führer aussuchen soll. Hat ein Geistlicher sehr viele Gläubige, nennt man ihn Ayatollah.
Man muss sich bewusst sein, dass die iranischen Schiiten sich stark von den arabophonen Schiiten unterscheiden.
swissinfo.ch: Inwiefern?
A.H.: Der persische Schiismus hat sich stark mit der Ur-Religion, dem Zoroastrismus, vermischt. Die Perser, die heutigen Iraner, haben eine andere Sprache, eine andere Geschichte und eine andere Kultur.
Wie entwickelten sich sunnitische Staaten?
A.H.: In der Sunna spielt der Staat eine viel grössere Rolle, weil die Sunniten der Meinung waren, dass derjenige, der den Staat am besten leiten kann, der Gerechte, der legitime Nachfolger des Propheten ist. Kalif heisst er im Sunnismus. Er stammt nicht vom Propheten ab, sondern er ist der, den Gott durch seine politischen Erfolge zum Nachfolger bestimmt hat.
swissinfo.ch: Kann man beispielsweise in Bezug auf die Säkularisierung einen generellen Unterschied ausmachen zwischen schiitischer und sunnitischer Entwicklung?
A.H.: Nein. Man kann nicht sagen, die Schiiten sind säkularer als die Sunniten oder umgekehrt. Der Iran hat mit der Revolution Khomeinis von 1978 den Schritt hin zum direkten Gottesstaat gemacht. Das heisst, zum Staat unter der Herrschaft der Gottesgelehrten. Das war etwas völlig Neues, was es vorher weder im Schiismus noch im Sunnismus gegeben hat. Khomeini hat die Idee des Gottesstaates erfunden. Machtmässig existiert der Gottesstaat nun, aber er wird vom grössten Teil des Volkes schon nicht mehr akzeptiert. Das sieht man an den Demonstrationen im Iran.
Der führende Gottesgelehrte im arabischen Schiismus, Al-Sistani, ist gegen die Idee des Gottesstaates.
swissinfo.ch: Wie kommt es, dass die Sunniten und die Schiiten sich bis aufs Blut bekämpfen, wie beispielsweise in Pakistan?
A.H.: Das hat mit dem Fundamentalismus zu tun. In beiden islamischen Richtungen gibt es fundamentalistische Strömungen. Sie werden getragen von Leuten, die sich auf eine wortwörtliche Auslegung sowohl des Korans als auch der Scharia festlegen. Wenn die Sunniten in Pakistan diese Auslegung übertreiben und die Schiiten als Ketzer bezeichnen, kommt es auch zu Gewalttaten.
Fundamentalisten gibt es überall. Wenn man an die evangelikalen Protestanten in den USA denkt, die den Darwinismus ablehnen, dann sind das meiner Meinung nach auch Fundamentalisten. Und es gibt noch zahlreiche andere fundamentalistische Gruppen, in jeder Religion. Auch im Katholizismus finden Sie sie.
swissinfo.ch: Gibt es Unterschiede in Bezug auf die Verschleierungsgebote für Frauen zwischen Sunniten und Schiiten?
A.H.: Mit dem Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten hat dieser Punkt nichts zu tun, auch da geht es um die Frage, wie fundamentalistisch man die Religion versteht. Khomeini zum Beispiel war sehr fundamentalistisch und hat die Verschleierung im Iran mit Zwang wieder eingeführt.
swissinfo.ch: Sind die Muslime in der Schweiz sunnitisch oder schiitisch?
A.H.: Es sind fast nur Sunniten. Auch die Muslime aus dem Balkan sind sunnitisch, der Balkan gehörte zum Osmanischen Reich, und das war sunnitisch. Es ist natürlich nicht auszuschliessen, dass mal ein Schiite als Tourist einreist (lacht).
Der Islam ist eine monotheistische Religion, die auf den Propheten Mohammed zurückgeht. Nach islamischer Überlieferung erschien ihm im Alter von etwa 40 Jahren erstmals der Erzengel Gabriel, der ihm im Verlauf seines weiteren Lebens über Jahre hinweg die Verse der göttlichen Offenbarung, des Korans, diktierte.
Die fünf «Säulen» des Islam sind die Grundpflichten, die jeder Muslim zu erfüllen hat: Schahada (islamisches Glaubensbekenntnis), Salat (fünfmaliges Gebet), Zakat (Almosensteuer), Saum (Fasten im Ramadan), Haddsch (Pilgerfahrt nach Mekka).
Der Zoroastrismus bzw. Zarathustrismus ist eine um 1800 v. Chr.-700 v. Chr. vermutlich in Baktrien entstandene, monotheistische bzw. (zumindest in ihren frühen Ausprägungen) dualistische Religion, mit etwa 120’000-150’000 Anhängern, die ursprünglich im iranischen Raum verbreitet war.
Der Begründer des Zarathustrismus war Zarathustra (griech. Zoroaster). Im Zentrum des auf ihn zurückgeführten Glaubens steht der Schöpfergott Ahura Mazda. Er wird begleitet von unsterblichen Heiligen (Amesha Spenta) sowie von seinem Widersacher, dem bösen Dämon Angra Mainyu (Ahriman).
Obwohl die Zoroastrier mehrere Gottheiten (z. B. Anahita oder Mithra) kennen, ist die Religion grundsätzlich vom Dualismus zwischen Ahura Mazda und Ahriman geprägt. In der Spätantike war die zurvanistische Variante des Zoroastrismus weit verbreitet, in der der gute und der böse Geist als die Kinder der «unendlichen Zeit» (Zurvan/Zervan) galten.
Der Zoroastrismus ist eine Schriftreligion und basiert auf der heiligen Schrift Avesta. Gottesbilder sind dem Zoroastrismus fremd. Er kennt allerdings Feuertempel.
1926 geboren, aufgewachsen in Düsseldorf und Basel.
Orientalistik- und Romanistik-Studium in Zürich, 1952 Promotion.
Weiterführende Studien in Paris, Chicago, Kairo und Beirut.
Hottinger spricht fliessend Arabisch sowie sechs weitere Sprachen.
1961 bis 1999 Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Beirut. Später Korrespondent in Madrid und Nikosia.
Arbeit für Radiostationen (u.a. Schweizer Radio International SRI), Veröffentlichungen in Zeitschriften. Hottinger hat zahlreiche Bücher zu den Themen Islam, Arabien und Naher Osten verfasst, von denen einige als Standardwerke gelten.
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