Warum Tourismus eine nachhaltige Entwicklung fördern kann
Die Pandemie hat die weltweite Tourismusbranche im vergangenen Jahr in die Knie gezwungen. Auch in der Schweiz blieb die Branche nicht verschont. Laut Martin Nydegger, Direktor der nationalen Tourismusorganisation, hat die Branche ihre Lektion gelernt und legt nun den Akzent auf Nachhaltigkeit.
Die Schweiz als nachhaltigstes Reiseziel der Welt: Dazu haben wir bereits viele Asse in der Hand. Nun brauchen wir jedoch eine langfristige Strategie, gemeinsame Ziele für alle Akteure und einen ganzheitlichen Ansatz für alle drei Säulen der nachhaltigen Entwicklung.
Die Natur, unsere mächtigen Berge und sehr vielfältigen Landschaften auf kleinem Raum waren schon immer die Hauptmotivation für eine Reise in die Schweiz. Seit der Ankunft der ersten Touristengruppen, was wir als den Beginn des «Massen»-Tourismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnen können.
Woher auch immer sie kommen, die Reisenden erwarten auch heute noch, dass sie in unserem Land von der Natur fasziniert und angeregt werden sowie so zur Ruhe kommen können.
Martin Nydegger ist der Direktor von Schweiz Tourismus (ST). Vor seiner Tätigkeit bei ST arbeitete er in verschiedenen Positionen in der Tourismusbranche, unter anderem war er sechs Jahre lang Direktor der Tourismusorganisation Unterengadin (Graubünden).
Nydegger ist gebürtiger Berner und lebt im Kanton Zürich. Wenn er nicht arbeitet, ist er oft in den Schweizer Alpen, beim Wandern oder Snowboarden.
Schweiz Tourismus (ST) ist die nationale Tourismusorganisation der Schweiz. Seit über 100 Jahren fördert ST im Auftrag des Bundes die nationale und internationale Nachfrage nach der Schweiz als Ferien-, Reise- und Kongressland. ST vermarktet die Schweiz in 22 Ländern der Welt und beschäftigt 240 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Ich bin da nicht anders. Als junger Touristiker im Unterengadin (Engadin Scuol) in den frühen 2000er-Jahren war mir bewusst, dass die Natur unser wichtigstes Gut ist, wenn es um Tourismus geht.
Diese Region, die nicht für ihre spektakulären Attraktionen oder plakativen Marketingkampagnen bekannt ist, war immer eine Inspiration und ein Modell für nachhaltigen Tourismus, ein Modell für eine feine Balance zwischen allen drei Säulen der nachhaltigen Entwicklung (Menschen, Planet, Wohlstand).
Der Tourismus im Unterengadin basiert auf authentischen Erlebnissen: die Erkundung der Wunder des nahegelegenen Schweizer Nationalparks, der Genuss der therapeutischen Wirkung seiner Mineralwasser-Quellen und die Entdeckung der vielen Facetten der romanischen Kultur.
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Die Region hatte immer langfristige Ziele für eine ausgewogene Entwicklung des Tourismus im Auge, die den Wohlstand und die soziale Gerechtigkeit sichert und gleichzeitig die Umwelt schützt. Das prägte mein Verständnis von «gesundem Tourismus» und wurde zu einem dauerhaften Anspruch.
Und dennoch, vor über 15 Jahren stand erst die Sensibilisierung für die kommenden Herausforderungen im Vordergrund, um den Tourismusanbietern klar zu machen, wie sehr die Sorge um die Natur – namentlich im Rahmen des Klimawandels – ihre Branche in der Schweiz komplett umkrempeln könnte.
Im Jahr 2008 habe ich im Auftrag von Schweiz Tourismus (ST) als Leiter Business Development eine Studie mit der Universität Bern zu den möglichen Auswirkungen des Klimawandels auf die Tourismusbranche bis 2030 initiiert und mitverfasst.
Dies war ein Weckruf, um deutlich zu machen, wie touristische Geschäftsmodelle – insbesondere in tiefer gelegenen Wintersport-Destinationen – in den kommenden Jahren überdacht und umgestaltet werden müssen.
Die Bekämpfung des Klimawandels sollte jedoch nicht unsere einzige Sorge sein. Heutzutage müssen alle Aspekte des Tourismus daraufhin untersucht werden, wo und wie Verbesserungen im Sinne einer nachhaltigeren Entwicklung möglich sind. Und das bedeutet nicht, dass wir einen Aspekt der nachhaltigen Entwicklung auf Kosten anderer Aspekte in den Vordergrund rücken sollten.
Lassen Sie mich ein Beispiel auf nationaler Ebene nennen. Im Jahr 2015 hat ST die Grand Tour of Switzerland ins Leben gerufen, eine 1600 km lange Route quer durch die Schweiz, unsere ganz eigene «Route 66». Macht das wirklich Sinn, wo doch bekannt ist, dass fossile Brennstoffe den Klimawandel beeinflussen?
Ja, denn die Vision hinter der Grand Tour war es, den Gästen, die mit dem Auto in die Schweiz reisen (immer noch rund 60% der Reisenden) Anregungen zu geben, neue und weniger bekannte Orte zu entdecken. Mit anderen Worten, den Autoverkehr auf «neue Wege» zu lenken und den peripheren Regionen neue wirtschaftliche Perspektiven zu eröffnen.
Darüber hinaus haben wir nur zwei Jahre später, in Partnerschaft mit einem grossen Schweizer Stromanbieter, den weltweit ersten Roadtrip für Elektrofahrzeuge ins Leben gerufen: Die gesamte Strecke wurde mit über 300 Ladestationen für Elektrofahrzeuge ausgestattet – und das in einem Land, in dem diese Steckdosen noch gar nicht üblich waren. Im selben Jahr wurde die Grand Train Tour of Switzerland lanciert, um Rundreisen mit dem Zug in der Schweiz zu fördern.
Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass die Covid-Pandemie das Thema Nachhaltigkeit aus seinem Nischandasein herausgeholt hat:
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Coronakrise: Chance für nachhaltigen Tourismus
Für ST geht es beim nachhaltigen Tourismus also darum, Lösungen auf nationaler Ebene zu finden, um das Gleichgewicht zwischen den drei Säulen der nachhaltigen Entwicklung zu verbessern. Aber die Herausforderungen, die zu einem Ungleichgewicht führen können, sind vielfältig.
Das war schon vor einem Jahrzehnt so, als chinesische Touristinnen und Touristen begannen, die Welt zu erkunden und in grosser Zahl in die Schweiz kamen. Sie waren begierig darauf, Orte zu entdecken, die sie noch nie zuvor gesehen hatten, und so mussten sich die Reiseziele in Europa schnell an eine neue Nachfrage von riesigem Ausmass anpassen. Das richtige Gleichgewicht für den Tourismus zu finden, braucht ein wenig Zeit und viel Flexibilität.
Daher müssen wir langfristig denken und überlegen, wie sich unsere Branche in den nächsten zehn Jahren entwickeln soll. Immer natürlich unter Vorbehalt von nicht vorhersehbaren Ereignissen wie der aktuellen Pandemie, die den Tourismus beeinträchtigen können.
Seit einigen Jahren haben wir daher unsere Werbeaktivitäten in China komplett auf Individualreisende ausgerichtet: Gäste, die länger bleiben und relativ unbekannte Orte besuchen wollen, im Gegensatz zu den touristischen Hotspots.
Das bedeutet, dass viel mehr Destinationen von dieser Art von Tourismus profitieren können. Mit dem Flugzeug eine so weite Strecke zu reisen, ist nicht gut für die Umwelt, aber länger zu bleiben und vor allem mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu reisen, wenn man einmal in der Schweiz ist, macht die ganze Reise nachhaltiger.
Vor der Pandemie machten die Chinesinnen und Chinesen (inklusive Hongkong und Taiwan) jede zehnte touristische Ankunft in der Schweiz aus, womit sie bei den ausländischen Besuchenden nur hinter Deutschland und den USA lagen.
Doch wo Letztere im Jahr 2019 durchschnittlich mehr als zwei Nächte in Schweizer Ferienunterkünften verbrachten, blieben die Chinesinnen und Chinesen kaum länger als einen Tag.
Wegen des starken Wachstums der schieren Zahl der aus China ankommenden Gäste (mit einem Plus von fast 400% bei den Übernachtungen zwischen 2009 und 2019), gepaart mit dem stetigen Rückgang der Übernachtungen europäischer Besuchender (Deutsche -35% im gleichen Zeitraum), blieb China als einer von acht «Prioritätsmärkten» im Fokus des Tourismusmarketings.
Mit der Coronavirus-Pandemie änderte sich das allerdings drastisch: Die Reisebeschränkungen sahen einen Rückgang zwischen 85-95 % bei den ausländischen Besuchenden, einschliesslich jenen Kurzzeit-Gästen aus China, auf welche die Tourismusindustrie zunehmend angewiesen war.
Den richtigen Gästemix zu finden, ist von grösster Bedeutung, damit die lokale Wirtschaft weiterhin florieren kann und die Tourismusanbieter in nachhaltige Angebote und Infrastruktur investieren können.
Vor der Pandemie gab es einen ausgewogenen Gästemix: 45% der Gäste aus der Schweiz, 35% aus dem nahen Ausland und 20% aus Übersee. Das zeigt, wie sehr der Tourismus in der Schweiz von seinen einheimischen und europäischen Gästen abhängig ist. Eine Tatsache, die sich auch dann nicht ändern wird, wenn der internationale Reiseverkehr wieder in Schwung kommt.
Ich hatte das Privileg, in verschiedenen Ländern (Indien, Afrika, den Niederlanden und natürlich der Schweiz) zu arbeiten und in vielen weiteren zu reisen und dabei Erfahrungen über die Entwicklung des Tourismus zu sammeln. Ich bin überzeugt, dass nachhaltiger Tourismus nur aus einem ganzheitlichen Ansatz entstehen kann, der die feine Balance zwischen allen drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigt.
Manchmal werden grosse Leistungen zum Schutz der Natur erbracht, aber andere Aspekte, die für die Nachhaltigkeit entscheidend sind, bleiben oft unberücksichtigt. Ich war zum Beispiel tief beeindruckt von der strategischen Bedeutung, die dem Naturschutz in Costa Rica beigemessen wird.
Im Jahr 1948 schaffte das Land die Armee ab und konzentrierte sein Budget stattdessen auf Bildung, Tourismus und Umweltschutz. Dies hatte einen enormen Einfluss auf die Erhaltung des natürlichen Lebensraums von Pflanzen und Tieren, aber auch auf die Einbeziehung der Bevölkerung in die Pflege dieses Lebensraums durch Bildung. Bildung wiederum dient dem Tourismus, da die Anbieter in Costa Rica über ein hohes Wissen im Naturschutz verfügen.
In Sachen Mobilität war die Entwicklung damals allerdings noch nicht so erfolgreich. Öffentliche Verkehrsmittel waren rar, und der schwere LKW-Verkehr für den Transport von landwirtschaftlichen Produkten verstopfte das Strassennetz. Dennoch ist das Empowerment der Bevölkerung im Sinne des Umweltschutzes ein Aspekt, den ich sehr inspirierend finde.
Ich glaube nämlich, dass der Wandel von innen kommen muss. Lernen, Erfahrungen teilen – Erfolge wie auch Misserfolge – und eine ganze Gemeinschaft vom vorhandenen Wissen profitieren lassen, ist der einzige Weg, um Veränderungen zu inspirieren und zu erzeugen.
Das ist auch die Philosophie der Strategie für nachhaltigen Tourismus, die wir gemeinsam mit der Schweizer Tourismuswirtschaft und der Unterstützung des Seco (Staatssekretariat für Wirtschaft) im Februar dieses Jahres gestartet haben.
Diese Strategie – ich bezeichne sie lieber als Bewegung – mit dem Namen «Swisstainable» zielt darauf ab, die Tourismusbranche unseres Landes bei der Umsetzung nachhaltiger Lösungen zu unterstützen und gleichzeitig unseren Gästen zu zeigen, was die Anbieter in Sachen Nachhaltigkeit auf die Beine gestellt haben.
Es handelt sich um ein ehrgeiziges Programm. Wir hoffen, bis Ende 2023 4000 Schweizer Tourismusanbieter an Bord zu haben. Denn alle teilnehmenden Betriebe verpflichten sich, konkrete Massnahmen in Sachen Nachhaltigkeit zu ergreifen. Mit der «Swisstainable»-Bewegung teilen wir Wissen, schaffen Nachahmung unter den Tourismusanbietern und geben unseren Gästen eine Anleitung, wie sie verantwortungsvoller in der Schweiz reisen können.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten von SWI swissinfo.ch wider.
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