«Grosse Unterschiede zwischen Gesetz und Wirklichkeit»
Wie integriert man sich als Schweizer in Russland? Russische Freunde und vertiefte Kenntnisse von Literatur, Geschichte und Kultur sowie dem Sport des Landes können dabei helfen, sagt der 45-jährige Geschäftsmann Daniel Rehmann, seit 2017 im Auslandschweizer-Parlament als Vertreter der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in Russland.
swissinfo.ch: Warum haben Sie Russland als Wohnsitz gewählt? War es zufällig oder geplant?
Daniel Rehmann: Das ergab sich aufgrund des Geschäftsaufbaus vor Ort sowie der wissenschaftlichen Weiterausbildung an der Universität in St. PetersburgExterner Link.
Geplant war das nicht. Ich habe auf einer Reise Leute in St. Petersburg kennengelernt, die mir eine Kooperation beim Aufbau eines Geschäfts im Tourismus vorgeschlagen haben. Dies war mein Beginn in St. Petersburg. Es war auch die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in Russland, und es gab viele Geschäftsmöglichkeiten. Also bin ich geblieben und habe mein eigenes kleines Geschäft aufgebaut sowie mich noch an den lokalen russischen Universitäten weitergebildet.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten, unter anderem zum Gastland und über dessen Politik, sind ausschliesslich jene der porträtierten Person und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
swissinfo.ch: Wie stellten Sie sich Russland vor Ihrer Ankunft vor, welche Erwartungen hatten Sie?
D.R.: Ich habe Russland schon vorher einige Male besucht und Kontakte geknüpft, war also ein wenig vorbereitet. Erwartungen gab es natürlich, aber ich war immer realistisch genug, die Chancen und Risiken zu sehen. Der wirtschaftliche Boom in den Jahren von 2002 bis 2008 war sehr eindrücklich, und Moskau und St. Petersburg haben sich sehr schnell verändert und modernisiert.
Es war mir aber immer klar, dass es in Russland für das Leben als Ausländer immer auch politische Risiken gibt. Diese sind nach 2014 offensichtlich geworden [Ukraine-Konflikt, N.d.R.].
swissinfo.ch: Wie fühlten Sie sich in diesen Millionenstädten?
D.R.: Ich fühlte mich sehr sicher. Es gab viel zu entdecken. 1998/99 ohne Internet musste man noch die richtigen Informationen suchen oder erfragen. Das Wichtigste war, das Schema der Metro in Moskau oder St. Petersburg zu verstehen.
swissinfo.ch: Wann haben Sie gemerkt, dass Sie lange Zeit in Russland bleiben werden und dies mehr als eine Geschäftsreise ist?
D.R.: Als ich die ersten Aufträge bekommen und Projekte erfolgreich abgeschlossen habe; die Aufnahmeprüfungen zur Universität bestanden habe; mit lokalen Freunden sehr viel in St. Petersburg unterwegs war und Russland durch weitere Reisen in die Regionen entdecken konnte.
swissinfo.ch: Verstehen Sie die Russen? Sind der «besondere Charakter» und die «grosse russische Seele» nur Klischees?
D.R.: Ja und nein. Man adaptiert sich, lernt die Sprache und passt sich an das «russische» Leben an. Ich wurde aber in der Schweiz «sozialisiert». Deshalb werde ich «die Russen» nie wirklich verstehen können, obwohl ich vieles nachvollziehen kann. Ja, in Russland bringen viele Menschen ihre Emotionen zum Ausdruck und für Schweizer sind diese Emotionen manchmal schwierig zu verstehen.
Wichtig als Ausländer sind russische Freunde, und das Wissen zur russischen Literatur, Geschichte und Kultur sowie dem Sport, dann ist eine Integration sehr gut möglich.
swissinfo.ch: Mit welchen Schwierigkeiten wurden Sie beruflich und privat konfrontiert?
D.R.: Beruflich: «Doing Business» in Russland ist anders als in der Schweiz. Dies muss man durch «learning by doing» praktisch lernen. Es gibt grosse Unterschiede, was das Gesetz sagt und was in der Wirklichkeit gilt. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Russland werden auch viel mehr durch Entscheidungen der Politik beeinflusst und definiert.
Privat: Die russische Sprache zu lernen und für sich den richtigen Weg zu finden, sich in der russischen Gesellschaft zu integrieren und dabei seine Identität zu behalten.
swissinfo.ch: Wie beurteilen Sie die Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz? Beeinflussen diese das politische System Russlands?
D.R.: Die Beziehungen zwischen der offiziellen Schweiz und Russland würde ich den politischen Umständen entsprechend als relativ gut bezeichnen.
Politisch gab es den gegenseitigen Besuch von Parlamentarier-Delegationen sowie den Besuch von Bundesrat Schneider-Ammann diesen Juli in Moskau.
Wirtschaftlich wird 2017 der Handel zwischen der Schweiz und Russland zum ersten Mal nach 2014 wieder zunehmen. Die Wirtschaftskrise in Russland scheint überwunden zu sein.
Verbesserungspotenzial gibt es im gegenseitigen Handel, z.B. würde ein Freihandels-Abkommen zwischen der Schweiz und der Euroasiatischen Wirtschaftsunion den Geschäftsaufbau von schweizerischen kleinen und mittelgrossen Unternehmen (KMU) in Russland stark verbessern. Damit könnte auch etwas für die politische Entspannung zwischen Ost und West getan werden.
Kulturell gibt es immer noch einen lebhaften Kulturaustausch zwischen Russland und der Schweiz.
swissinfo.ch: Fehlt Ihnen etwas Schweizerisches in Russland oder etwas Russisches, wenn Sie in der Schweiz sind?
D.R.: In Russland fehlen mir Pünktlichkeit; zum Teil Verlässlichkeit, guter Käse ;-), die Natur, der FC Basel; in St. Petersburg die Berge.
In der Schweiz fehlen mir Spontaneität und Emotionalität; vieles was unmöglich erscheint, kann in Russland möglich werden, d.h. Improvisation und Flexibilität («Last Minute»-Mentalität).
swissinfo.ch: Verfolgen Sie die öffentliche Debatte in der Schweiz? Stimmen Sie ab? In Russland funktioniert das E-Voting ja nicht immer…
D.R.: Ja, und ich kann elektronisch abstimmen. E-Voting funktioniert zurzeit für einen Teil der Auslandschweizer in Russland.
swissinfo.ch: Man hört immer wieder die Meinung, Auslandschweizern, die lange nicht mehr in der Schweiz leben, sei das Stimmrecht zu entziehen. Wie stehen Sie dazu?
D.R.: Ich bin klar dagegen. Die meisten Auslandschweizer, die schon lange Zeit im Ausland leben, haben immer noch einen Bezug zur Schweiz. Auch sind heute viele Schweizerinnen und Schweizer nur für ein paar Jahre beruflich im Ausland, die sollten nicht den Kontakt zum politischen Geschehen in der Schweiz verlieren.
Beim Briefversand kommen die Unterlagen oft zu spät an, und man kann praktisch gar nicht an einer Abstimmung teilnehmen.
swissinfo.ch: Welche Aufgabe haben Sie als Vertreter der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in Russland?
D.R.: Seit 2017 bin ich gewählter Vertreter von Russland im Auslandschweizer-Parlament (Auslandschweizerrat). Dabei geht es darum, als Ansprechpartner, Anregungen und Probleme der Schweizerinnen und Schweizer in Russland aufzunehmen und dies mit der Auslandschweizer-Organisation (ASO) und Schweizer Politikern zu besprechen sowie auch die Schweizer in Russland über wichtige Änderungen in der Schweizer Politik zu informieren.
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