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«Das Leben hier ist geprägt von Widersprüchen und Extremen»

Sie lernte auf Reisen ihren Lebenspartner kennen und führt heute mit ihm ein Hostel im australischen Outback. Die 32-jährige Auslandschweizerin Miriam Neuenschwander betrachtet ihr Gastland durchaus auch kritisch.

swissinfo.ch Wann und warum haben Sie die Schweiz verlassen?

Miriam Neuenschwander: Im September 2016 habe ich mich auf Reisen begeben und unterwegs – ganz Klischee – meinen jetzigen Partner, Sebastian, kennengelernt. Er ist zwar Deutscher, lebt aber seit über zehn Jahren in Australien und führt ein kleines Hostel in Alice SpringsExterner Link.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten, unter anderem zum Gastland, sind ausschliesslich jene der porträtierten Person und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

Nach einigen Monaten Fern- und Nahbeziehung und einer Bedenkphase in der Heimat habe ich im Oktober 2017 den Schritt gewagt und bin nach Australien ausgewandert. Ganz nach dem Motto «There’s nothing to lose, only experience to gain».

swissinfo.ch: War es eine Reise ohne Rückkehr, oder haben Sie vor, einmal wieder in die Schweiz zurückzukehren?

M.N.: Ich lebe so gut wie es geht im Moment. Ob ich mich jemals wieder ganz in der Schweiz niederlassen werde oder für immer in Australien oder einem anderen Land bleibe, steht daher in den Sternen 😊…

Auf jeden Fall werde ich immer mal wieder «nach Hause» kommen, um Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen und um ein wenig «Swissness» zu tanken.

zvg

swissinfo.ch: Welcher Arbeit gehen Sie nach? Wie läuft es?

M.N.: Mein Partner hat vor einigen Jahren ein Backpackers, «Alice’s Secret Traveller’s Inn», in Alice Springs gekauft und es seither in eine kleine farbige und freundliche Oase für Reisende aus aller Welt verwandelt.

Als ich hierher zog, durfte ich erst nicht arbeiten. Um etwas dazuzulernen und nicht den ganzen Tag nur rumzusitzen, fing ich an, mitzuhelfen und bin später sukzessive ins Management mit eingestiegen. Mittlerweile schmeissen wir den Laden ganz offiziell gemeinsam.

Obwohl der Tourismus hier Höhen und Tiefen erlebt, läuft es für uns ganz gut. Dadurch, dass unser Hostel relativ klein, «family run» und kein «party place» ist, ziehen wir Gäste aus unterschiedlichen Altersgruppen an, was zu einer friedlichen und schönen Atmosphäre im Hostel beiträgt.

Die Arbeit im Hostel macht mir Spass, meinen ursprünglichen Beruf als schulische Heilpädagogin vermisse ich kaum. Im Gegenteil – ich bin dankbar dafür, hier mein berufliches Repertoire auf so unkomplizierte Weise ausbauen zu können. Etwas was in der Schweiz nicht so einfach möglich ist – Papiere und teure Weiterbildungen werden da viel zu sehr gewichtet.

swissinfo.ch: Pflegen Sie Hobbies?

Nebenbei helfe ich viermal pro Woche als «volunteer» in «The Kangaroo Sanctuary» aus. Ich arbeite im «rescue center», wo ich mich vorwiegend um die Kleinsten kümmere – Kängurubabies, die ihre Mutter verloren haben. Viele Kängurus werden auf den Highways von Autos erfasst und liegen gelassen; das Kleine, gut geschützt im Beutel des Weibchens, überlebt den Unfall oft. Mit etwas Glück schaut jemand nach, es wird gefunden und bei uns abgeliefert.

Wir geben unser Bestes, um die «Joeys» grosszuziehen, damit sie später wieder in die Wildnis zurückhüpfen können. Der Job erfüllt mich – die Arbeit mit den Tieren ist Balsam für Herz und Seele. Ob ich dabei Geld verdiene oder nicht, spielt für mich überhaupt keine Rolle.

swissinfo.ch: Wo leben Sie gegenwärtig?

M.N.: Seb und ich leben in Alice Springs, mitten im roten Herzen Australiens. Es ist mit ungefähr 28’000 Einwohnern die grösste «Stadt» im australischen Outback und gilt durch seine Lage als wichtigstes Versorgungszentrum für die umliegenden Regionen.

Viele Touristen nutzen «The Alice» zudem als Ausgangspunkt, um den Uluru, auch bekannt als «Ayer’s Rock», oder die West MacDonnell Ranges zu besuchen und um mit Aborigines, der indigenen Bevölkerung Australiens, näher in Kontakt zu treten.

Die Menschen, die hier leben, verbindet zumeist eine Art Hassliebe mit dem Ort. Man sagt daher, dass Alice Springs von einer Art Zauber umgeben ist – man kommt als Besucher oder um für ein paar Jahre Geld zu verdienen und bleibt dann im Netz der Spinne hängen. Selbst wenn man es schafft, sich aus ihren Fängen zu befreien, ist man doch gezwungen, immer wieder zurückzukehren.

swissinfo.ch: Wie ist das Leben in Alice Springs?

M.N.: Die Stadt und das Leben hier sind geprägt von Widersprüchen und Extremen. Das Klima ist harsch und oft unerbittlich, aber das Outback zieht einen in seinen Bann. Die unendliche Weite, die intensiven Farben, der Sternenhimmel, die unglaublich ausgeklügelten Tricks der Natur, die ein Überleben für Pflanzen und Tiere möglich machen, und die Demut, die einen erfasst, sobald man die Stadt verlässt und sich den Bedingungen ausliefert, können eine wahnsinnige Faszination ausüben.

Leider hat auch hier der Mensch, insbesondere die weissen Einwanderer, vieles aus dem Gleichgewicht gebracht. Im Moment herrscht beispielsweise eine grosse Dürre, jeder einzelne Regentropfen ist ein wahres Geschenk.

Die Bevölkerung von Alice Springs ist bunt gemischt, hier ist vieles möglich was andernorts niemals gehen würde, der soziale Zusammenhalt ist enorm, man könnte fast von Eingeschworenheit reden. Dennoch macht am Ende jeder sein Ding.

Leider sind gerade hier auch Engstirnigkeit, Rassismus und Diskriminierung an der Tagesordnung. Es ist zutiefst erschütternd zu beobachten, welch massive Probleme sich aus der kolonialistischen Vergangenheit des Landes bis heute ergeben. Tiefgreifende Verletzungen, Differenzen, Intoleranz und Ignoranz prägen bis heute die Beziehung zwischen der indigenen Bevölkerung und den Einwanderern und ihrer Regierung. In Alice Springs wird dies alles sehr offensichtlich.

zvg

swissinfo.ch: Was ist in Australien attraktiver als in der Schweiz?

M.N.: Die enorme Weite und das Wetter. In Alice Springs scheint fast jeden Tag die Sonne – da brauche ich mir um Winterdepressionen keine Sorgen zu machen. Zudem mag ich den Humor und die Leichtigkeit vieler Australier. Sie nehmen die Dinge nicht immer so ernst, es wird nicht so viel gejammert, und sie lachen auch gerne mal über sich selbst.

swissinfo.ch: Wie denken Sie aus der Ferne über die Schweiz?

M.N.: Die Schweiz ist ein kleines Land, dessen Bevölkerung es geschafft hat, mit Disziplin, Eifer und Demokratie eine unglaubliche Oase mit wahnsinnig hohem Lebensstandard zu schaffen. Ein kleines Paradies.

Aus der Ferne muss ich jedoch oft lächeln, weil die Schweizer einfach gar nicht wissen, wie gut sie es haben. Sie müssen alles immer so furchtbar ernst nehmen, und wer nicht überarbeitet ist, muss sich rechtfertigen, weil «der hat es ja gut». Ein bisschen mehr «no worries, mate», ein bisschen mehr Demut, Toleranz und Weite im Denken würden dem Land nicht schaden.

swissinfo.ch: Fühlen Sie sich manchmal fremd oder sind Sie gut integriert?

M.N.: Am Anfang war es sehr schwierig für mich, ein soziales Netz aufzubauen. Einerseits hatte es damit zu tun, dass wir im Hostel leben und arbeiten und ich es fast nur mit Reisenden zu tun habe. Andererseits haben die meisten hier eine feste Clique und sind nur sehr begrenzt offen für neue Freundschaften.

Das Auswandern war für mich eine emotionale Berg- und Talfahrt. Da war das aufregende aber auch ein wenig beängstigende Neue, und gleichzeitig galt es, sich vom Alten zu verabschieden, loszulassen und neue Formen zu finden, um wichtige Beziehungen auch auf Distanz pflegen und leben zu können. Es braucht Zeit, bis sich das einpendelt.

zvg

swissinfo.ch: Welche kulturellen Unterschiede bereiten Ihnen am meisten Mühe?

M.N.: Die australische Unverbindlichkeit und die daraus resultierende Oberflächlichkeit. Es ist eine Gratwanderung – einerseits empfinde ich es als wohltuend, dass hier nicht alles so furchtbar wichtig genommen wird, andererseits ist die Unzuverlässigkeit und Ungenauigkeit, die manchmal daraus resultiert, für mich eine Herausforderung.

Zum andern vermisse ich gutes Essen und den guten Servicestandard, den wir in der Schweiz haben! Burger und Steak mit Pommes und einem popligen Salat und eventuell noch ein Chicken Snitzel (ja, so schreiben sie das hier…) sind, nebst Bacon and Eggs zum Frühstück, das höchste der Gefühle.

Zu guter Letzt ärgert es mich, wie die Australier mit der Natur umspringen. Dieser wunderschöne, einzigartige Kontinent wird tagtäglich ausgebeutet und immer mehr kaputtgewirtschaftet – obwohl ein globales Problem, finde ich es schade, dass ein sogenannt «fortschrittliches und aufgeklärtes» Land wie Australien es nicht schafft, hier eine Pionierrolle im positiven Sinn einzunehmen.

swissinfo.ch: Was freut Sie in Ihrem Alltag in der Fremde am meisten?

M.N.: Die Fülle und Schönheit der Natur, die Zeit mit «meinen» Kängurus, dass Gefühl von Freiheit, und dass so vieles möglich ist, wenn man den Mut hat, von der Klippe zu springen und sich aufs Ungewisse einzulassen.

zvg

swissinfo.ch: Nehmen Sie an Schweizer Wahlen und Abstimmungen teil?

M.N.: Ja, ich stimme per E-Voting ab, was ich toll finde! Mir ist es wichtig, politisch informiert und aktiv zu bleiben, auch wenn ich zurzeit nicht in der Schweiz wohnhaft bin.

Leider ist E-Voting bei den nationalen Wahlen noch nicht möglich, was die Teilnahme erschwert. Das Wahlcouvert rechtzeitig in der Schweiz ankommen zu lassen, ist eine Herausforderung, und wenn man in Alice Springs wohnt, auch ziemlich teuer.

swissinfo.ch: Was vermissen Sie von der Schweiz am meisten?

M.N.: Familie, Freunde, gutes Essen, YB, die Aare und das Skifahren 😊.

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