Anja Glover: Warum sie kulturell vielfältige Städte liebt
New York, Paris… Die 24-jährige Anja Glover verbringt ihr Leben in bedeutenden Grossstädten dieser Welt. Das kommt nicht von ungefähr, studiert die junge Schweizerin doch Stadt-Soziologie. Zudem ist sie als Journalistin tätig. An Paris liebt sie besonders die Lebenslust, die ihr in der Schweiz manchmal etwas fehlt.
swissinfo.ch: Warum haben Sie der Schweiz den Rücken gekehrt? Haben Sie vor, einmal wieder in die Schweiz zurückzukehren?
Anja Glover: Ich habe mal gelesen, dass nicht nur Pflanzen, sondern auch Menschen von Zeit zu Zeit umgetopft werden müssen. Nach ein paar Monaten in New YorkExterner Link war für mich klar, dass ich einen Teil meines Lebens im Ausland verbringen möchte. Aus dem schlichten Grund, dass ich hier, fern von dem mir Gewohnten, täglich lerne und weniger schnell der Routine verfalle.
ParisExterner Link war für mich eine hervorragende Möglichkeit. Dies, weil ich mich als werdende Stadt-Soziologin für kulturell vielfältige Städte interessiere und ich jahrelang Französisch gelernt hatte. Zudem liegt die Stadt nur gerade drei Stunden von meinem zu Hause entfernt.
Der Hauptgrund aber ist, dass ich mich vor ein paar Jahren in die Lichterstadt und deren Menschen verliebt habe. Ich war im Herbst 2015 bereits für ein halbes Jahr in Paris und bin nun nach Weihnachten 2016 hierhin zurückgekehrt.
Ich werde sicherlich immer wieder in die Schweiz zurückkehren. Bisher kann ich mir Sesshaftigkeit allerdings nur schwer vorstellen. Ich glaube, dass die Gefahr, der Routine des Alltags erlegen zu sein, in der Schweiz immer etwas grösser ist als anderswo. Davor möchte ich mich schützen. Mir gefällt es, mehrere zu Hause zu haben.
swissinfo.ch: Welcher Arbeit gehen Sie nach? Wie kam es dazu, wie läuft es?
A.G.: Ich arbeite als freie Journalistin und Texterin, wobei ich gleichzeitig meinen Master in Urban Sociology absolviere. Dazu kam es, weil ich relativ jung damit begonnen habe, Sportberichte zu schreiben. Seither bin ich für verschiedene Schweizer Magazine, Zeitschriften und Unternehmen schreibend tätig.
Es läuft erfreulicherweise sehr gut, ich habe meistens das Glück, über Dinge schreiben zu dürfen, die mich interessieren. Das schätze ich sehr. Ich bin all meinen Arbeitgebern dafür sehr dankbar, mir ein solch freies Leben zu ermöglichen.
swissinfo.ch: Sie leben gegenwärtig in Paris. Wie ist das Leben, die Küche dort?
A.G.: Ich lebe zurzeit im Osten von Paris. Das Leben hier ist wild, interessant, abwechslungs- und lehrreich. Es wird viel getanzt, gut und vor allem kulinarisch vielfältig gegessen.
swissinfo.ch: Was ist in Frankreich attraktiver als in der Schweiz?
A.G.: Eindeutig das Nachtleben, die Durchmischung der Kulturen, die Preise, die Tanzszene, sehr oft die Lebenseinstellung: Es geht weniger ums Besitzen und mehr darum, das Leben zu leben. Wahrscheinlich auch aus dem schlichten Grund, dass die Menschen hier in den meisten Fällen weniger besitzen als ein Durchschnitts-Schweizer. Reichtum und Besitz wirken in der Schweiz oftmals einengend, man ist rundum versichert, so dass man kaum etwas wagen muss.
Ich habe den Eindruck, dass man hier in Paris beispielsweise weniger studiert, um studiert zu haben, sondern um zu diskutieren, zu wissen, zu lernen und lehren. Meine Beobachtungen beziehen sich natürlich vor allem auf die Hauptstadt. Ich denke, dass Paris für mich als Schreibende auch deshalb attraktiver ist, weil die Stadt ein Fass von Geschichten beherbergt. Geschichten, die geschrieben werden sollten. Ich könnte ständig beobachten und schreiben.
swissinfo.ch: Wie denken Sie aus der Ferne über die Schweiz?
A.G.: Ich liebe meine Heimat. Ich denke sehr positiv über die Schweiz und weiss es zu schätzen, jederzeit in die Schweiz zurückkehren zu können. Ich kann die Klischees eigentlich nur bestätigen: Alles läuft mehr oder weniger reibungslos, man ist niemals in Gefahr, es ist herrlich sauber und organisiert – aber: Das Leben, die «Folie», die Lebenslust, die Durchmischung von Kulturen, all das scheint nur gering vorhanden zu sein. Beides zu haben, scheint mir für mein momentanes Leben die perfekte Lösung.
swissinfo.ch: Wie ist die politische Lage in Frankreich? Interessieren Sie sich für die dortige Politik?
A.G.: Die politische Lage befindet sich an einem Wendepunkt, Frankreich hat soeben einen neuen Präsidenten gewählt. Das politische Geschehen hätte deshalb in den letzten paar Wochen nicht spannender sein können. Ich interessiere mich sehr für die Politik hierzulande, gerade deshalb, weil ich mit einem soziologischen Blick in Frankreich unterwegs bin und mich immer wieder frage, wie es zu gewissen sozialen Situationen kommen kann oder wie etwa Integration hier in Frankreich funktioniert – oder eben nicht. Die Politik spielt dabei eine sehr zentrale Rolle.
Wenn es nach meinem Quartier und auch Umfeld gegangen wäre, dann wäre heute Jean-Luc Mélenchon Präsident. Mit Emmanuel Macron als neuen Präsidenten gibt man sich vor allem zufrieden, weil die Alternative – Marine Le Pen – schlichtweg undenkbar gewesen wäre. Ich muss zugeben, dass ich mich etwas vor der Möglichkeit, dass Le Pen tatsächlich Präsidentin werden könnte, gefürchtet habe. Vor allem in Zeiten wie diesen, in denen nicht nur der Brexit, sondern auch Donald Trump möglich waren.
swissinfo.ch: Nehmen Sie an Schweizer Wahlen und Abstimmungen teil?
A.G.: Ja, Ich bin genügend oft in der Schweiz und bleibe natürlich auch in Frankreich über die politische Lage der Schweiz informiert. Gerade Anfang Mai war ich für einen Auftrag in der Schweiz und habe die Möglichkeit dazu genutzt, gleich abzustimmen. Wäre es möglich, online abzustimmen, würde ich davon sehr gerne Gebrauch machen. Als Schweizerin, die im Ausland lebt, würde mir das sehr entgegenkommen.
Ich denke, woran es in der Schweiz im Vergleich zu Frankreich noch fehlt, sind einfach gestaltete Informations-Videos. Zwar gibt es nun solche für Jugendliche, aber was mir an der Präsidentschaftswahl in Frankreich gefallen hat, ist, dass man durch zahlreiche Youtube-Kanäle über verschiedene Ansichten bestens informiert sein konnte.
Junge Menschen zeigen hier oftmals mehr Begeisterung für Projekte, die unbezahlt sind, aber Sinn machen. Gerade Studenten scheuen sich nicht davor, einen riesigen Aufwand auf sich zu nehmen, um den Menschen in ihrem Land ihr Wissen zu vermitteln, öffentlich zu diskutieren oder aufzuklären. Dieser französische Revolutionsgeist, dieses Kämpfen für eine «bessere Welt», scheint mir in Paris deutlich spürbar. Ein Modell, das auch in der Schweiz zu einer grösseren Teilnahme junger Menschen an der Politik führen könnte.
swissinfo.ch: Was vermissen Sie von der Schweiz am meisten?
A.G.: Ich vermisse die frische Luft, das köstliche Wasser und die Seen, ganz eindeutig. Und natürlich meine liebevoll verrückte Familie; ich vermisse es, mit ihnen zu lachen, von unserem aufgestellten Familienhund morgens geweckt zu werden und zusammen mit ihnen sonntags selbstgemachten Zopf zu essen – Franzosen haben gar kein Verständnis für selbstgemachtes Brot, aber das Baguette kann irgendwann auch langweilig werden.
Und ich vermisse meine Freunde, die aber selbst kaum in der Schweiz sesshaft sind. Manchmal vermisse ich es auch einfach, «Schwizerdütsch» zu sprechen.
Im Pariser Marais-Quartier.
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Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten, unter anderem zum Gastland und über dessen Politik, sind ausschliesslich jene der porträtierten Person und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
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