Nina Caprez: «Ich spürte, dass ich auswandern muss»
Sie ist eine der besten Kletterinnen der Welt. Wettkämpfe interessieren Nina Caprez zwar schon seit Jahren nicht mehr. Die 30-Jährige aus Küblis meistert am Felsen aber Routen, die vor ihr kaum je eine Frau erfolgreich bewältigte. Um ihre Leidenschaft perfekt ausleben zu können, verliess sie die Schweiz vor acht Jahren und lebt seither im französischen Grenoble. swissinfo.ch traf sie bei einem ihrer seltenen Besuche in der alten Heimat.
Der Winter erwacht. Der Schnee ist da. Als hätten wir ihn bestellt. «Ist das nicht schön?», fragt Nina Caprez, als sie die Türe öffnet. Es ist die perfekte Bergidylle. Wir sind in Prada, oberhalb von Küblis, einem der sechs grösseren Dörfer entlang der Prättigauerstrasse, die den Reisenden von Landquart Richtung Davos führt.
Ein grosses Holzhaus am Ende der Strasse, eine Klingel gibt es nicht, Tack-Tack, wer zu Besuch kommt, macht sich mit dem schweren Türklopfer aus Messing bemerkbar. Hier wohnt Nina Caprez. Oder besser gesagt: Hier wohnte sie, als sie noch in der Schweiz, in ihrem Heimatkanton Graubünden, lebte.
Heute ist sie bloss kurz zu Besuch bei ihrer Mutter. Vor acht Jahren verlegte Nina ihren Lebensmittelpunkt nach Frankreich, nach Grenoble. Nicht, weil sie die Schweiz satt hatte. Sondern, weil sie ihrem Herzen folgte und ihrer Leidenschaft an einem Ort nachgehen wollte, der besser passte. Und sie ist bis heute geblieben. Doch dazu später.
Ja, der Schnee hat das Prättigau und die Gebirge rund um Küblis in eine winterliche Märchenlandschaft verwandelt. Aber er hat uns auch einen Strich durch die Rechnung gemacht, den Weg versperrt. Wir wollten noch weiter hinauf in die Berge, zum Maiensäss der Familie. Wegen der Aussicht.
«Wir kommen nicht hoch», sagt Nina. Da helfe auch das 4×4-Auto ihrer Mutter nichts. Also laufen wir los, steil nach oben, durch den Wald, zumindest den halben Weg, bis zu einer Lichtung, die ebenfalls einen Blick auf das Tal und die Berge gegenüber in ihrer ganzen Pracht bietet.
«Hier oben war ich oft, früher, als ich klein war. Ich weiss, wie das ist, ausser Atem zu sein», sagt Nina mit einem Augenzwinkern und dem Blick zurück zum Besucher, der nur mühevoll mit ihrem Tempo mithalten kann. Die kleine Bank kommt wie gewünscht. Wir wischen den Schnee weg, mehr als zehn Zentimeter, setzen uns hin und reden.
«Was arbeitest du?»
Warum Frankreich? Warum Grenoble? Was war zuerst? «Der Wunsch, nach Frankreich zu ziehen», sagt Nina. Damals galt für sie: «Wenn du in meinem Sport etwas erreichen willst, ist hier nicht der richtige Ort dafür.»
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«Warum es mir in Frankreich so gut gefällt…»
Das mag seltsam anmuten. Die Schweiz, gerade Graubünden, soll nicht das Paradies für Kletterer sein? «Wir haben zwar eine Bergsteiger-, aber keine Sportkletter-Tradition», erklärt sie.
«Ich spürte, dass ich weg muss. Ich hätte mich sonst nicht entfalten können.» Damals habe sie vielleicht auch ein wenig den Respekt gegenüber ihrer Tätigkeit vermisst. Die Fragen lauteten oft so: «Aha, du kletterst? Und was arbeitest du?»
In den letzten acht Jahren hat sich da etwas getan. «Ich bin in der Schweiz bekannter geworden. Heute kann ich sagen: Es gefällt den Schweizern, wenn du deinen eigenen Weg gehst, wenn du deine Leidenschaft zum Beruf machen kannst. Sie zeigen das auch. Ich fühle mich darum wieder zuhause, wenn ich hier bin.»
Vor acht Jahren war für Nina auch Montpellier eine mögliche neue Heimat. Sie entschied sich für Grenoble, auch weil ihr Ausrüster Petzl den Hauptsitz hat in der «Hauptstadt der Alpen», wie die Einwohner ihre Stadt auch nennen.
Klettern in der Stadt
Bevor man die Stadt näher kennenlerne, wirke sie gar nicht einladend, sagt Nina. «Grenoble ist ein Ort, den du meistens nur umfährst. Es führt eine Autobahn rundherum, darauf herrscht oft Stau. Erst wenn du in der Altstadt bist, siehst du, wie cool die Stadt ist.»
Und genau dort wohnt die Bündnerin. Es fiel ihr darum leicht, sich in die neue Heimat zu verlieben: «Es war einfach, Kontakte zu knüpfen. Die Leute sind offenherzig. Und weniger ernst. Ihr ‹In-den-Tag-hineinleben›, das gefiel mir sofort. Und ich sprach bereits Französisch. Das ist der Schlüssel, der die Türen öffnet, wenn du dorthin ziehst.»
Ganz wichtig: Natur und Gebirge sind in Grenoble nah. «Ich brauche bloss zehn Minuten zu fahren.» Es gibt sogar ein Klettergebiet in der Stadt: Der uralte Klettersteig bei der Bastille ist ein Wahrzeichen Grenobles.
Nina lernte schnell zahlreiche Gleichgesinnte kennen. «In meiner ‹Branche› gibt es in der Schweiz ja kaum Arbeitsplätze. In Grenoble treffe ich aber Kletterlehrer, Canyoning-Führer oder Höhlenforscher.» Caprez würde sich selbst nie «bloss» als Alpinistin bezeichnen. «Wie mein Beruf heisst?» Sie überlegt, lacht und sagt: «Lebenskünstlerin.»
Weniger Stress
Es ist zwar die Zuverlässigkeit der Schweizer, die sie in Grenoble vermisst. «Dass sich die Leute an Regeln halten. Oder dass die Züge pünktlich sind.» Mit der Gegensätzlichkeit hat sie sich aber nicht nur arrangiert. Sie schätzt sie sogar: «Ja, vieles ist in Frankreich unzuverlässig. Aber die Leute sind weniger gestresst. Sie nehmen sich Zeit zum Plaudern. Sie gehen gerne in Bars und in die Cafés. Man schaut sich in die Augen, das mag ich.»
Nie würde Nina Materielles vermissen. «Das sagt mir gar nichts, das kann mir gar nicht fehlen. Da bin ich völlig losgelöst davon», sagt sie. «Die Verbindung zu den Menschen ist mir wichtiger. Das schätzen die Leute, die mich mögen.»
Einen anderen Gegensatz erlebt sie bei ihren raren Besuchen in Küblis: «Ein grosses Haus, isoliert. Ich habe den Landfrieden. Ich treffe dann gerne die Freunde von früher. Aber ich bin auch gerne mal alleine. Ich kann hier wirklich für mich sein. Ich fühle mich hier sehr ausgeglichen, kann geniessen. Es ist wie Ferien.»
Zufriedenheit und Lebensfreude
Wir laufen wieder nach unten, zurück zum Haus, die Mutter wartet bereits. Nina wird nicht lange bleiben, es passt zu ihrem Drang nach Freiheit, dass sie den genauen Abfahrtstag noch nicht weiss. Noch drei, vielleicht vier Tage, dann geht’s zurück nach Grenoble.
Mit 14 auf Klettertour mit ihrer Mutter ob Ponte Brolla, Kanton Tessin: «Ich weiss noch, wie viel Angst ich hatte und wie stolz ich war, als wir oben standen.»
Sie ist fast permanent unterwegs, auch das ist typisch Nina. Erst vor drei Tagen kam sie aus den USA zurück nach Europa. Einen Monat lang war sie unterwegs mit Freunden, «simples» Sportklettern stand auf dem Programm.
«Es machte riesigen Spass. Und es war ein Zurück zu den Anfängen», sagt sie. «Würde ich nur die ‹krassen› Projekte mit der Elite machen, der Sinn für all das, was ich mache, ginge für mich verloren. Und ohne diesen Sinn würde ich nicht weitermachen.»
Das steht zurzeit eh nicht zur Debatte. Ohne Klettern will Nina noch eine ganze Weile lang nicht sein. Auch wenn dieser Sport eigentlich so simpel sei: «Du kletterst ja bloss irgendwo hoch. Aber er gibt dir so viel Zufriedenheit und Lebensfreude. Du fühlst dich lebendig. Es ist schon intensiv, wenn du irgendwo am Fels an einem dünnen Seil hängst.» Klettern sei eben mehr als nur Sport. «Beim Klettern lernst du die Leute kennen. Es können sogar Charakterzüge zum Vorschein kommen.»
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der porträtierten Person und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
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