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Séverine von Kaenel: Im verrosteten Campingbus nach Portugal

Der Traum vom Meer. Er musste bei Séverine von Kaenel lange reifen, bis sie sich letztes Jahr dazu entschied, es zu wagen. Nun lebt die 38-Jährige in einem portugiesischen Fischerdorf und hat es dank einer beruflichen Neuorientierung geschafft, ihren Traum leben zu können – auch wenn es nicht immer einfach ist.

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swissinfo.ch: Wann und weshalb haben Sie die Schweiz verlassen?

Séverine von Kaenel: Das Thema Auswandern beschäftigte mich seit über zehn Jahren… Ich betreibe seit meiner Jugend diverse Wassersportarten und habe mich vor Jahren ins Surfen verliebt. Am Meer leben war für mich nicht nur ein Traum, sondern eine Gewissheit.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten, unter anderem zum Gastland und über dessen Politik, sind ausschliesslich jene der porträtierten Person und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

Doch der richtige Zeitpunkt kam einfach nie (wie bei den meisten Leuten, die einen Entscheid vor sich hinschieben). Long story short: Nach diversen Ereignissen habe ich mich eines Tages dazu entschlossen, den Sprung zu wagen. Danach lief alles wie am Schnürchen, und ich war schneller weg, als ich es mir vorgestellt hatte.

Ich packte im Sommer 2016 mein Leben in meinen verrosteten Campingbus und fuhr nach Portugal. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich nicht von einem definitiven Auswandern reden, weil der Druck zu gross war. Aber ich habe alles dementsprechend eingerichtet. Die ersten zwei Monate lebte ich in meinem Bus, dann zog ich in meine jetzige Wohngemeinschaft.

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swissinfo.ch: War es eine Reise ohne Rückkehr, oder haben Sie vor, einmal wieder in die Schweiz zurückzukehren?

S.v.K.: Im Herbst 2016 war für mich klar, dass ich bleiben werde. Ich flog zurück in die Schweiz und löste alles auf. Ich sehe mich die nächsten drei bis fünf Jahre hier leben, dann komme, was wolle… Aber zurück in die Schweiz zu gehen, ist nicht geplant! Vielleicht wieder, wenn ich alt und müde bin… ;-)!

swissinfo.ch: Welcher Arbeit gehen Sie nach?

S.v.K.: Ich habe mich völlig neu orientiert. Ich bin selbständige MasseurinExterner Link und bin daran, ein zweites Projekt aufzuziehen (Sports & Wellness Camps). Ich arbeite in einem Therapie-Center, das ich mit zwei anderen Therapeuten teile. Soweit bin ich sehr zufrieden! Gelegentlich arbeite ich auch als Surflehrer-Assistentin oder als Serviceangestellte, um die Monate «aufzurunden».

​​​​​​​swissinfo.ch: Wie kam es zu dieser Neuorientierung?

S.v.K.: Knapp ein Jahr vor meiner Abreise habe ich eine berufliche Weiterbildung im Change-Management abgeschlossen. Lustigerweise brachte mich diese Weiterbildung zum Entschluss, mich endlich dem zu widmen, wonach sich mein Herz sehnte, und mein rationales Schweizer Denken (Angst, Sicherheit, Gewissen, Vorurteile anderer, usw..) beiseite zu legen.

Vor meiner Abreise war ich arbeitslos, nutzte die Zeit aber voll dafür, mir meine Massage-Diplome zu holen. Zusätzlich besuchte ich in Berlin noch einen Barista- und Coffeshop-Owner-Kurs und bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum in der Schweiz den Geschäftsgründerkurs. Somit war mein Rucksack voll mit neuen Kenntnissen und Überzeugungen.

swissinfo.ch: Wo leben Sie gegenwärtig, wie ist das Leben dort?

S.v.K.: In einem Fischerdorf namens BalealExterner Link, 100 Kilometer nördlich von Lissabon. Das Nachbardorf Peniche ist mittlerweile ein weltbekannter Surfspot und zieht grosse Massen von Touristen an. Dort dreht sich alles ums Surfen.

Das Leben ist total anders als in der Schweiz. Man lebt hier hauptsächlich vom Tourismus, von Juni bis Ende Oktober. Die Zwischensaison ist herrlich, aber im Winter ist es ausgestorben und nicht ganz einfach. Es bleiben nur die Einheimischen oder einige Aussteiger, die keine Angst vor den langen, feuchten und kühlen Winternächten haben.

Das Essen ist sehr simpel, aber lecker! Viel Fisch und Seafood (ich bin wieder Vegetarierin geworden), Reis, Kartoffeln, Salat, diverse Gemüse und Kohlarten, die man in der Schweiz nicht gut kennt.

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swissinfo.ch: Was ist in Portugal attraktiver als in der Schweiz? Was ist der grösste Unterschied zur Schweiz?

S.v.K.: Man hat generell viel mehr Freiheit als in der Schweiz. Das hat nicht immer nur positive Auswirkungen, aber man fühlt sich einfach freier. Es ist ein armes Land, und es ist nicht einfach, über die Runden zu kommen. Trotzdem ist die Lebensqualität sehr hoch. Für mich auf jeden Fall, weil ich fast jeden Tag machen kann, was ich liebe, und es nicht nur auf fünf Wochen Urlaub im Jahr beschränken muss.

Die Leute hier müssen auch viel arbeiten, aber der Druck ist anders. Der grösste Unterschied ist, dass sie mit wenig zufrieden sind und ihre Freizeit zu schätzen wissen. Zudem sind die Portugiesen sehr gastfreundlich und hilfsbereit.

Was für mich einen wesentlichen Unterschied macht, ist, dass ich nicht mehr dem Konsumzwang ausgeliefert bin. Ich lebe in einem abgelegenen Dorf, verdiene wenig und habe somit kein Geld für Überflüssiges.

Dazu ist die nächste grössere Stadt 30 Minuten entfernt, und nach Lissabon fährt man nur, wenn nötig. Somit kommt es bei mir zu keinen spontanen Shopping-Anfällen oder unüberlegten Einkäufen. Ich habe im vergangenen Jahr drei Kleidungsstücke gekauft, die nicht mehr als 20 Euro pro Stück kosteten!

swissinfo.ch: Wie denken Sie aus der Ferne über die Schweiz?

S.v.K.: Ich habe schon immer positiv über meine Heimat gedacht. Es gibt Dinge, die mich stören, aber die sind nicht für alle gleich relevant. Was ich an der Schweiz extrem schätze: den Frieden – ich habe mich immer sicher und aufgehoben gefühlt –, unseren Bildungstand, unsere Politik (obwohl ich nicht daran interessiert bin), unsere Geschichte, die Offenheit für Kultur und Religionen. Zudem denke ich, dass wir mehrheitlich ein extrem tolerantes Volk sind, und darauf bin ich stolz.

Was mich stört ist der Druck, dem man ausgesetzt ist. Arbeiten, arbeiten, Geld verdienen, Karriere, gut dastehen, usw… Die soziale Einstufung hat nach wie vor zu viel Gewicht, sie schubladisiert die Leute, schränkt sie ein und unterdrückt das wesentliche Potenzial der Leute. Wir kommen langsam vom «Gärtchendenken» ab, aber es kann noch viel besser werden!

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swissinfo.ch: Wie ist die politische Lage in Portugal? Interessieren Sie sich für die Politik in Ihrem Wohnland?

S.v.K.: Ich habe mich noch nie für Politik interessiert, somit bin ich extrem unwissend dieses Thema betreffend, sei es in Portugal oder in der Schweiz. Aber wenn ich den Portugiesen beim Thema zuhöre, scheinen sie nicht sehr zufrieden zu sein…

swissinfo.ch: Nehmen Sie an Schweizer Wahlen und Abstimmungen teil? Per Brief oder E-Voting?

S.v.K.: Per Post, weil ich bis jetzt gar nicht wusste, dass E-Voting möglich ist :). Und nur bei Themen, die mir wichtig sind. Das ist bis jetzt einmal passiert, letzten Mai beim Energiegesetz.

swissinfo.ch: Was vermissen Sie von der Schweiz am meisten?

S.v.K.: Meine Freunde und Familie. Konzerte und Musikfestivals. Herbst-Biketouren in den Bergen. Raclette, Fondue und Ragusa!!


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