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Weitere Lebensmittel-Skandale sind programmiert

Massenhaltung von Legehennen im Osten Deutschlands: Es zählen nur noch die Kosten. Keystone

Dioxin in Lebensmitteln, Gammelfleisch, Rinderwahnsinn, mit Listerien verseuchter Fisch, Salmonellen-Vergiftungen: Trotzdem führt die lange Liste der Lebensmittel-Skandale nicht zu einer Änderung der Agrarpolitik, sagt Landwirtschaftsexperte Stefan Mann.

Er rechne mit weiteren Lebensmittel-Skandalen, sagt der Agrarexperte Stefan Mann gegenüber swissinfo.ch. Den Grund dafür sieht der Forschungsleiter bei Agroscope im ambivalenten Verhalten der Konsumenten. Diese äusserten zwar in Umfragen jeweils ein Unbehagen gegenüber einer anonymen Massenproduktion der Lebensmittel, aber trotzdem bestimme weiterhin der Preis die Wahl ihrer Produkte.

Die Landwirtschaftspolitik der Schweiz mit Wettbewerb auf der einen und gezielten Subventionen auf der andern Seite unterscheide sich allerdings von derjenigen der Europäischen Union EU.

swissinfo.ch: Wo liegt denn Ihrer Ansicht nach das Problem?

Stefan Mann: In der Ambivalenz des Verhaltens. Einerseits ist die Agrarproduktion sehr anonymisiert und effizienzorientiert. Anderseits machen Medien und Verbraucher aus vergleichsweise kleinen Gefahren immer grosse Skandale und setzen damit grosse Ängste frei.

Als vor einem Jahrzehnt in Deutschland Umfragen gemacht wurden, ob BSE (Rinderwahn) oder Rauchen gefährlicher sei für die Menschheit, hiess es, beides gleichviel. Ungeachtet dessen, dass erwiesenermassen durch das Rauchen jährlich Hunderttausende umkommen, die Folgen bei BSE jedoch bis heute kaum erwiesen sind.

swissinfo.ch: Wie viele Skandale braucht es noch, bis die anonyme Massenproduktion von Lebensmitteln gestoppt wird?

S. M.: Solange unsere Generation lebt, wird sich grundsätzlich kaum etwas ändern in der Art und Weise, wie Nahrungsmittel produziert und vertrieben werden.

Ich halte diesen Umstand auch nicht für ein grundsätzliches Problem. Gerade was in der Schweiz produziert wird, ist ja nicht tel quel alles schlecht.

swissinfo.ch: Sie sind also der Meinung, dass die Folgen der Nahrungsmittel-Skandale überbewertet seien?

S.M.: Die Bevölkerung fühlt sich sehr unwohl mit der anonymisierten Massenproduktion.

swissinfo.ch: Würde sich da nicht die Lösung der Produktion «aus der Region» aufdrängen? Dann wäre wenigstens die Herkunft der Ware überprüfbarer.

S.M.: Das sind Nostalgien à la «Wahlenplan und Anbauschlacht», als sich die vom Feind eingeschlossene Schweiz während des Zweiten Weltkriegs eine Nahrungsmittel-Autarkie auferlegen musste.

Nur lebten damals noch einige Millionen Menschen weniger in der Schweiz. Gerade im pflanzlichen Bereich existiert heute das Potenzial gar nicht mehr, eine regionalisierte Agrarproduktion auf die Beine zu stellen.

swissinfo.ch: Wäre diese Regionalisierung dann nicht wenigstens in den sogenannt heiklen Bereichen wie den tierischen Produkten Fleisch, Eier und Milch möglich?

S.M.: Da kommt wieder die selektive Wahrnehmung ins Spiel. Als Fachmann sehe ich nicht ein, weshalb es heiklere und weniger heikle Bereiche in der Nahrungsmittelproduktion geben soll.

Man kann genauso gut von Pestizid verseuchtem Getreide krank werden wie von kontaminiertem Fleisch oder von Antibiotika belasteter Milch.

swissinfo.ch: Die letzten Lebensmittelskandale haben sich doch immer um Fleisch oder zumindest um Produktion tierischer Lebensmittel gedreht?

S.M.: Mehrheitlich. Es gibt auch andere Beispiele. Aber das Unwohlsein der Verbraucher mit der Agrarproduktion ist im tierischen Bereich viel höher. Ich glaube nicht, dass es objektiv gesehen im Tierbereich sehr viel mehr Missstände als anderswo gab.

Nur haben überhöhte Pflanzenschutzwerte in Gemüsen längst nicht so viel Potenzial, in die Medien zu gelangen, wie Gammelfleisch oder Dioxineier.

swissinfo.ch: Ist der Freihandel für Agrarprodukte mangels Alternativen gar nicht mehr zu umgehen?

S.M.: Es muss nicht gleich Freihandel sein, es kann auch ein Welthandel mit Schutzzöllen für die einheimische Landwirtschaft sein. Hätten wir wirklich einen ungeschützten Freihandel in der Schweiz, gäbe es wohl gar keine ernsthafte Gemüseproduktion im Land mehr. Das wäre aber schade.

Zur Zeit geniesst die inländische Produktion einen gewissen Schutz, und wir können uns trotzdem vom Ausland mitversorgen. Diese Kombination ist grundsätzlich kein ganz falscher Weg.

swissinfo.ch: Man könnte einen Schritt weitergehen und sich die Frage stellen, ob die Schweiz nicht zu 100 Prozent ein Bioland werden könnte?

S.M.: Die Regierung würde dann Bio für alle Schweizer Landwirte verordnen. Nur ergäbe sich dann die von vielen Bio-Freunden kaum beabsichtigte Folge, dass der Agrarhandel zusätzlich intensiviert würde.

Da wir dann noch mehr Bioprodukte exportieren würden, müssten wir entsprechend mehr konventionelle Produkte einführen. Es wird immer ein grosses Segment von Verbrauchern geben, die nicht bereit sind, mehr als notwendig für Nahrungsmittel zu bezahlen.

swissinfo.ch: Die Strukturen des Agrarsektors umfassen einerseits starke Subventionierung und andererseits harten Wettbewerb. Ein Widerspruch?

S.M.: Bei den Subventionen muss man zwischen der EU und der Schweiz unterscheiden. In EU-Ländern machen die Giesskannen-Zahlungen pro bewirtschaftete Hektare Land den grössten Teil der ausgegebenen Landwirtschaftsmilliarden aus.

In der Schweiz versucht man mit dem weiterentwickelten Direktzahlungssystem den Staat nur das bezahlen zu lassen, was tatsächlich eine Leistung an die Gesellschaft darstellt. Zum Beispiel Biodiversitäts- oder Landschaftsqualitäts-Beiträge.

Da würde ich nicht von blosser Subventionierung sprechen. Das ist eher schon der Versuch, eine multifunktionale Landwirtschaft umzusetzen. Diese soll nicht nur möglichst betriebswirtschaftlich Lebensmittel herstellen, sondern Sauberkeit von Wald, Wasser und Luft beachten, Artenvielfalt und Landschaft berücksichtigen.

Damit werden die öffentlichen Leistungen der Landwirtschaft mitvergütet. Dieses System ist aber, in der Schweiz wie in Europa, kombiniert mit einem starken Druck auf die Kosten. Die Detailhändler werden vom Verbraucher danach beurteilt, wie billig sie Lebensmittel anbieten können. Und das wird sich kaum ändern.

swissinfo.ch: Die Konsumenten werden also auch in Zukunft an ihren Tiefpreiswünschen festhalten?

S.M.: Nicht einfach alle. Aktuell gilt ein Segment von 10% der Verbraucher als Bio-Konsumenten, die bereit sind, etwas mehr zu bezahlen. Das weitere Bio-Potenzial beträgt nochmals 10%.

Doch die grosse Mehrheit wird nach wie vor möglichst kostengünstig einkaufen wollen. Sie messen der Nahrungsmittelqualität keinen absolut hohen Wert bei und geben ihr Geld lieber für andere Dinge aus.

swissinfo.ch: Inwieweit sind die Discounter schuldig am Billigtrend?

S.M.: Es sind nicht nur die Discounter, die auf billig machen. Die Migros hat auch sehr viel dazu beigetragen, Kostendruck auf die Produzenten auszuüben. Coop mit seinen Billiglinien ebenfalls.

Die grossen Detaillisten schauen heute viel mehr auf den Preis als noch vor einem Jahrzehnt. Der Konsument entscheidet eben sehr stark nach dem Preis, weicht teils auf die billigsten Discounter aus oder geht gleich selbst ins nahe Ausland, um dort noch günstiger einzukaufen.

Der Schuldige im Endeffekt ist der Konsument. Es ist deshalb schon fast eine Gesetzmässigkeit, dass alle paar Jahre wieder ein Lebensmittelskandal ansteht. Ich habe schon längere Zeit darauf gewartet, dass wieder so etwas wie der derzeitige Dioxinskandal ausbricht.

Agroscope ist die Sammelbezeichnung für die drei Forschungsanstalten des Bundesamts für Landwirtschaft (Eidg. Volkswirtschafts-Departement).

Eine der drei Anstalten, Agroscope Reckenholz-Tänikon (ART), forscht für eine umweltschonende und wettbewerbsfähige Landwirtschaft.

Das besondere Anliegen gilt einem vielfältigen, ländlichen Raum. Die Mitarbeiter entwickeln und beurteilen nachhaltige Produktionssysteme im Pflanzenbau und in der Tierhaltung in einem ganzheitlichen Forschungsansatz.

Der Agrarökonom und Volkswirt Stefan Mann ist seit 2002 Forschungsgruppenleiter Sozioökonomie in Tänikon.

Ende Dezember 2010 wurde publik, dass in Deutschland mit billigem Industriefett verunreinigte Futtermittel über die Nahrungskette in Eier, Geflügelfleisch und Schweinefleisch gelangt sind. 

Im Dioxin-Skandal in Deutschland gehen Ermittler davon aus, dass Futtermittel absichtlich gepanscht wurden.

Die Staatsanwaltschaft geht dem Verdacht nach, dass der fehlbare Futtermittelhersteller Harles und Jentzsch in Uetersen, Schleswig-Holstein, belastete Vorprodukte möglicherweise systematisch so lange verdünnt haben könnte, bis der Dioxin-Grenzwert von 0,75 Nanogramm erreicht war.

Der Skandal wirft in ganz Europa, aber auch ausserhalb, hohe Wellen. China und Südkorea haben auf Schweinefleisch und Eiprodukten aus Deutschland Einfuhrbeschränkungen erhoben.

Dioxine sind schädliche Substanzen in der Umwelt. Vom Menschen werden sie vor allem über tierische Produkte aufgenommen.

Dioxine entstehen unter anderem bei Verbrennungs-Prozessen.

Dioxine sind schwer abbaubar und reichern sich deshalb langfristig im Fettgewerbe des Körpers an.

Langzeitwirkungen wurden bereits in Tierversuchen nachgewiesen, so etwa Störungen des Immun- und Nervensystems sowie des Hormon-Haushaltes. 

Einige Dioxinarten gelten als krebserregend.

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