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Wenn der Berg die Idylle bedroht

Für einige Bewohner ist der Traum vom Eigenheim am Südhang der Rigi zum Alptraum geworden. swissinfo.ch

Erdrutsche, Felsstürze, Hochwasser oder Lawinen fordern in der Schweiz immer wieder Opfer auch im Siedlungsgebiet. Um das Risiko zu verringern, müssen die Gemeinden Gefahrenkarten erstellen, als Grundlage für Schutzmassnahmen oder Bauverbote. Was die Gefahrenanalysen bewirken können, zeigt das Beispiel des Dorfes Weggis am Vierwaldstättersee.


«Hier ist gut sein», wirbt die Gemeinde auf der WebsiteExterner Link für ihren Standort. Aber wer in Weggis ein Haus bauen lässt, muss tief in die Tasche greifen. Das Dorf am Vierwaldstättersee liegt am milden Südhang der Rigi und ist für Ferien wie auch als Wohnort gefragt.

Von sich reden macht das Dorf allerdings nicht nur wegen der schönen Lage, sondern immer wieder wegen lebensbedrohlicher Naturgefahren. 

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Rigi lässt Weggis nicht in Ruhe

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht 2005 wurden in Weggis drei Gebäude von einem Hangrutsch dem Erdboden gleichgemacht. Derzeit werden Häuser abgebrochen, weil tödliche Gefahr droht.

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Nach starken Unwettern zerstörten im August 2005 Erdrutsche und herunterstürzende Felsblöcke drei Wohnhäuser. Die Bewohner hatten rechtzeitig, zum Teil erst wenige Minuten vor dem Unheil, in Sicherheit gebracht werden können. «Meine Frau und ich waren damals in den Ferien», erinnert sich Martin Hofmann, dessen Haus verschont blieb. Bei ihrer Heimkehr wurde dem Paar mitgeteilt, dass seine Kinder wohlauf seien, aber die Familie nicht ins Haus zurückkehren könne, sondern wie alle Bewohner des Gebiets evakuiert würden, bis sich die Situation entspannt habe. Aber weil vom Berg immer wieder Steine und Felsblöcke herunter stürzen, lebt die Familie seither in ständiger Angst.

Weggis hatte als eine der ersten Gemeinden schon 2001 Gefahrenkarten erstellen lassen, aber nach den Ereignissen von 2005 die roten Gefahrenzonen in mehreren Gebieten ausweiten müssen. Weil es in diesen Zonen verboten ist zu bauen, erlitten die betroffenen Gebäude und vor allem der Boden zum Teil massive Wertverluste.

Dem Bagger zum Opfer gefallen

Für rund ein Dutzend Bewohner im östlichsten Teil der Gemeinde sollte es noch schlimmer kommen. Anfang August dieses Jahres mussten sie evakuiert werden, nachdem die Behörden für ihre fünf Häuser ein sofortiges und dauerhaftes Betretungs- und Nutzungsverbot sowie Abbruchverfügungen erlassen hatten. 

Nach erneuten vereinzelten Felsblock-Stürzen hatten Geologen nämlich festgestellt, dass die Felsen über diesen Häusern eine akute tödliche Gefahr sind. Einzelne Felselemente, darunter Blöcke von mehreren Hundert Tonnen, sind laut den Experten so instabil, dass sie bereits bei sehr geringen Impulsen und ohne Vorwarnzeit zu Tal stürzen können.

Sein Haus sei nicht der Naturgewalt, sondern den Behörden zum Opfer gefallen, hadert einer der Betroffenen (Name ist der Redaktion bekannt). Dass die Felsen für die Bewohner gefährlich sind, bezweifelt er zwar nicht. Aber man hätte die Häuser schützen können, wenn die Behörden die Kosten dafür nicht gescheut hätten. Oder die Betroffenen hätten wenigstens ordnungsgemäss entschädigt werden müssen, klagt er gegenüber swissinfo.ch. Einen Teil des Verkehrswerts werde zwar von der Gebäudeversicherung vergütet, aber nur wenn er ein anderes Wohnobjekt kaufen würde. Er habe zwar Einsprache erhoben und sei auch vor Gericht gegangen, habe aber nach einer Güterabwägung klein beigeben müssen.

Im Fall einer einzigen der betroffenen Liegenschaften ist das Beschwerdeverfahren noch im Gang. Die anderen vier Häuser werden in diesen Tagen abgebrochen.

Bedrohliche Rigi

Die «Königin der Berge», wie die Rigi in Tourismusprospekten genannt wird, zeigt sich an exponierten Stellen immer wieder von ihrer bedrohlichen Seite. Im Juli 1795 brach nach wochenlangen Unwettern ein 350-Meter breiter Hang am Südfuss des Berges ab. Der mit Nagelfluh-Blöcken durchsetzte Schuttstrom wälzte sich 1,5 Kilometer weit bis zum See und begrub alles unter sich, 28 Wohnhäuser, landwirtschaftliche Gebäude, Kulturland. Menschen und Vieh konnten in letzter Minute in Sicherheit gebracht werden.

Besser kein Schutz, als ein schlechter

Weshalb andere Siedlungsgebiete in der Gemeinde vor den Naturgefahren geschützt werden, wollen einzelne Bewohner der abzubrechenden Häuser nicht verstehen. Nach den Ereignissen von 2005 war nämlich bereits ein Schutzdamm gebaut worden. Und nun will die Gemeinde an anderen Stellen zwei weitere Dämme bauen, um die darunterliegenden Gebäude so gut vor den Naturgefahren zu schützen, dass diese nicht nur erhalten, sondern auch nicht mehr zur roten Gefahrenzone gehören werden.

Dass die Häuser in Weggis nicht alle gleich gut geschützt werden können, liege an der technischen Machbarkeit, erklärt Gemeindeammann Baptist Lottenbach den Unterschied. «Die Dämme können nur gebaut werden, wo genügend Platz besteht und sie sicher im Untergrund fundiert werden können», sagt er mit Verweis auf die Katastrophe in der Walliser Gemeinde Gondo im Oktober 2000. Dort hatte nach heftigen Unwettern eine Schlammlawine einen Schutzdamm zum Einsturz gebracht, einen Drittel des Dörfchens zerstört und 13 Personen in den Tod gerissen.

«Im östlichsten Teil der Gemeinde Weggis ist das Gelände zu steil und kein Platz vorhanden, um Dämme zu errichten. Weitere Schutzmassnahmen wären nicht finanzierbar», sagt Lottenbach. «Die einzige Massnahme, die von Bund und Kanton dort unterstützt wird, ist der Rückbau der Häuser.»

Albin Schmidhauser, Leiter des Fachbereichs Verkehr und Infrastruktur beim Kanton Luzern, bestätigt: «Die Felstürme sind extrem labil. Deshalb werden sie abgebaut, auch um die darunter liegenden Häuser abbrechen zu können.» Damit sei die Gefahr aber nicht beseitigt. «Aus der labilen Felswand kommen permanent grössere Ausbrüche. Zwischen den Häusern, die in den 1960er-Jahren gebaut wurden, hat es Dutzende von bis zu 5 Kubikmeter grossen Felsblöcken, die in den letzten 50 Jahren herunterstürzten. Das Risiko ist zu gross, als dass man dort weiterhin wohnen kann.»     

Ist das Volk solidarisch?

Ende November können die Weggiser Stimmbürger darüber entscheiden, ob die Gemeinde für Schutzbauten mehrere Millionen Franken ausgeben soll. Weil nur ein kleiner Teil der Dorfbevölkerung einen Nutzen von den Massnahmen hätte, die zudem eine Steuererhöhung zur Folge haben dürften, ist der Ausgang der Abstimmung offen. Mitte November fanden die Weggiser in ihren Briefkästen ein Flugblatt eines anonymen Komitees, das mit Argumenten wie «Wir können nicht den ganzen Berg zubetonieren» Stimmung gegen die Pläne des Gemeinderats macht.

Martin Hofmanns Eigenheim gehört zu den Gebäuden, die geschützt werden sollen. Obwohl der Familienvater auf ein solidarisches Plebiszit hofft, ist er mit den Plänen des Gemeinderats nicht ganz zufrieden. Dieser verlangt nämlich von den Besitzern der zu schützenden Gebäude eine Beteiligung von insgesamt einer Million Franken für die Schutzbauten. «Das macht pro Partei im Durchschnitt 50’000 Franken. Einige werden das nicht bezahlen können», mutmasst Martin Hofmann.

Gefahrenkartierung fast fertig

Nach dem Unwetter von 2005 wurden die Gemeinden in der Schweiz verpflichtet, für ihre Siedlungsgebiete Gefahrenkarten zu erstellen. Heute sind fast 95% kartiert.

Rot gefärbt sind auf den im Internet aufgeschalteten Karten die Gebiete der höchsten Gefahrenstufe, die durch Hochwasser, Lawinen, Rutschungen oder Felsstürze bedroht sind (Vgl. Gefahrenkarte Kanton LuzernExterner Link). 

Wer in die rote Zone fällt, hat neben der Gefährdung des eigenen Lebens noch ein anderes Problem: die Entwertung des Gebäudes und Bodens. Land in einer roten Zone ist kein Bauland mehr. Die Behörden sollen bestehende Gebäude deshalb möglichst gut schützen, um dem Extremfall einer Umsiedlung vorzubeugen. Wenn keine Schutzbauten möglich sind und Umsiedlungen verfügt werden, stellt sich die Frage nach der Entschädigung. Diese ist nicht einheitlich geregelt und für die betroffenen Behörden eine grosse Herausforderung.

Laut einer Umfrage der «Zentralschweiz am Sonntag» können die meisten Kantone nicht genau beziffern, wie viele bewohnte Gebäude in der roten Zone liegen. Gemäss Schätzungen sind schweizweit 10’000 bis 20’000 Personen betroffen.

Mitte November haben Hangrutsche und Hochwasser im Tessin vier Menschen das Leben gekostet. Eine Frau und ihre Tochter erstickten, nachdem eine Schlammlawine ihr Haus zerstört hatte. Dieses befand sich ausserhalb des Siedlungsgebiets und war nicht auf einer roten Gefahrenkarte verzeichnet.   Was nach den Unwettern 2005 noch möglich war, nämlich einen Schutzdamm ohne finanzielle Beteiligung der zu Schützenden zu bauen, wäre jetzt politisch nicht mehr machbar, ist Baptist Lottenbach überzeugt. «Die Perimeter-Beiträge [Beitragspflicht an ein öffentliches Projekt im Interesse der Grundeigentümer, N.d.R.] sind inzwischen auch in anderen Regionen für die Finanzierung von Schutzbauten erhoben worden und heute üblich.» 

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