Wenn der Staat Bürger «verschwinden» lässt
Die USA spielten bei der Entwicklung von Zeugenschutzprogrammen eine Pionierrolle: Das 1971 im Kampf gegen Mafia-Verbrechen ins Leben gerufene Programm WITSEC wurde später auf andere, neuere Formen der Kriminalität wie urbane Gangs und Terrorismus ausgeweitet.
Joseph Valachi starb 1971 im Alter von 67 Jahren im Gefängnis an einem Infarkt. Dies obschon auf den Kopf des New Yorker Mafioso ein Preis von 100’000 Dollar ausgesetzt war, da er das Schweigegebot (Omertà) gebrochen und mit der Polizei zusammengearbeitet hatte.
Valachi stand unter dem Schutz der Regierung. Zu seiner Zeugenaussage war er in Begleitung einer Eskorte von 200 US-Marshals erschienen. Im Gefängnis wurde er von anderen Häftlingen isoliert und hatte nur Kontakte zum FBI und zum Gefängnispersonal.
Sein Fall führte 1971 in den USA zur Schaffung eines Programms zur Sicherheit von Zeugen, genannt WITSEC. Das Programm gewährt den Schutz von Personen, die bei der Aufklärung von Verbrechen mit den Behörden zusammenarbeiten.
Bei diesen Zeugen kann es sich um unschuldige Opfer oder Passanten handeln. Wie aus einer 2010 veröffentlichten Studie der Universität Rutgers hervorgeht, geht es aber in rund 95% der Fälle um Kriminelle. Im Gegenzug für eine reduzierte Strafe geben sie zum Beispiel Auskunft über interne Abläufe einer kriminellen Organisation oder denunzieren ehemalige Kollegen.
Während dem Prozess und in der Haft stehen sie unter besonderem Schutz. «Es gibt sieben Gefängnis-Abteilungen mit etwa rund hundert Plätzen, die für solche Gefangene reserviert sind», erklärt Jack Donson, der in einer dieser Abteilungen arbeitete und heute an der Universität in Marywood lehrt.
«Sie werden in diesen besonders gesicherten Orten nur mit ihren Initialen angesprochen, sind in Einzelzellen untergebracht und müssen sich Lügendetektoren-Tests unterziehen, um sicherzustellen, dass sie nicht hier sind, um einen anderen Zeugen umzubringen.»
Mehr
Mit Zeugenschutz die Omerta knacken
Erfundenes Leben
Werden sie aus dem Gefängnis entlassen, erhalten sie eine neue Identität und werden in eine andere Stadt umgesiedelt. Zudem stattet man sie mit einem fingierten beruflichen Lebenslauf aus. «Für den Umzug haben sie die Wahl unter drei Orten», erklärt Jack Donson. «Vorzugsweise kleinere, abgelegene Städte oder anonyme Vororte.
Aber die Umsiedlung ist nicht immer einfach, etwa wenn es um ein Gangmitglied voller Tattoos oder einen Mafioso mit starkem New Yorker Akzent geht.» Lässt sich kein geeigneter Ort finden, kommt es zu einem Umzug ins Ausland.
Für das neue Leben können Personen im Zeugenschutzprogramm Menschen aus ihrer engsten Umgebung wie Kinder oder Ehepartner mitnehmen. «Doch zum Rest der Familie und zu früheren Freunden müssen sie den Kontakt für immer abbrechen», erläutert Gerald Shargel, ein New Yorker Anwalt, der an mehreren Mafia-Prozessen beteiligt war.
Während den ersten Jahren unter der neuen Identität erhalten die Zeugen finanzielle Unterstützung (in der Grössenordnung von 60’000 Dollar pro Jahr) und Hilfe bei der Suche nach einer Arbeitsstelle. Und wenn nötig, können sie psychologische Betreuung anfordern.
Denn dieser «soziale Tod» ist nicht einfach zu ertragen. «Viele Zeugen tun sich schwer damit, die Brücken zu ihrem alten Umfeld, ihrer Herkunft völlig abzubrechen und von vorne zu beginnen», sagt Alan Vinegrad, ein Anwalt und ehemaliger New Yorker Staatsanwalt, der vor Gericht viele Strafverfahren vertreten hat.
Oft muss jemand im Zeugenschutzprogramm auf jegliche beruflichen Ambitionen verzichten. «Nicht selten müssen Personen mit qualifizierter Ausbildung (Ärzte, Anwälte, Ingenieure etc.) umgeschult werden oder gar eine Stelle als ungelernte Arbeiter annehmen «, steht in einem Bericht des UNO-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) von 2008.
Seit seiner Einrichtung 1971 wurden im Rahmen des amerikanischen Zeugenschutz-Programms (WITSEC) 18’400 Personen unterstützt: 8500 Zeugen und 9900 ihrer Familienmitglieder. Das entspricht pro Jahr im Durchschnitt 438 Zeugen oder Zeuginnen. Ursprüngliche Schätzungen waren von rund 30 pro Jahr ausgegangen.
Die Schar der Menschen, die unter dem Schutz von WITSEC stehen, hört nicht auf zu wachsen. Die Anzahl erhöhte sich zwischen 1995 und 2003 von 15’229 auf 17’108 Personen, ein Anstieg um 12%. Rund 500 von ihnen sind im Gefängnis, die anderen leben in Freiheit.
Informationen dieser Zeugen haben zur Verurteilung von rund 10’000 Kriminellen beigetragen, die Erfolgsquote liegt bei 89%.
Von den Zeugen oder Zeuginnen, die das Programm nicht verlassen haben, wurde bisher niemand getötet oder verletzt.
Rückfall-Risiko
«Gewisse Zeugen verzichten nach einer Weile auf eine weitere Teilnahme am Programm. Die Rückkehr in ihre frühere Umgebung überleben sie jedoch nur selten», unterstreicht Gerhard Van Rooyen, Experte für Zeugenschutzprogramme beim UNDOC. In den USA wurden etwa 30 Zeugen ermordet, die aus WITSEC ausgestiegen waren.
Gewisse Zeugen aus dem Programm können aber auch zur Gefahr für ihre neue Umgebung werden. «Menschen neigen dazu, zu dem zurückzukehren, das sie kennen. Wer ein Leben lang ein Krimineller war, wird zur Kriminalität zurückkehren», sagt Gerald Shargel.
Das illustriert etwa der Fall von Marion Pruett. Er sass wegen Raubüberfalls im Gefängnis. 1979 wurde er entlassen und zog – nachdem er als Zeuge in einem von einem Mitgefangenen begangenen Mord ausgesagt hatte – ausgestattet mit einer neuen Identität nach New Mexico. Seine wieder erlangte Freiheit nutzte er dazu, acht Personen zu ermorden, darunter seine Frau.
Der New Yorker Mafioso Sammy Gravano, der sich 1995 mit seiner Familie in Arizona niederliess, wurde im Jahr 2000 verhaftet, er hatte einen Handel mit Ecstasy aufgezogen. Trotz solch schlagzeilenträchtigen Fällen «liegt die Rückfallquote für Leute im Zeugenschutzprogramm nur bei 17%, das ist viel weniger als die 40% bei jenen, die auf Bewährung freigelassen wurden», sagt Alan Vinegrad.
Brenda Paz war 12 Jahre alt, als sie sich der berüchtigten Gang M-13 anschloss. Im Alter von 17 wurde die in Honduras geborene junge Frau verhaftet. Sie machte gegenüber den Behörden sehr rasch detaillierte, präzise Angaben zu einer langen Liste von Morden und bewaffneten Angriffen durch Mitglieder ihrer Gang, darunter ihren Freund.
In der Gang wird bald einmal bekannt, dass sie zur Informantin wurde – und ihre ehemaligen Kollegen setzen ein Kopfgeld auf sie aus. Im März wird Brenda Paz ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen.
Sie erhält einen anderen Namen und nimmt in Kansas City, Missouri, ihr neues Leben auf. Doch isoliert und aus der Bahn geworfen, nimmt sie wieder Kontakt mit ihren alten Freunden auf.
Im Juni 2003 überzeugen diese sie, zurückzukehren, indem sie ihr vorgaukeln, alles sei vergessen.
Drei Wochen später wird ihr lebloser Körper von einem Fischer in einem Fluss in Virginia entdeckt. Sie war 17 Wochen schwanger und mit 19 Messerstichen ermordet worden.
Der Ehrenkodex
Das Zeugenschutzprogramm wurde in den 1970er-Jahren entwickelt, um die Omertà, das Schweigegebot der amerikanisch-italienischen Mafia, zu brechen, die damals auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand. Später wurde das Programm auf andere Arten von Kriminalität ausgeweitet.
In den 1980er-Jahren wurde es häufig genutzt, um an Informationen über Drogenkartelle zu gelangen, in den 1990er-Jahren kam der Kampf gegen die sich immer weiter ausbreitenden Gangs in amerikanischen Städten hinzu. Und seit dem 11. September 2011 wird das Programm auch im Kampf gegen Terrorismus genutzt.
Das zieht auch gewisse Probleme nach sich. «Mitglieder der traditionellen italienischen Kriminalität sind einfacher zu handhaben. Sie folgen einem Ehrenkodex, ihr Geschäft spielt sich innerhalb der Familie ab», erklärt Jack Donson. «Mitglieder von Gangs sind viel weniger diszipliniert, haben viel mehr Mühe, Regeln zu befolgen und manchmal auch Drogenprobleme.»
Und wenn es um Terrorismus-Fälle geht, sind die Zeugen häufig Ausländer. «Damit man sie in das Zeugenschutzprogramm aufnehmen kann, müssen sie eine Aufenthaltsbewilligung für die USA erhalten», erklärt Tarik Abdel-Monem, Forscher an der Universität Nebraska, der dieser Frage nachgegangen ist.
«Doch die Zusammenarbeit zwischen dem Justizdepartement und den Immigrationsbehörden ist ungenügend. Versprechen werden gemacht, aber nicht eingehalten.»
Er zitiert den Fall von Adnan Awad, einem Palästinenser, der in den 1980er-Jahren mit den Schweizer und danach den US-Behörden zusammengearbeitet hatte, nachdem er nicht wie geplant im Hotel Hilton in Genf eine Bombe gelegt, sondern sich selber gestellt hatte. «Die USA hatten ihm im Gegenzug für seine Hilfe einen amerikanischen Pass versprochen, den er aber nie erhielt «, sagt Tarik Abdel-Monem.
Eine weitere Entwicklung, die das Zeugenschutzprogramm verletzlicher macht, ist das Internet. «Soziale Netzwerke und Online-Datenbanken haben es viel einfacher gemacht, jemanden zu finden», sagt Gerhard Van Rooyen. Es gibt sogar Websites, auf denen Personen denunziert werden können, die mit der Polizei kooperieren.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch