Wenn die Deutschen verlieren, jubeln die Schweizer
Immer mehr Deutsche leben in der Schweiz. Auch wenn die Einwanderer aus dem Norden nicht sehr beliebt sind, werden sie doch toleriert. Nicht so, wenn es um Fussball geht: Da lassen die sonst zurückhaltenden Schweizer ihren negativen Emotionen freien Lauf.
«Wir waren schockiert über die heftigen Ressentiments während der Fussball-WM vor zwei Jahren», sagt der Norddeutsche IT-Consultant Jens-Rainer Wiese, der seit sieben Jahren in der Nähe von Zürich lebt.
«Wir hatten unser Auto mit deutschen Flaggen geschmückt. Einmal wurde meine Frau auf der Autobahn abgedrängt, und mir hat ein Polizist die Flagge aus der Hand gerissen. Es sei zu gefährlich, diese aus dem Fenster zu halten, meinte er», erzählt Wiese.
«Ein Freund von mir hat sich in einer Kneipe ein Fussballspiel angesehen. Als Deutschland das erste Tor schoss, brüllte er – er war der Einzige. Niemand hier ist je für die deutsche Fussballmannschaft.»
Nur leise jubeln
Sebastian Edtbauer, seit Sommer 2007 Schauspieler am Stadttheater Bern, ist auch schon zu Ohren gekommen, dass man als Deutscher seinen Jubel besser zurückhält. Die deutschen Fussballer seien eben gut, das sei das Problem, meint er.
Der junge Bayer hat sich auch bereits eine Strategie überlegt: «Entweder gehe ich für die EM-Zeit über die Grenze, oder ich mische mich unter meine Schweizer Kollegen und werde mich nicht zu laut freuen.»
Fussball – ein Ort der Emotionen
Auch Ralf Samens hat schon Ähnliches erlebt, nämlich während der WM 1994, die in den USA stattfand. Der seit 1990 in der Schweiz lebende Bildhauer schaute sich damals ein Vorrundenspiel Deutschland-USA an, und zwar in einem Lokal eines Vereins, der sich gegen Rassismus im Sport stark macht.
«Im Raum waren etwa 60 bis 70 junge Leute, alles aufgeschlossene Menschen. Und ich war der Einzige, der die deutsche Mannschaft unterstützte – und wurde ausgebuht. Dabei war der Match nicht gegen Italien oder Frankreich, sondern gegen die USA, die in der Schweiz keine grosse Sympathie geniessen und auch nicht Fussball spielen können.»
Für Samens ist es gesund und normal, dass sich beim Fussball auch negative Gefühle entladen. «Da mischen sich Vorurteile und Klischees mit billigen Bildern, die man hat. Dafür ist das Massenphänomen Fussball auch da.»
Einerseits gehe es um die Deutschen generell, andererseits um den deutschen Fussball. «Und der ist etwas langweilig. Und auch wenn die Deutschen nicht so brillant spielen, gewinnen sie trotzdem.»
Neidischer Blick auf grossen Bruder
Im Fussball und im Sport generell müssten die Menschen weniger kontrolliert und selbstbeherrscht sein als sonst. Hier dürften Emotionen gezeigt werden, sagt Markus Lamprecht, Soziologe aus Zürich.
Dass die negativen Gefühle gegenüber der deutschen Mannschaft besonders stark sind, hat laut Lamprecht auch mit dem Verhältnis der kleinen Schweiz gegenüber dem mächtigen Nachbarn zu tun.
Aber es gebe auch fussball-spezifische Gründe: «Die Schweizer Nati hat uns in den letzten drei Jahrzehnten nicht immer verwöhnt mit Teilnahmen an Welt- oder Europameisterschaften. Eine Teilnahme der Schweiz war eher die Ausnahme.»
Trotzdem hätten die Schweizer dabei sein wollen. «Und wenn wir schon nicht die Schweiz unterstützen konnten, waren viele doch zumindest gegen Deutschland.»
Dass sich die Liebe der Schweizer zum Fussball-Nationalteam der Nachbarländer in engen Grenzen hält, dass Bewunderung und Rivalität dominieren, trifft übrigens nicht nur auf die Deutschschweizer zu.
«Die Tessiner sind nicht gegen die Deutschen, sondern gegen die italienische Nationalmannschaft. Dort findet man den gleichen Effekt», sagt Markus Lamprecht.
Bewunderung und Rivalität
Und Christoph Keller, Initiant der Web-Plattform «Nati-Fans.ch» bringt auf den Punkt, was viele Schweizer offenbar denken: «Wenn die deutsche Mannschaft attraktiven Fussball spielt, bin ich nicht neidisch. Doch wenn sie schlecht spielt, bin ich auch nicht unglücklich.»
Dieses Phänomen berge einen gewissen Widerspruch in sich, sagt der Soziologe aus Zürich gegenüber swissinfo: «Die gleichen Leute, die gegen das deutsche Nationalteam sind, bewundern den deutschen Fussball auf eine gewisse Weise und verfolgen die Spiele der deutschen Bundesliga jeweils samstags um Viertel nach sechs in der Sportschau am Fernsehen sehr eng.» Deutscher Fussball sei zwar kein brasilianischer, habe aber mit viel Kampf und Kraft zu tun.
Lieblingsgegner Deutschland
Auch wenn sich die negativen Emotionen gegenüber dem deutschen Fussball seit der WM vor zwei Jahren in Deutschland etwas abgeschwächt hätten, bleibe der grosse Bruder der Lieblingsgegner der Schweizer, so Lamprecht.
Bei den Österreichern und Holländern sei das übrigens auch so. «Das hat sicher auch damit zu tun, dass die deutschen Fussballer so erfolgreich sind.»
Die WM 2006 habe aber schon einiges verändert: «Viele Schweizer gingen damals nach Deutschland, an diesen sehr gelungenen Anlass. Dort erfuhren sie, dass die Deutschen die Schweizer mögen, was die Schweizer wiederum irritierte.»
swissinfo, Gaby Ochsenbein
Die Schweiz ist in den letzten Jahren zum beliebtesten Auswanderungsziel für Deutsche geworden.
Mehr als 200’000 oder 12,9% der rund 1,5 Mio. Ausländer in der Schweiz stammen aus Deutschland.
Damit steht Deutschland nach Italien (18,43%) an 2. Stelle.
2007 kamen rund 40’000 deutsche Staatsangehörigen in die Schweiz, etwa 10’000 haben sie verlassen.
Über die Hälfte der in der Schweiz wohnhaften Deutschen sind Führungskräfte oder Akademiker.
Zum Auftakt der Euro 08 in der Schweiz und Österreich ist die Kampagne «Unite Against Racism» (Vereint gegen Rassismus) gestartet worden.
Die Antirassismus-Kampagne wird vom europäischen Netzwerk FARE (Football Against Racism in Europe)in Zusammenarbeit mit der UEFA durchgeführt und von der internationalen Spielervereinigung FIFPro unterstützt.
Für FARE ist Rassismus sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Stadions inakzeptabel und wird von der Mehrheit der Fans und Spieler abgelehnt.
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