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Wenn im Erasmus-Jahr Amors Pfeil trifft

Patrick und Lena zu Hause in Freiburg. swissinfo.ch

Sie kam per Auto aus der flämisch-sprachigen Region Belgiens, er per Fahrrad aus Freiburg in der Schweiz. Das Ziel der beiden war Bordeaux an der französischen Atlantik-Küste, wo sie am Studenten-Austauschprogramm Erasmus teilnehmen würden.

Es war Herbst 1995. Frankreich wurde von einer Streikwelle überrollt. Auf den Strassen waren Slogans wie «Juppé, tu dois céder» (Juppé, du musst zurücktreten) zu hören. Die Demonstranten verlangten von Premierminister Alain Juppé, seine umstrittenen Reformen zurückzunehmen.

Rund 50 neue Erasmus-Ankömmlinge hatten sich zu einer Informationsveranstaltung versammelt. Dort sah der angehende Lehrer Patrick Furter seine künftige Frau zum ersten Mal.

«Ich sass im Hörsaal, alle Erasmus-Studenten waren da, sie traf als letzte ein. Sie kam zu spät. Es gab zwei Türen, zuerst erwischte sie die falsche. Sie war sehr bunt gekleidet, ganz anders als die übrigen.

Um die Erasmus-Studenten aus dem Ausland zu unterstützen, hatte die Universität vor Ort Familien organisiert, die den Neuankömmlingen bei der Integration halfen.

Lena Vandergeten bezog ein Zimmer auf dem Universitäts-Campus von Bordeaux, während Patrick eine Unterkunft in der Stadt fand. Sie hatten jedoch die gleiche Familie, die sich um sie kümmerte. So trafen sie sich immer wieder, etwa wenn sie von der Gastmutter zum Essen oder zu Ausflügen eingeladen wurden

Unzertrennlich

Die Gastmutter spielte – ob zufällig oder mit Absicht – die Kupplerin. Einmal lud sie die zwei in die Oper ein, verschwand aber in allerletzter Minute und liess die beiden jungen Leute für ihr erstes Date alleine. Das war im Januar. Bereits im kommenden März war ein Leben ohne den anderen für Lena und Patrick unvorstellbar geworden.

17 Jahre später: Das Paar lebt mit seinen vier Kindern in Freiburg in der Westschweiz. Patrick unterrichtet an einer Sekundarschule, und Lena arbeitet als Physiotherapeutin. Zusammen sprechen sie nicht mehr Französisch oder Englisch, wie sie das zu Beginn ihrer Beziehung taten. Schweizerdeutsch und Flämisch sind ihre Familiensprachen geworden.

Es sind glückliche Erinnerungen, welche die beiden an ihre Zeit in Bordeaux haben. «Für mich war es wirklich ein Jahr, in dem sich alles verändert hat, und es war eine wunderbare, äusserst bewegende und reiche Zeit», erzählt Patrick.

Es war die Gelegenheit, neue Kulturen zu entdecken, Freundschaften zu schliessen und eine Menge Spass zu haben. Natürlich musste man auch studieren. Für Lena allerdings stimmten die Kurse in Frankreich schlecht überein mit ihrem Studium in Brüssel. Ein grosser Teil ihrer Zeit in Frankreich war aus akademischer Sicht verlorene Zeit.

«Das war noch vor der Bologna-Reform (Harmonisierung des europäischen Hochschulwesens). An den beiden Unis wurden völlig andere Gebiete behandelt. Mein Professor in Brüssel war von dieser Situation auch schockiert», sagt sie.

Patrick, der aus dem deutsch-sprachigen Luzern stammt, hatte mehr Glück. Dass er ausschliesslich auf Französisch studierte, verhalf ihm zu einem Durchbruch bei der Beherrschung der französischen Sprache, die er heute an einer Schule bei Freiburg unterrichtet.

«Ich nahm in Bordeaux auch an einem Kurs über das Vermitteln von Deutsch als Fremdsprache teil. Das war hilfreich für meine spätere Lehrtätigkeit.»

Gleichgesinnte

Die jungen Erasmus-Studenten in Bordeaux hielten zueinander und unterstützten sich gegenseitig. «Es gab viele tiefe Gefühle in diesem Jahr. Alison, eine Freundin von uns, verlor ihre Grossmutter, wir alle weinten über diesen Tod», erinnert sich Lena.

«Man hatte auch Heimweh, dieses komische Gefühl von ‹was mache ich hier eigentlich?› Aber wir waren eine extrem gute Gruppe von sieben oder acht Studenten und standen uns sehr nahe.»

In der Studentenunterkunft war die Belgierin die einzige auf ihrem Stockwerk mit einem Wasserkocher. «Die englischen Mädchen kamen, um ihren Tee zu brauen, und die Afrikaner kochten bei mir ihr Couscous.»

Zusammen mit ihrem marokkanischen Nachbarn versuchte sie sogar, während des Ramadan zu fasten, hielt aber nur drei Tage durch.

Die ausländischen Studenten steckten ständig zusammen. Lenas und Patricks Gruppe bestand aus Deutschen, Engländern, Iren und Marokkanern – nur Franzosen waren keine dabei.

«Tagsüber gingen wir an die Uni, aber abends – und zwar jeden Abend – fand eine Party statt», erzählt Lena.

Wir können nur erraten, was der humanistische Gelehrte Erasmus aus dem 16. Jahrhundert zu diesem Verhältnis von Studium und Party wohl gesagt hätte. Ein Zitat von ihm lautet: «Reflexion ist eine Blume des Verstands, die einen bekömmlichen Geruch verströmt. Ausgelassenheit ist dieselbe Blume, die übel riecht und verblüht ist.»

Zeit der Entscheidung

Als Lena nach Sint-Truiden in Belgien zurückkehrte, zeigten sich ihre Eltern zu Beginn wenig begeistert von Patrick. Einerseits weil er einen Ohrring trug, aber auch weil ihre Tochter das Studium zumindest vorübergehend abbrechen und zu ihm in die Schweiz ziehen wollte.

«Meine Eltern sagten: ‹dann mach das halt und geh, aber wir zahlen nichts mehr›.» Lena hatte nie und nimmer mit einer ernsthaften Beziehung während ihres Auslandjahres gerechnet. «Falls ich mich dort verliebe, dachte ich, wird es ein kleines Abenteuer sein, nach dem beide dann wieder zu sich nach Hause gehen.»

Wie so oft aber entwickelten sich die Dinge ganz anders als erwartet. Als Patrick im Februar in die Schweiz zurückkehrte, ging es nur darum, wie man so schnell wie möglich wieder zusammen sein könnte.

Lena kam im März nach Freiburg auf Besuch, es lag Schnee und war «wie in einem Märchen». Patrick verbrachte auch Zeit in Belgien, aber schlussendlich zog Lena im Mai 1996 zu ihm in die Schweiz. Bereut hat das Paar diesen Entscheid nie.

Abenteuerlust

Die Erasmus-Erfahrung von Lena und Patrick hinterliess ein ganz spezielles Erbe, das auch im Laufe der Zeit nicht verschwand.

«Wir hatten uns geschworen, einmal mit der Familie etwas im Geiste von Erasmus zu tun», erklärt Patrick. Und so kam es auch. 2008 fand er  im Rahmen eines Lehrer-Austausch-Programms für ein Jahr eine Stelle in einer abgelegenen Region Kanadas.

Die Kinder gingen in der kleinen Ortschaft Barrhead, Alberta, zur Schule und hatten eine unvergessliche Zeit. Sie fanden Freunde, lernten Englisch und eine völlig andere Kultur kennen.

Das äusserst beliebte und erfolgreichste europäische Austauschprogramm zwischen Hochschulen feiert seinen 25. Geburtstag.

Als das Programm 1987 lanciert wurde, machten rund 3000 Studierende aus 11 Ländern mit.

Fünf Jahre später nahm zum ersten Mal auch die Schweiz an Erasmus teil, mit 350 Studenten.

Heute verbringen jährlich mehr als 2000 Schweizer Studentinnen und Studenten ein oder zwei Semester an einer Gastuniversität in Europa.

Insgesamt haben bisher knapp 30’000 Schweizer Studierende vom Erasmus-Programm profitiert – auf akademischer, beruflicher, aber auch persönlicher Ebene.

(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

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