Wenn vor der Tür die Revolution ausbricht
Wie ist das, wenn vor der Tür geschossen wird? Schweizerinnen und Schweizer im Ausland werden oft Zeugen dramatischer Ereignisse. Was folgt danach? Wir fragten Auslandschweizer, die auf den arabischen Frühling zurückblicken.
Zuletzt war es der Militärcoup in Myanmar, der bei einigen Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer die Fragen aufwarf, welche sich viele stellen, wenn rundherum plötzlich Revolution herrscht: Besser gehen? Oder bleiben? Und wenn bleiben: Farbe bekennen oder schweigen? Mitmachen oder weitermachen, um möglichst nicht aufzufallen?
Mehrere tausend Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer lebten in den Ländern, die 2011 vom Arabischen Frühling betroffen waren. Sie haben gesehen, wie sich diese Gesellschaften verändert haben. Vier von ihnen erzählen.
Rückblende: Im Dezember 2010 zündete sich Mohammed Bouazizi, ein junger Strassenverkäufer in Tunesien an, um gegen die Beschlagnahmung seiner Waren durch die Polizei zu protestieren. Die Verzweiflungstat löste eine Protestbewegung aus, die sich schnell auf andere Maghreb- und Nahost-Länder ausbreitete.
Tausende SchweizerInnen betroffen
Die Menschen protestieren gegen Armut, Arbeitslosigkeit, aber auch gegen die Korruption und den Autoritarismus von Regierungen, die seit Jahrzehnten an der Macht waren.
Acht Länder werden von der Revolution erfasst: Tunesien, Ägypten, Syrien, Algerien, Libyen, Marokko, Jemen und Bahrain. In diesen Ländern leben laut Bundesamt für Statistik zu diesem Zeitpunkt 4856 Schweizerinnen und Schweizer, die meisten davon in Tunesien (1482 Personen), Marokko (1417) und Ägypten (1338).
Sie werden zu unfreiwilligen Beobachtern. Sie sind von Volksaufständen betroffen, die sie grösstenteils verstehen und unterstützen, die aber nicht ihre eigenen sind.
Adnane Ben Chaabane (63) ist, wie er selbst sagt, «bikulturell» – seine Mutter ist Schweizerin und sein Vater Tunesier. Als im Januar die ersten Zusammenstösse in der Hauptstadt Tunis ausbrechen, ist er «in der ersten Reihe», da er dort lebt. Er unterstützt die Demonstranten, geht aber nicht auf die Strasse, weil er es «zu riskant» findet und sich selbst auch als «unpolitisch» bezeichnet. Heute ist ihm dies nicht mehr ganz recht. Damals aber habe er nicht erkannt, dass die Bewegung eher sozial als politisch war.
«Wir verbarrikadierten uns»
Max Ruef (71) lebt seit 2009 in Zarzis in Süd-Ost-Tunesien. Wie viele Menschen erfährt er aus den Medien von den Ereignissen, die das Land erschüttern. Präsident Ben Ali schaltet sich im Fernsehen zu und droht den Aufständischen. Dann erreicht die Revolution auch ihn. In Zarzis unterdrücken die Behörden die Aufstände brutal. «Wir wurden Zeuge einer Schiesserei auf der Strasse. Die Demonstranten wurden vor der zentralen Polizeistation mit scharfer Munition beschossen», erinnert er sich.
In den folgenden Tagen flieht der Präsident aus dem Land. Milizen verbreiten Terror in den Städten. Wie Adnane Ben Chaabane verstehen auch Max Ruef und seine Frau die Forderungen des Volks, sehen aber davon ab, die Demonstranten zu unterstützen. «Wir verbarrikadierten uns in unseren Häusern unter dem Schutz junger Tunesier, die patroullierten, um Plünderer abzuschrecken.»
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Ermutigt durch die Ereignisse in Tunesien rebelliert Ende Januar auch das ägyptische Volk gegen den langjährigen Präsidenten Housni Mubarak. Verena Foletti Mohamed (74) kam 2005 nach Ägypten. Sie lebt in Luxor, im Süden des Landes. «Ich war mit meinen Kindern auf dem Nil und als ich zurückkam, war die Stadt wie leergefegt». Sie wird von der Polizei angehalten, die sie über die «Revolution» informiert. Sie kehrt nach Hause zurück und sieht am TV, dass es im Stadtzentrum zu Zusammenstössen gekommen ist.
«Man landet schnell im Gefängnis»
Auch in Ägypten kommt es zu Gewalt. Verena Foletti beteiligt sich nicht an der Bewegung. «Ich hatte Angst vor den Konsequenzen. Hier geht es schnell, man braucht nur etwas Falsches zu sagen und schon landet man im Gefängnis.» Es herrscht Unsicherheit und die Angst, nachts überfallen und ausgeraubt zu werden, ist gross. Auch sie versteht die Rebellion – und bedauert dass «Menschen für eine Bewegung kämpfen und sterben, die ohnehin nichts bewirken wird in einem Land, das so korrupt ist und ein so mächtiges Militär hat.»
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In Marokko ist es die gleiche Geschichte. Rosa Frei (58), die seit 2007 in Ouarzazate in Zentralmarokko lebt, kriegt in den Medien mit, was vor sich geht. Im Februar kommt es in den grossen Städten zu Protesten von Tausenden von Marokkanern. Aber «in Ouarzazate gab es nicht eine einzige Demonstration», erinnert sich die Schweizerin.
Marokko ist die Ausnahme von der Regel. König Mohammed VI. kündigt schnell eine Verfassungsreform an. «Wenn ich in Tunesien oder Ägypten gelebt hätte, hätte ich vielleicht an den Demonstrationen teilgenommen», sagt Rosa Frei, «aber Marokko ist keine Militärdiktatur. Sie ist toleranter und befindet sich auf dem richtigen Weg.»
«Enorme Veränderungen»
Rosa Frei glaubt, dass hinter den angekündigten Reformen der Wunsch des Königs steht, an der Macht zu bleiben. Doch die Zürcherin sieht auch die Auswirkungen davon. Im Rückblick sagt sie: «Die Veränderungen sind enorm. Die Infrastruktur hat einen Sprung nach vorne gemacht, sie haben Strassen und Krankenhäuser gebaut. Es scheint mir, dass es auch weniger Korruption gibt.»
Auch in Ägypten führt die Revolution zu weitreichenden strukturellen Veränderungen, insbesondere zu einer Verfassungsreform. Doch Verena Foletti Mohamed gibt sich keinen Illusionen hin: «Die Leute sind nicht auf dem Laufenden. Und man weiss nie, ob das alles nicht eher Propaganda ist.» Sie anerkennt zwar, dass viel Geld in die Erneuerung der wichtigsten Touristenorte investiert wurde. Gleichzeitig beklagt sie, dass alles, was nicht dem Tourismus dient – mit 12 % des BIP einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes –, auf der Strecke bleibt.
Ernüchtert stellt die Schweizerin heute fest, dass die Menschen in Ägypten misstrauischer geworden sind und die Repression fast schlimmer ist als vor dem Arabischen Frühling. «Die Leute an der Spitze sind ersetzt, aber das Geld landet immer noch in fremden Taschen.»
In Tunesien sind sich Adnane Ben Chaabane und Max Ruef in einem Punkt einig: Der offensichtlichste Gewinn der Bewegung ist die Meinungsfreiheit. «Vor zehn Jahren hätte ich nicht so mit Ihnen reden können», sagt der Schweiz-Tunesier. Im Übrigen sind sie deutlich skeptischer. Die eingeleiteten Reformen und die 2014 verabschiedete neue Verfassung scheinen keine Früchte zu tragen. «Am Anfang schien es uns, dass es von der tunesischen Bevölkerung missverstanden wurde, die Demokratie mit Anarchie zu verwechseln schien», sagt Max Ruef. Der Siebzigjährige verweist auch auf die Ausbreitung des illegalen Bauens und die Abwanderung junger Menschen.
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Für Adnane Ben Chaabane «enttäuscht die politische Klasse, die die Macht ergriffen hat, wirtschaftlich und politisch.» In zehn Jahren haben sich die Lebenshaltungskosten verdreifacht und die Arbeitslosenquote unter den Jugendlichen, von denen der Protest ausging, wird im ersten Quartal 2021 über 40 % liegen. «Unter dem Deckmantel der Autorität hatten wir nichts zu sagen. Heute ist es das Gleiche, nur unter dem Deckmantel der Demokratie», sagt er. «Ich hätte lieber ein härteres Regime statt dieser Heuchelei gehabt.»
Vorher war es besser
Auch Max Ruef und Adnane Ben Chaabane sind sich einig, dass es früher besser war. «Die gewonnene Meinungsfreiheit war es nicht wert», sagt Ben Chaabane mit einem Hauch von Bitterkeit. Und Max Ruef stellt fest, dass «sich die Situation verschlechtert hat: Arbeitslosigkeit, geringere Kaufkraft, Unsicherheit… Also ja, früher war es besser, sagen viele Tunesier!»
In Ägypten sieht Verena Foletti Mohamed weder besser noch schlechter: «Hier sind die Menschen, die sich für Politik interessieren, nicht aktiv. Und solange sie sich nicht einmischen, wird es keine wirkliche Veränderung geben.»
Veränderung ist schwer zu erreichen
Alle sind sich einig, dass das vermeintliche Feuerwerk nur ein Strohfeuer war. Sie blicken zurück in einer Mischung aus Geduld, Hoffnung und Enttäuschung. «Der Wandel wird ein bis zwei Generationen dauern», sagt Rosa Frei in Marokko. Wie Adnane Ben Chaabane in Tunesien sieht sie das Übel darin, dass «die falschen Leute am falschen Platz sind». Sie ortet Schwächen in der Verwaltung, sieht Korruption und ein schlechtes Bildungssystem.
Verena Foletti Mohamed ihrerseits ist der Meinung, dass die Macht der ägyptischen Armee weiterhin zu gross ist. «Nicht eine Revolution ist nötig in den Städten, sondern ein Krieg!» Für sich selbst hat sie ein Arrangement getroffen: «Um hier zu leben, muss man es sein lassen. Entweder man gewöhnt sich daran oder man geht zurück in die Schweiz.»
In Tunesien sagt Max Ruef: «Wir leben immer noch gerne in Tunesien, aber die Unsicherheit und die Schwierigkeiten um uns herum tun uns im Herzen weh.»
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Forum für die Fünfte Schweiz
Der Dialog mit Max Ruef erfolgte schriftlich.
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