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Wie afghanische Fussballerinnen im Exil für ihre sportlichen Träume kämpfen

Afghanische Frauenfussball-Nationalmannschaft
Die afghanische Frauenfussball-Nationalmannschaft, die sich 2010 in Kabul für ein Freundschaftsspiel gegen die Internationale Sicherheits-Unterstützungstruppe (ISAF) aufwärmt, wurde drei Jahre nach dem Sturz des ersten Taliban-Regimes gegründet. Keystone / Altaf Qadri

Zwei ehemalige Spielerinnen der afghanischen Frauenfussball-Nationalmannschaft leben in der Schweiz, nachdem sie aus ihrem Heimatland geflohen sind. Im Gespräch mit swissinfo.ch berichten sie von ihren Hoffnungen und Ängsten für Kameradinnen, die zu Hause geblieben sind und unter der harten Herrschaft der Taliban leiden.

An einem kalten, stürmischen Märzabend verlässt ein Dutzend Männer in der Schweizer Hauptstadt Bern einen von Flutlicht beleuchteten Fussballplatz. Die Männer machen Platz für fünf junge Frauen in Trainingshosen und Sweatshirts.

In den nächsten zwei Stunden gehört das Spielfeld ihnen. Sie üben Kicken, Dribbeln und den Einwurf. Sie unterbrechen das Training nur, um einen Schluck Wasser zu trinken oder über eine verunglückte Abwehrsituation zu lachen.

Sahar läuft gut 40 Minuten lang, obwohl sie immer noch an einer Fussverletzung aus der Vorwoche laboriert. «Ich nehme Schmerzmittel», sagt sie mit einem Lächeln. «Fussball bedeutet für mich Freiheit und Bewegung, und ich liebe es, mich zu bewegen.»

Jeden Freitagabend kommt auch ihre ehemalige afghanische Nationalmannschafts-Kollegin Armisa zum Platz. Sie nimmt dafür eine zweieinhalbstündige Zugfahrt von ihrem Wohnort St. Gallen nach Bern auf sich. Gemeinsam bieten sie ein kostenloses Training für Frauen aller NationalitätenExterner Link an, in der Hoffnung, irgendwann eine Mannschaft zu bilden.

Obwohl sie noch nicht genügend Spielerinnen haben, freuen sie sich über die wöchentliche Gelegenheit, auf dem Rasen zu stehen. Die beiden Frauen – die aus Angst um die Sicherheit ihrer Verwandten in Afghanistan ihre echten Namen nicht nennen wollen – lernten sich vor rund zehn Jahren in Kabul kennen.

Kaum im Teenageralter, spielten sie für ihre jeweiligen Schulen Fussball, als sie von Talentsuchern entdeckt wurden. Diese konnten sie für die im Aufbau befindliche Frauen-Nationalmannschaft gewinnen.

Doch der Traum, für ihr Land zu spielen, war nur von kurzer Dauer. Vor sechs Jahren, als die Probleme mit den Taliban zunahmen, verliessen Sahar und ihre Familie Afghanistan. Ihre Teamkollegin folgte ein paar Jahre später.

«Ich wollte etwas für mein Land tun, aber es gab dort keinerlei Respekt für meine Träume», sagt Armisa. «Ich bin gegangen, um frei zu sein und Fussball spielen zu können.» Sie war noch keine 18 Jahre alt, als sie allein durch den Iran und die Türkei reiste. Dann verbrachte sie ein Jahr in Griechenland, bevor sie in die Schweiz kam.

Die Entschlossenheit der beiden jungen Frauen, Fussball zu spielen, hat sich noch verstärkt, seit die Taliban im August letzten Jahres in Afghanistan wieder an die Macht zurückgekehrt sind.

Mit dieser Machtergreifung war eine Einschränkung der Frauenrechte verbunden. Als Teil dieser Einschränkungen erliessen die neuen Herrscher ein Verbot für die Teilnahme von Frauen an sportlichen Aktivitäten.

Ihrer Meinung nach verstösst Frauensport gegen islamische Werte. Aus Angst vor Vergeltungsmassnahmen für ihre früheren Aktivitäten wollen daher viele Sportlerinnen, die noch im Land leben, unbedingt das Land verlassen.

Kurz nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul sandte die ehemalige Kapitänin der afghanischen Nationalmannschaft, Khalida Popal, eine dringende Warnung an die Spielerinnen im LandExterner Link und forderte sie auf, alle Beweise zu verbrennen, die aufzeigen könnten, dass sie jemals Fussball gespielt hätten. Popal war bereits 2011 aus ihrem Land geflohenExterner Link, nachdem sie Morddrohungen erhalten hatte.

Hart kämpfen, um zu spielen

Die Rückkehr der Taliban markierte das Ende von zwei Jahrzehnten an Fortschritten in Bezug auf die Frauenrechte. Es war ein langsamer und schmerzhafter Prozess gewesen, der nach dem Sturz des ersten Regimes im Jahr 2001 begonnen hatte.

Obwohl es Frauen endlich erlaubt war, Leistungssport zu treiben, waren sie stark gefährdet. Ihnen drohten körperliche Misshandlungen, ausserdem waren sie Todesdrohungen ausgesetzt. Es gab kaum gesellschaftliche Akzeptanz für ihre sportlichen Engagements.

Einige Fussballerinnen trauten sich nicht einmal, ihrer eigenen Familie zu sagen, dass sie für die Nationalmannschaft spielten. Das erzählt Sahar, die eineinhalb Jahre lang zum Kaderteam gehörte.

Armisa erhielt ihrerseits nie Unterstützung von ihrer Familie, mit Ausnahme von ihrer Mutter. «Mein älterer Bruder hat alles Mögliche versucht, um mich davon abzuhalten», sagt sie. «Am Anfang war es sehr schwer für mich, überhaupt mitspielen zu können.»

>> Video: Armisa und Sahar erzählen von ihrer Zeit als Fussballspielerinnen in Kabul:

Die jungen Frauen mussten nicht nur die ablehnende Haltung ihrer Familien ertragen, sondern wurden auf dem Weg zum und vom Trainingsplatz auch häufig belästigt. «Die Leute haben uns furchtbar beschimpft», sagt Armisa.

Für Frauen sei es auch schwierig gewesen, allein zu reisen, vor allem in Sportkleidung. Viele der Spielerinnen wurden auf der Strasse sexuell belästigt.

Doch die Belästigungen bestärkten die Frauen letztendlich in ihrem Entschluss, Fussball spielen zu wollen. «Wir wollten noch härter kämpfen – unsere Motivation stieg an», sagt die sanftmütige Afghanin.

Auch die Reisen zu Spielen im Ausland und die Begegnungen mit anderen jungen Frauen, die diesen Sport betreiben, seien eine Quelle der Inspiration gewesen, sagt Armisa.

Sie spielte während ihren drei Jahren in der Nationalmannschaft an Turnieren in Norwegen, Katar und Sri Lanka. Stolz zeigt sie eine Foto der Mannschaft in Norwegen, auf der sie mit Khalida Popal posiert, die jetzt in Dänemark lebt.

Die Rückkehr der Taliban hat sowohl Sahar als auch Armisa sehr verängstigt. Sie bangen um die in Afghanistan verbliebenen Spielerinnen und ihre Familienangehörigen.

«Als ich hörte, dass die Taliban die Macht übernommen haben, war ich völlig geschockt», sagt Armisa. «Ich habe – ehrlich gesagt – einen Monat lang geweint.» Ihre Mutter und ihre zwei Geschwister konnten über die Grenze nach Pakistan fliehen, aber drei andere Familienmitglieder versteckten sich bis vor kurzem noch in Kabul, darunter ihr Vater, der wegen seiner Arbeit für den afghanischen Geheimdienst Vergeltungsmassnahmen der Taliban befürchtet.

Diese Situation hat Armisa so sehr zugesetzt, dass sie sich bei der Arbeit kaum mehr konzentrieren konnte und Anfang dieses Jahres ihre Hauswirtschaftslehre abgebrochen hat.

Auch Sahar hadert mit den Ereignissen in ihrer Heimat: «In diesen 20 Jahren [zwischen 2001 und 2021] hat Afghanistan so viele Fortschritte gemacht – das ist jetzt alles kaputt und weg. Das ist sehr schmerzhaft für mich.»

Auf der Suche nach einem dauerhaften Zuhause

Die Spielergewerkschaften und politische Aktivisten, aber auch Popal befürchteten das Schlimmste und setzten sich für die Ausreise Dutzender Spielerinnen und ihrer Familienangehörigen ein. Viele konnten nach Australien, Portugal und in das Vereinigte Königreich fliehen.

Der Weltfussballverband Fifa organisierte im Oktober 2021 eine eigene Evakuierungsaktion mit Hilfe der Regierung von Katar. Insgesamt wurden zirka 140 Fussballspielerinnen, Funktionärinnen und Trainerinnen sowie 29 Basketballspielerinnen und ihre Familienangehörigen vorübergehend nach Albanien gebracht.

Damals erklärte die in Zürich ansässige Fifa in einer MitteilungExterner Link, die evakuierten Personen befänden sich «aufgrund ihrer Verbindungen zum Frauensport in Gefahr». In einem Bericht der Schweizerischen FlüchtlingshilfeExterner Link (SFH) vom Oktober 2021 heisst es, «dass Sportlerinnen unter dem neuen Regime besonders gefährdet sind.»

Die Taliban kämpfen seit ihrer Rückkehr an die Macht im August 2021 um die weltweite Anerkennung als rechtmässige Regierung Afghanistans. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat die Taliban aufgefordert, die Rechte von Frauen und Mädchen zu schützen.

«Jeder Mensch, das heisst auch Frauen und Mädchen, muss die Möglichkeit haben, Sport zu treiben», schreibt das Aussenministerium in einer E-Mail an swissinfo.ch und verweist auf das Engagement der Schweiz mit dem Zentrum für Sport und Menschenrechte (Centre for Sport and Human RightsExterner Link). Dieses Zentrum zeige auf, wie sich die Schweiz für dieses Ziel einsetzt.

Die Schweiz ist Gründungsmitglied des Zentrums, einer gemeinnützigen Organisation, die 2018 in Genf gegründet wurde, um die Achtung der Menschenrechte zu fördern, darunter auch die Teilnahme von Frauen und Mädchen am Sport.

Das Zentrum lehnte eine Anfrage für ein Interview ab, übermittelte aber per E-Mail eine Stellungnahme. Darin heisst es, «dass das Zentrum diskret hinter den Kulissen Kontakte zu Regierungen, Aktivisten, internationalen Sportverbänden und UNO-Organisationen vor Ort geknüpft hat, um eine sichere Ausreise für viele Sportlerinnen zu erreichen».

Wie viele andere internationale Sportverbände verlangt auch die Fifa von ihren Mitgliedstaaten, die eine Männer-Fussballnationalmannschaft haben, dass sie auch über ein Frauenteam verfügen müssen.

Die Fifa erklärt, «dass Diskriminierung im Fussball in jeglicher Form keinen Platz hat». Laut der jüngsten Fifa-RanglisteExterner Link hat Afghanistan weiterhin eine Männermannschaft (Rang 150). Das Frauenteam hingegen hat seit der Rückkehr der Taliban an die Macht kein einziges Länderspiel mehr bestritten.

Armisa und Sahar sind froh, dass sich einige Spielerinnen in den Ländern zusammenfinden und wieder trainieren konnten, in denen sie Asyl erhalten haben. Aber sie machen sich Sorgen um die Kolleginnen, die noch immer kein neues Zuhause haben.

Die von der Fifa evakuierten Frauen in Albanien sind zum Beispiel immer noch dort, obwohl der Verband gegenüber swissinfo.ch erklärte, dass er «in Kontakt mit verschiedenen Behörden und Organisationen (…) steht, um ihnen zu helfen, ein dauerhaftes Zuhause zu finden».

Sahar und Armisa sind der Meinung, dass die Länder in ihrer Umsiedlungspolitik grosszügiger sein sollten: «Diese Frauen sind auf der Suche nach einem sicheren Land, das sie aufnimmt. Es obliegt den Regierungen, ihre Grenzen zu öffnen und diesen Frauen eine neue Bleibe zu geben.»

Gemäss einem Sprecher des Staatssekretariats für MigrationExterner Link wurde die Schweiz nicht gebeten, die nach Albanien Evakuierten oder andere afghanische Sportlerinnen aufzunehmen, die vor den Taliban nach deren Machtergreifung geflohen seien.

Bisher hat die Eidgenossenschaft nur 38 Radsportlerinnen, Trainern und ihren Familienangehörigen auf Ersuchen des Weltradsportverbands (UCI) mit Sitz in der Schweiz bei der Organisation ihrer Evakuierung geholfen und ihnen einen Transitschein ausgestellt.

Nach Angaben von Armisa und Sahar sind viele Mitglieder der Nationalmannschaft in Afghanistan geblieben. Gemäss Mara Gubuan, Gründerin der Equality LeagueExterner Link, einer in den USA ansässigen Nichtregierungsorganisation, die sich für die Gleichstellung im Sport einsetzt, befinden sich immer noch über 100 Sportlerinnen im Land, die auf der Evakuierungsliste der Fifa standen. Es handle sich vor allem Basketball- und Fussballspielerinnen. Equality League hat bei den bereits erfolgten Evakuierungen mit der Fifa zusammenarbeitet.

Führungspersönlichkeiten von morgen

Gubuan hofft, dass die zu Hause gebliebenen und gefährdeten SportlerinnenExterner Link trotz der logistischen und administrativen Herausforderungen sowie Sicherheitsproblemen einen Ausweg finden werden. Aber sie fürchtet auch negative Auswirkungen auf die Gesellschaft, wenn alle Spitzensportlerinnen das Land verlassen.

«Es bricht einem das Herz», sagt Gubuan. «Der Sport trägt zur Entwicklung von Führungspersönlichkeiten in der Gesellschaft bei. Die Politik der Taliban wird Afghanistan also schwächen, indem sie die Frauen einschränkt.»

Armisa und Sahar streben danach, selbst im Exil zu diesen zukünftigen Führungskräften zu gehören. Sie haben Deutsch gelernt. Sahar absolviert eine Ausbildung im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie.

Indem sie jede Woche mit Hilfe der lokalen Flüchtlingshilfe-Organisation MazayExterner Link Fussball trainieren und ihre Leidenschaft für den Sport an andere Frauen weitergeben, können die beiden ihr eigenes Leben neu gestalten.

Sahar blickt auf den langen Weg zurück, den sie seit ihrer Flucht aus Afghanistan zurückgelegt hat. Sechs Jahre nach ihrer Ankunft in der Schweiz erhielt sie eine definitive Niederlassungsbewilligung. «Das war, als hätte ich ein zweites Leben bekommen», sagt sie.

Doch die ungewisse Zukunft der Frauen in ihrem Heimatland und in den Nachbarländern stellt für sie eine Belastung dar. Sie ist auch frustriert über die fehlende Reaktion der internationalen Gemeinschaft.

«Viele Frauen sind auf die Strasse gegangen und haben ihre Rechte eingefordert, aber niemand hat ihnen zugehört – niemand hat ihnen geholfen», sagt sie während des Gesprächs nach dem Training in einem Park unweit des Schweizer Parlamentsgebäudes.

Während unseres Gesprächs verfolgt eine grosse Menschenmenge auf dem Bundesplatz eine Videoansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Seit Beginn des Kriegs im Februar sind Zehntausende von ukrainischen Flüchtenden in die Schweiz gekommen und haben einen besonderen Schutzstatus erhaltenExterner Link.

Im Kontrast dazu steht die restriktive Politik der Schweizer Regierung in Bezug auf Flüchtende aus Afghanistan. Im vergangenen Jahr wurden nur etwa 300 geflüchtete Personen aus Afghanistan aufgenommen. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um einheimische Mitarbeitende der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und deren Angehörige. Für diese restriktive Politik wurde die Schweiz auch kritisiert.

«Ich hoffe, dass die Regierungen der Welt die Frauen in Afghanistan nicht vergessen», sagt Armisa, deren leise Stimme kaum zu hören ist, während die Kirchenglocken auf der anderen Strassenseite zu läuten beginnen.

(Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob)

(Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob)

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