Winterliche Familien-Erfolgsgeschichte in Zermatt
Während sich Zermatt auf eine weitere Saison vorbereitet, wird über die Richtung der weiteren Entwicklung des erfolgreichen Walliser Wintersportorts gerungen. Nicht wie in anderen Bergdestinationen ziehen hier aber einige Familien die Fäden, und nicht das Big Business.
Wer am Rande des Bergdorfs Zermatt spazieren geht, wird unweigerlich auf eines der Projekte treffen, die sich im Bau befinden. Zur Zeit unseres Besuchs werden gerade Luxuschalets an einem steilen Hang gebaut. Krane schwingen ihre Arme über die komplexe Grossbaustelle.
Entlang der Hauptstrasse durchs Dorf aber stehen die Hotels seit Jahrzehnten am selben Ort. Seit Generationen befinden sie sich in den Händen der gleichen Familien.
«Meine Eltern leben immer noch nebenan, sie kommen immer wieder vorbei, um zu sehen, ob alles rund läuft – meine Mutter kommt immer noch Gäste im Restaurant begrüssen», sagt Christine Hürlimann-Perren. «…und mein Cousin besitzt ein weiteres Hotel. Ah, und mein Bruder auch.»
Hürlimann-Perrens Wurzeln in Zermatt reichen 400 bis 500 Jahre zurück, und ihr Familienname hat immer noch eine bedeutende Präsenz im Dorf. Sie ist eine Nachkommin der sechsten Generation von Peter Taugwalder, dem jüngeren jener beiden Bergführer, die Edward Whymper und seine Klettergruppe im Juli 1865 zur Erstbesteigung des Matterhorns führten.
Auch ihr Grossvater war ein Bergführer, bis diesen ein Unfall auf andere Wege brachte. Er eröffnete ein Hotel.
Hürlimann-Perren leitet dieses Haus, das neben dem Bahnhof gelegene Hotel Alex, heute gemeinsam mit ihrem Mann. Wer der zentralen Bahnhofstrasse entlang geht, trifft auf Schritt und Tritt auf den Namen Perren, wie auch auf andere grosse Namen jahrhundertelang ansässiger Zermatter Familien.
Seien es Hotels, Bäckereien, Tearooms oder IT- und Haustechnik-Firmen – die Perrens, Biners und Julens sind bekannte Familien, die in jedem Aspekt des Dorflebens mitmischen.
Volksentscheide
Die vielen Familienbetriebe von Zermatt sind etwas ungewöhnlich für einen Wintersportort. Dieser Wesenszug des Dorfes hat zu einem Teil mit den Umständen seiner Entwicklung zu tun.
In den 1800er-Jahren hatten die Burger von Zermatt mehr Rechte als einfache Bürger, wenn es um Fragen ging wie etwa, wer die Alpen zum Halten von Kühen und zum Holzschlagen nutzen durfte. Mitglied dieser Burgergemeinde zu werden, war sehr schwierig, entschieden doch die Burger selber, wer zu ihnen gehören sollte und wer nicht. Das Ziel dieser Vereinigung war denn auch, ihre Mitglieder zu schützen.
Bis ein Möchtegern-Mitglied in ihren Reihen aufgenommen wurde, mussten grosse Geldsummen aufgewendet werden, damit ein Mitglied für sie Kühe sömmerte oder Holz schlug und sie mit Obst und Gemüse belieferte.
Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Touristen das Dorf aufsuchten, realisierten die Bauernfamilien, dass es nicht mehr ausreichte, die Zimmer in ihren Häusern zu vermieten.
Einige Burger taten sich zusammen und erbauten die ersten Hotels. Ein Nicht-Burger, Alexander Seiler, mischte ebenfalls mit. Auch wenn er als Aussenseiter grosse Hürden überwinden musste, wurde er zu einer Schlüsselfigur im Aufbau von Hotels und des Tourismus-Geschäfts.
«Ich denke, das ist ziemlich einmalig. Man muss weit suchen, um eine solch wichtige Tourismus-Destination zu finden, in der sich derart viele Hotels in Familienbesitz befinden», sagt Beat Truffer, der in Zermatt aufwuchs und später einige Bücher über dessen Geschichte schrieb.
Die Tatsache, dass sich alle Burger zu den politischen Geschäften des Dorfes äussern durften, bedeute auch, dass man Veränderungen sorgfältig geprüft habe. «Sie fürchteten sich ein wenig vor dem, was kommen sollte. Sie waren es nicht gewohnt, dass Fremde nach Zermatt kamen», so Truffer.
«Sie lebten von der Landwirtschaft. Es gab damals nichts in Zermatt: Keine Hotels, keine Infrastruktur – rein gar nichts. Deshalb war klar, dass diese Leute beim Aufbau von all dem dabei waren.» Aus Bergbauern wurden also Bergführer, oder sie arbeiteten in den Hotels.
«Etwa hundert Mitglieder meiner Familie leben immer noch in Zermatt… Wir sind eine riesige Familie, vermutlich die grösste im Dorf», sagt Andreas Biner, der in seinem Stuhl im Büro der Zermatter Burgergemeinde sitzt.
Seit 13 Jahren ist Biner Burgergemeinde-Präsident. Seine Familie habe Wurzeln in Zermatt, die 200 bis 300 Jahre zurücklägen. «Ich glaube, es gibt hier kaum jemand, der nicht im Tourismus tätig ist», sagt er, nachdem er die zahlreichen Hotels und Unternehmen aufgezählt hat, die von nahen und fernen Verwandten geführt werden: die Bäckerei Biner, die Biner Appartements, Biner IT Consulting, das Hotel Simi (von einem Biner geführt), usw.
Nach dem II. Weltkrieg bauten mehr Burger Hotels für Touristen. Und in vielen Fällen wie bei den Biners gehörten die Hotels und die Firmen, welche diese erbauten, der gleichen Familie.
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Begehrte Region und Familienunternehmen
Meinungsverschiedenheiten
Mit einem derart kleinen, aber prosperierenden Dorf in der Hand einiger weniger Familien sind jedoch Konkurrenz und Meinungsverschiedenheiten programmiert.
«Natürlich sind wir nicht immer beste Freunde, wir haben unterschiedliche Meinungen… Schliesslich akzeptieren wir die beste Lösung, doch bevor dieser Entscheid gefallen ist, gibt es eine Menge Diskussionen…», erzählt Biner.
Einige dieser Diskussionen drehen sich offensichtlich um die Zukunft Zermatts. In einem Raumordnungs-Konzept, das Anfang 2014 gutgeheissen wurde, sind 31 Einzelmassnahmen vorgesehen, mit denen das Feriendorf als Top-Tourismusdestination weiterentwickelt werden soll, während es ein attraktives Umfeld zum Leben und Arbeiten bleiben soll – zwei Positionen, die keineswegs einfach unter einen Hut zu bringen sind.
Im Oktober 2010 hatte Marc Scheurer, der damalige Marketingleiter von Zermatt Tourismus, im lokalen Magazin «Zermatt InsideExterner Link» auf sein erstes Jahr in diesem Job zurückgeblickt und in einem Brief an die Leserschaft geschrieben: «Wir sind für Sie da – und arbeiten für und nicht gegen Sie.»
Bezogen auf die Herausforderung, die Gegend zu entwickeln, während das Wesen einer Gemeinde erhalten bleiben soll, fragte er: «Sind wir heute bereit, unsere eher egoistische und oft negative Denkweise zu hinterfragen und mit positivem Elan unsere Zukunft anzupacken?»
Entgegen seinen Erwartungen habe er die meiste Zeit damit verbracht, «dorfinterne Kommunikation und Kooperation» statt «Information und Promotion» zu betreiben.
«Für mich sind mehr Häuser nicht etwas sehr, sehr Negatives», sagt Heinz Julen. «Werden mehr Häuser gebaut, bedeutet das, dass es ein Ort ist, in dem sich mehr Menschen aufhalten wollen.»
Der Künstler und Besitzer des durch und durch trendigen Backstage-Hotels führt uns entspannt durch seine durchgestylte Penthouse-Suite. Während Julen seinen Respekt für die Geschichte und die Religion beteuert, argumentiert er, Zermatt müsse mehr unternehmen, um in einem anhaltenden Kampf um neue Unternehmen an der Spitze zu bleiben.
«Mit meinen Projekten bringe ich etwas auf den Markt, und die Leute reden darüber. Andere Hotels, die in den 1970er-Jahren erbaut wurden, müssen ebenfalls etwas unternehmen, damit sie nicht untergehen. Sie müssen reagieren.»
Doch einige fürchteten sich davor, zu reagieren, «sowohl finanziell wie auch kreativ», ergänzt er. Seine Projekte waren bei der Baukommission nicht immer beliebt, doch er schaffte es, dass sie gebaut werden konnten. Seine Meinung kollidiere oft mit jener der eher traditionell denkenden Hoteliers in der Gemeinde, wie auch mit der lokalen Baukommission, sagt er.
Für Hürlimann-Perren im Hotel Alex ist es wichtig, «zeitgemäss» zu bleiben. Doch ihre Prioritäten setzt sie lieber auf Gastfreundschaft und einen persönlichen Service. «Es herrscht ein Wettbewerb… Man muss sich um jeden Gast kümmern. Unsere Gäste kommen, umarmen mich und sagen: ‹Wir sind wieder daheim!›.»
Bausteine
Die Herausforderung, das perfekte Image eines von Familien geführten Schweizer Dorfes aufrecht zu erhalten, trifft am 14. Juli 2015 auf die Feierlichkeiten des 150-Jahr-Jubiläums der Erstbesteigung des MatterhornsExterner Link. Ein Ereignis, das damals die Weltöffentlichkeit erstmals auf das Dorf aufmerksam machte.
«Es ist wichtig, dass wir authentisch bleiben, damit die Leute hier das Gefühl haben, sie seien in einem Bergdorf und nicht in einer Stadt», sagt Andreas Biner. «Wir müssen uns bei der Qualität verbessern und sollten die Quantität stoppen. Wir sind jetzt gross genug.»
Die Übernachtungen in den Alpenregionen der Schweiz nehmen seit einigen Jahren ab und fallen dramatisch ab von den Gewinnen der Hotellerie in den Schweizer Städten. Deshalb ist dieses Thema eine Schlüsseldebatte.
Worüber sich aber alle Einwohnerinnen und Einwohner einig sind, ob Burger oder nicht, ist die Tatsache, dass das 150-Jahr-Jubiläum 2015 eine grosse Sache wird, und möglicherweise auch viel Geld anziehen kann. Falls es dem Dorf gelingt, das Gleichgewicht zwischen dem Gefühl eines Familienbetriebs und einem weltweit erfolgreichen Ferienort zu halten.
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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