«Wir Jenische sind vollwertige Schweizer»
Die fahrenden Jenischen fühlen sich in ihrer Lebensweise immer mehr eingeschränkt, obwohl sie seit dem Mittelalter in der Schweiz leben und offiziell als nationale Minderheit anerkannt sind. Reportage von einem Standplatz in der Romandie.
Yvonand in der Waadt: Rund einen Kilometer vom Dorf entfernt, nach einem Wald und einer kleinen Brücke, öffnet sich ein kleines Tal unter dem Strassen-Viadukt der Autobahn A6.Hier liegt der Standplatz der Jenischen. Er umfasst etwa 1000 Quadratmeter mitten in der Natur.
Ein halbes Dutzend Wohnwagen sind zu sehen, ein Mobil-Home und einige Autos. Ein Hund gibt an. Bettwäsche flattert im Wind unter der Sonne, weit verstreut liegen Spielsachen herum. Vor jedem Wohnwagen Stühle, ein Tisch und grosse Trinkwasserbehälter. Zwar fliesst in der Nähe ein Fluss, aber am Standplatz selbst gibt es weder fliessendes Wasser noch Abfallbehälter.
Es ist acht Uhr dreissig am Vormittag. Olivier David von der Gemeinde und ein Standplatz-Verantwortlicher finden sich pünktlich zum Treffen ein. Dabei ist auch Sylvie, 42, Vorsitzende der Vereinigung Jenisch Schweiz.
Platz hätte es für zehn Familien, doch nur drei sind gegenwärtig hier – denn die Sommersaison geht zu Ende. Patrick und Nicole, beide Cousins von Sylvie, sind mit Nicoles Eltern unterwegs. Die beiden erwachsenen Kinder wohnen in der Gegend – aber sesshaft. Die zwei anderen Familien leben ebenfalls in je einem Wohnwagen, einem für die Eltern und einem für die Kinder – ein Baby, zwei kleine Jungs und zwei Teenager.
Die Männer sind zur Arbeit weggegangen. Patrick seinerseits nimmt einen Termin mit der Behörde wahr. Er arbeitet als Hausierer und möchte eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, die ursprünglich auf zehn Tage angesetzt wurde. «Das ist zu kurz, ich konnte noch nicht alle Kunden besuchen.» Auf der Gemeinde verlängert man ihm die Bewilligung – Platz habe es ja genug.
Freundlicher Meinungsaustausch
Patrick nutzt die Gelegenheit vor den Gemeindevertretern und beklagt sich, das Eingangsrampe zum Standplatz störe ihn: Rot-weiss gestrichen wie ein Bahnübergang und mit einem Querbalken auf 2,5 Metern Höhe: «Man kann mit den Wohnwagen weder raus noch rein. Um uns die Rampe öffnen zu lassen, müssen wir in der Gemeinde vorsprechen, aber dort arbeitet übers Wochenende niemand.» Er fühle sich eingesperrt. Und ausserdem fahre er oft gerade übers Wochenende weiter.
Die Antwort der Gemeinde ist klar: «Es gab vor einigen Jahren Probleme beim Einziehen der Gebühren», sagt Olivier David. «Es kam vor, dass Hunde vor einer verschlossenen Türe wachten, dass die Wohnwagen kamen und gingen, ohne dass wir informiert wurden, und dass die Abfälle liegenblieben.»
Deshalb habe man 2003 entschieden, dass die Fahrenden sich bei der Gemeinde anzumelden und ein Depot zu leisten hätten. Mit dem Tor lasse sich der Verkehr nun regeln. Und was das Wochenende betreffe, brauche man nur anzufragen, und das Tor werde geöffnet.
Olivier David fügt noch bei, dass die Gemeinde mit Patricks Familie nie Probleme gehabt habe. «Es ist bedauerlich, dass Patricks Familie jetzt ausbaden muss, was andere Leute eingebrockt haben, weil diese sich nicht an die Regeln halten.»
Gibt es denn Schwierigkeiten mit den grossen Sinti- oder Roma-Konvois, die jüngst im Wallis Probleme bereitet haben? David verneint: «Unser Platz ist klein und wir sind zu weit entfernt von der Autobahn. Die Roma halten sich an die grossen Verkehrsachsen.»
Alte Stehplätze verschwinden
Nach dem Termin mit den Behörden geht Patrick an die Arbeit. «Ich gehe von Tür zu Tür, schleife oder verkaufe Scheren und Messer, was sich eben ergibt.» Nicole bringt Kaffee. Das Gespräch geht mit Sylvie weiter, in ihrer Rolle als Sprecherin der Jenischen.
«Als meine Grosseltern noch lebten, nutzten wir diesen Stehplatz oft. Damals brauchte es keine Anmeldung, wir machten das unter uns aus», so Sylvie. Früher habe es in jeder Gemeinde der Region einen Standplatz für Jenische gegeben. Heute sei der Platz in Yvonand einer der wenigen verbliebenen, und es werde schwieriger, in der Westschweiz überhaupt noch welche zu finden.
Viele alte Standplätze seien mit der Zeit umgewandeltworden, in Camping- oder Hundedressur-Plätze. Fahrende würden nicht mehr zugelassen. «Auf den offiziell verbliebenen Standplätzen werden wir gelegentlich aufgefordert, Ausländern den Vorrang zu geben – was kränkend wirkt, da wir ja Schweizer Bürger sind», sagt Sylvie.
Der Platz in Yvonand sei nicht perfekt, aber ruhig und im Grünen gelegen, was den Bedürfnissen der Jenischen entspreche. «Jenische wollen nicht neben Autobahnen platziert werden und fahren in kleinen Gruppen. Wir bräuchten noch zehn Plätze wie diesen hier, aber wir arrangieren uns, telefonieren herum, um uns zu organisieren und finden dann immer etwas», so Sylvie.
Sie bedauert auch, dass immer mehr Landwirte davon absehen, Standplätze an Jenische zu vermieten, weil sie von ihren Nachbarn dazu gedrängt werden. «Glücklicherweise ist die Situation in der Deutschschweiz weniger angespannt. Wir verbringen deshalb dort einen Teil unserer Saison.»
Das Problem sei das Wasser, so Sylvie. «Wir zahlen hier 10 Franken pro Tag, aber das Wasser müssen wir beim Friedhof holen. Einige Gemeinden verbieten uns sogar den Zugang und behandeln uns wie Diebe. Um Wasser zu sparen, verschwinden auch die öffentlichen Brunnen.» Das sei ja wohl der Gipfel – zum gleichen Zeitpunkt, wo andere in der Schweiz für Bewohner der Dritten Welt das Recht auf Wasser verlangten.
Misstrauen und Verschwiegenheit
Zur Sorge trägt auch das schlechte Image bei, das die Jenischen verfolgt, die Zunahme der Intoleranz gegenüber Minderheiten und Ausländer sowie die Angst vor ihnen. «Oft werden wir beschimpft, es wird auf uns geschossen, oder Skinheads attackieren uns», erzählt Sylvie. Dazu komme der Neid: «Das erste, was man uns fragt, ist: ‹Wie habt ihr eure Fahrzeuge bezahlt?› Aber das ist ja das Einzige, das wir besitzen.»
Aus Tradition misstrauen die Jenischen den Behörden. Besonders in der Folge der vom Bund erzwungenen Sesshaftmachung zwischen 1926 und 1973, als gegen die Landstreicherei eingeschritten wurde. «Wir müssen in den Kontakten mit Behörden und Staat das Vertrauen wieder herstellen, das stark beeinträchtigt wurde. Wir haben Schwierigkeiten, unsere Kinder der Schule anzuvertrauen. Ich selbst bin nach der 5. Primarklasse weggelaufen, weil ich misshandelt wurde.»
Die Fahrenden unterhalten in ihrer Arbeit als Hausierer regelmässige Beziehungen mit ihrer Kundschaft, bleiben dabei aber diskret. «Die Leute wissen nicht, wer wir sind, solange wir es ihnen nicht sagen. Man sieht das ja nicht, denn wir sehen aus wie alle anderen.»
Die «fünfte Bevölkerung der Schweiz» bleibe jedenfalls ihrer Lebensart stark verbunden, so die Präsidentin der Vereinigung Jenisch Schweiz: «Die Familienbande bleiben stark, auch bei jenen, die sesshaft geworden sind. Jeder kann das Fahren wieder aufnehmen. Das Schwierigste ist die Wahl zwischen unserer Lebensweise und unserer Arbeit. Doch wenn die Schwalben im Frühling auftauchen, dann ist jeweils auch für uns die Zeit gekommen, abzureisen.»
Doch jetzt steht der Herbst vor der Tür. Nachdem Patrick, Nicole und ihre Eltern seit März auf Achse sind, werden sie bald wieder in ihr Winterquartier einziehen – in eine Wohnung in Cudrefin am Neuenburgersee.
Eine Gruppe von Fahrenden, die seit dem Mittelalter in Österreich, Deutschland, Frankreich und der Schweiz leben. Die rund 100’000 Personen sprechen eine eigene Sprache. Das Jenische ist ein vom Jiddischen abgeleitetes Idiom, das je nach Region und Familien variiert.
In der Schweiz sind 90% der Fahrenden Jenische. Unter den 30’000 Personen leben zwischen 3000 und 5000 teilweise fahrend. Sie leben in Familienclans mit bis zu 20 Personen in maximal 6-8 Wohnwagen.
Seit 1998 sind sie durch die Europarats-Konvention für nationale Minderheiten geschützt. Sie sind Schweizer Staatsangehörige.
Ihre Papiere haben sie in jener Gemeinde, in der sie überwintern und wo die Kinder die Schule besuchen. Im Sommer, wenn sie auf Achse sind, müssen die Kinder den Schulstoff unter Kontrolle von Eltern und Privatlehrern erarbeiten.
Die Schweiz hat versucht, die Jenischen sesshaft zu machen. Zwischen 1926 und 1973 wurden mehr als 600 Kinder von einem Hilfswerk der Stiftung Pro Juventute und von Vormundschaftsbehörden den Eltern weggenommen (Operation «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse»).
Der Bund,Fürsorgestellen, Lehrer, Pfarrer und gemeinnützige Einrichtungen unterstützten die Operation.
Viele wurden Bauernfamilien als Verdingkinder zugeteilt, Misshandlungen blieben nicht aus.
Auf öffentlichen Druck hin wurde die Operation 1973 eingestellt.
1987 entschuldigt sich der Bundesrat. Eine Stiftung soll die Zukunft der Fahrenden, ihre Lebensbedingungen und -weise in der Schweiz sichern.
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)
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