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«Weg vom Männlichkeitsideal der Selbst- und Fremd-Ausbeutung»

Frauenstreik
Frauen und Männer trafen sich auf dem Helvetiaplatz anlässlich des Frauenstreiks in der ganzen Schweiz, am Freitag, 14. Juni 2019, in Zürich. Der diesjährige Frauenstreik markiert 50 Jahre Frauenstimmrecht und das 30-Jahr-Jubiläum des Frauenstreiks von 1991 in der Schweiz. Damals beteiligten sich Hunderttausende Frauen an Protestaktionen. © Keystone / Melanie Duchene

Markus Theunert vertritt mit seiner Organisation männer.ch die "progressiven Männer in der Schweiz". Der erklärte Pro-Feminist im Interview über den Frauenstreik und warum er die Idee bezahlter Care-Arbeit entschieden ablehnt.

Am 14. Juni streiken die Frauen. Wenn Sie mit Ihrer Männerorganisation auch einen Streik ausrufen könnten, was wären ihre Forderungen?

Eine spannende Frage: Werden wir je einen Männerstreik erleben? Ich finde die Idee reizvoll, dass wir einmal auf der Strasse zeigen, dass auch immer mehr Männer das Patriarchat nicht mehr mittragen, nicht nur weil es sich gegen Frauen und Kinder richtet, auch weil es sich gegen die Männer richtet. Ich muss aber zur Klärung sagen: Ich vertrete die Minderheit der progressiven Männer in der Schweiz, nicht alle Männer.

Wenn Sie progressiv sagen, ist ihre Organisation auch eine Anlaufstelle für andere Transpersonen?

Wir sehen uns als Dachorganisation der profeministischen, emanzipatorischen Männerbewegung. Unser Anspruch ist es, Mainstream-Männern Brücken in eine geschlechtergerechte Zukunft zu bauen. Unsere Botschaft ist: Die Zeit, da man als Mann noch meinen konnte, die Entwicklung lasse sich aussitzen, ist vorbei.

Markus Theunert
Markus Theunert ist Gesamtleiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen. swissinfo.ch

Die Männer, gerade jene, die eigentlich offen, aber wenig reflektiert sind, müssen sich selbst ermächtigen, um zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft beizutragen – auch ganz handfest, etwa indem sie ihre Hälfte der unbezahlten Arbeit übernehmen.

Wenn Männer zu Agenten des Wandels werden, kommen wir der Gleichstellung viel schneller näher als «nur» mit Frauenförderung. Als Organisation sind wir Teil einer grösseren Allianz, die für eine Gleichberechtigung aller Geschlechter kämpft. Aber die LGBTQI-Szene ist nicht unsere Basis.ZAuch Männer kommen als Menschen zur Welt – und werden erst zu Männern gemacht.

Aber ist das nicht ein Widerspruch: Einerseits setzen Sie sich gegen normative Männlichkeitsbilder ein, andererseits propagieren Sie selbst eine Norm?

Unser Fernziel ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen unabhängig ihres Geschlechts dieselben Chancen haben. Die Frage ist, wie kommen wir da hin. Wir müssen doch ernst nehmen, dass sich sich die meisten Männer als Männer wahrnehmen, und das auch nicht ändern wollen. Wir müssen ihnen ein Angebot machen, das attraktiv ist, damit sie sich auf den Weg einlassen. Auch Männer kommen als Menschen zur Welt – und werden erst zu Männern gemacht. Wir machen insofern nur etwas rückgängig.

Sie haben vorhin gesagt, dass Männer unter dem Patriarchat leiden. Warum gehen sie dann nicht auf die Strasse?

Weil das Leiden in der Männerrolle nicht vorgesehen ist.

Vielleicht ist das Leiden nicht gross genug?

Oder die Angst ist noch grösser? Für Männer ist es existenziell wichtig, Männlichkeitsanforderungen zu erfüllen. Dazu gehört es, sein Leben und seine Gefühle immer im Griff zu haben. Das führt in ein Dilemma: Männer, die an Männlichkeitsanforderungen leiden, tun das entweder still vor sich hin. Oder sie reden über ihr Unbehagen, dann sind sie aber keine „richtigen“ Männer mehr.

«Die Transformation der Gesellschaft lässt sich weder ohne Männer noch ohne Befreiung von unseren krank machenden Männlichkeitsidealen umsetzen.»

Dreht diese Argumentation nicht das Verhältnis von Opfer und Täter um, wie Feministinnen Ihnen vorhalten? Die Männer, die die Fäden in der Hand halten, werden von der Pflicht befreit, irgendwas zu ändern?

Im Gegenteil. Es geht darum, dass wir diese mächtigen Männer konfrontieren und klar sagen, wir wollen das althergebrachte System nicht mehr. Wir wollen unsere strukturellen Privilegien nicht mehr. Es ist offensichtlich: Wir müssen als Gesellschaft weg von einem Männlichkeitsideal, das Selbst- und Fremdausbeutung normal erscheinen lässt, hin zum Bild einer nachhaltigen, sorgsamen Männlichkeit. Das ist ein zwingender Schritt, auch klimapolitisch, wenn wir das Jahr 2050 in Frieden und Wohlstand erleben wollen. Die Transformation der Gesellschaft lässt sich weder ohne Männer noch ohne Befreiung von unseren krank machenden Männlichkeitsidealen umsetzen.

Trotzdem ist die Geschlechterpolitik nach wie vor stark polarisiert, wie können Feministinnen und progressive Männerorganisationen zusammenarbeiten?

Die Erfahrung, die wir machen, ist eine andere. Männer.ch wurde 2005 gegründet. Damals war das Misstrauen viel grösser, wenn sich Männer für Gender-Equality engagierten. Seither hat sich viel entwickelt, auch bezogen auf die Einstellung, dass die Gender-Politik ein gemeinsames Anliegen ist.

Ihre Forderung nach einer gleichberechtigten Teilung der Familienarbeit greift tief in die Lebensführung ein. Ist das nicht Privatsache?

Selbstverständlich ist das Privatsache. Hochpolitisch ist aber die Frage, ob diese private Entscheidung wirklich eine freie Wahl zwischen gleichwertigen Alternativen ist. Wir wollen keine Diktatur. Sondern echte Wahlfreiheit. Und die gibt es heute nicht. Wenn ein Mann 20 Prozent mehr verdient als eine Frau, dann ist es eine hochgradig beeinflusste Wahl, wer mehr Erwerbsarbeit leistet. Da gibt es zahlreiche politische Baustellen. Wir wissen heute nicht, ob sich nichts ändert, weil die Leute nicht wollen oder weil sie keine freie Wahl haben.

«Elternzeit, Steuern und Vorsorge, familienexterne Kinderbetreuung sind die dringendesten Baustellen.»

Was sind die dringendsten Baustellen?

Elternzeit, Steuern und Vorsorge, familienexterne Kinderbetreuung. Das sind die Top 3. Bis im letzten Herbst hatten wir beim Urlaub der Eltern ein Verhältnis von 14 zu 0 Wochen. Jetzt von 14 zu 2. Es braucht eine weitere Angleichung, eine Elternzeit, auch damit das Ausfallrisiko für Unternehmen bei der Anstellung eines jungen Mannes gleich gross ist wie bei einer jungen Frau.

Dann brauchen wir die Individualbesteuerung und die Altersvorsorge muss sich am Leitbild einer Solidargemeinschaft orientieren, in der sich beide Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung teilen. Wir müssen dabei viel stärker in Lebenszeitmodellen denken. Und letztlich ist die familienexterne Kinderbetreuung zwar gut, aber sie muss finanziell stärker entlastet werden.

Immer lauter wird die Forderung nach einer Entschädigung der Care-Arbeit, die aber auch unter Feministinnen umstritten ist. Tragen Sie die Idee mit?

Nein, für uns ist diese Forderung Ausdruck einer Resignation, davon, dass man das Ziel aufgegeben hat, die unbezahlte Arbeit fair zwischen den Geschlechtern zu teilen. Damit beseitigt man bestehende Ungleichheiten nicht. Man macht sie bloss leichter erträglich.

Wenn die Rahmenbedingungen nicht fair sind, warum haben Sie das kürzlich gefällte Bundesgerichtsurteil verteidigt, das die Unterhaltspflichten nach einer Scheidung reduziert, was vor allem Frauen betrifft, die ihr Leben lang für Familie und Kinder gesorgt haben.

Das Bundesamt für Statistik hat gerade neue Zahlen veröffentlicht. Demnach gibt es in der Schweiz massiv Bewegung auf Männerseite, im Jahr 2020 investierten Väter von Kindern zwischen 1 und 15 Jahren 17,0 Stunden pro Woche, gegenüber 30,2 Stunden bei Müttern. (Für Hausarbeiten wendeten Mütter mit Partner und jüngstem Kind unter 15 Jahren aber immer noch fast doppelt so viel Zeit auf wie die Väter 30,2 Std. gegenüber 17,0 Std. pro Woche im Jahr 2020. Quelle: bfsExterner Link, die Red.)

Das ist zwar immer noch eine bedeutende Ungleichverteilung, aber definitiv keine Basis, um die Rechtsprechung im traditionellen 100-zu-0-Denken zu halten. Natürlich gibt es jetzt in der Übergangszeit Härtefälle, aber deshalb keine Veränderung zuzulassen, wäre verkehrt. Wir können auch nicht Kohlekraftwerke weiterbetreiben, bloss weil ihre Abschaltung Jobs kostet.

Sie sprechen von verschiedenen Männlichkeitsbildern. Befinden wir uns in einer Übergangsphase, wie sieht Männlichkeit in Zukunft aus?

Es gibt im Moment eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Persistenz und Wandel. Die Rollenbilder sind zwar in Bewegung. Aber letztlich ändern sie sich nicht im Kern, sondern erweitern sich nur. In der Werbung sieht man es am deutlichsten. Die Männer sind muskulöser denn je, aber sie müssen heute gleichzeitig auch sozial kompetente, einfühlsame Familienväter sein. Das Problem ist, dass das nicht alles gleichzeitig möglich ist. Toxische Männlichkeit und nachhaltige Männlichkeit geht einfach nicht zusammen

Eine Tatsache ist auch, dass mit traditionellen Männlichkeitsbildern erfolgreich Politik gemacht wird und politische Auseinandersetzungen auf Ebene der Geschlechter ausgetragen werden. Identitätspolitik ist für viele rechtskonservative Parteien ein Erfolgsrezept, warum eigentlich?

Die rechtspopulistische Welle kann im Kern als Folge bedrohter Männlichkeit gelesen werden – es geht hier um unsichere Männer, die sich in ihrem Selbstverständnis angegriffen fühlen. Es ist eine entwicklungsoffene Frage, was sich politisch durchsetzt. Das Leitbild des selbstzerstörerischen Mannes? Oder das Leitbild des solidarischen, liebevollen Mannes.

Erkennen Sie, dass die Junge Generation ein anderes Verständnis von Geschlechtern hat?

Ja und nein. Ja insofern, als sie sich mehr Freiheiten nimmt, sich jenseits der Binarität Mann/Frau zu entwickeln und zu präsentieren. Gleichzeitig sind alte Männlichkeitsanforderungen weiterhin da, etwa die Leistungsnorm, betreffen aber zunehmend auch Frauen. Zugespitzt könnte man sagen: Frauen imitieren Männlichkeitsvorstellungen. Für die einzelne Frau mag das ein emanzipatorischer Fortschritt sein. Aber die Gesellschaft macht keinen Fortschritt, wenn sich auch Frauen so selbst- und fremdausbeuterisch verhalten wie das bislang Männern vorbehalten war.

Wo kann denn ein nachhaltiger Wandel stattfinden? Oder anders gefragt: Wer hat der Festschreibung traditioneller Rollenmodelle etwas entgegen zu halten? Ist das die Politik, die Kultur – sind es Organisationen wir Ihre?

Alle zusammen. Das funktioniert aber nur, wenn diese Arbeit institutionell verankert ist. Was es brauchen würde, wären vor allem auch Investitionen in die schulische Bubenarbeit. Wer wählt denn diese rechtspopulistischen Parteien, zu 60 oder 70 Prozent sind es Männer – überproportional Männer, die tatsächlich wenig Perspektiven haben. Sie fühlen sich betrogen um das Versprechen der patriarchalen Gesellschaft: Wenn du fleissig bist, geht es Dir gut und du hast eine Frau. Wir müssen mit diesen Männern so arbeiten, dass sie ihre Wut fruchtbar machen können.

Wie stellen sie sich das vor?

Männerarbeit gehört in die psychosoziale Grundversorgung. Wenn es in jedem Kanton Schulden- und Gewaltberatungsstellen gibt, scheint es mir nicht zu viel verlangt, ein Handvoll regionaler Fachstellen für Jungen-, Männer- und Väterarbeit zu fordern. In der Schweiz müsste man rund 10 Millionen Franken ausgeben, um das flächendeckend anbieten zu können. Das ist eine vergleichsweise geringe Investition.

(*1973) ist Gesamtleiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen (www.maenner.chExterner Link). In dieser Funktion leitet er auch das nationale Programm MenCare Schweiz. Er lebt mit seiner Familie in der Stadt Zürich. Seine Partnerin und er arbeiten beide 80 Prozent.

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