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«Wir sind nicht machtlos» – wie eine Frau von Basel aus die Ukraine unterstützt

Helen Ramscar in ihrem Büro
Helen Ramscar stammt aus Nordirland und lebt in Basel: Von Ambulanz-Fahrzeugen verstand sie nichts, bevor sie ihre Hilfsinitiative für die Ukraine lancierte. © Thomas Kern/swissinfo.ch

Der Krieg in der Ukraine hat auch in der Schweiz eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Helen Ramscar aus Basel sammelte mit einer Privatinitiative so viel Geld, dass sie mehrere Ambulanzfahrzeuge kaufen und in die Ukraine schicken konnte.

Es war der 9. März 2022. Helen Ramscar verfolgte im Fernsehen einen Bericht über einen verheerenden Angriff auf die ukrainische Küstenstadt Mariupol. Während sie selbst ihre fünf Monate alte Tochter stillte, sah sie am Fernsehen die Szene mit einer hochschwangeren Frau – ihr Name war Irina Kalinina –, die nach der Attacke auf eine Geburtsklinik schwer verletzt auf einer Bahre durch die Kriegstrümmer getragen wurde. Die Bilder wühlten sie auf und hinterliessen einen bleibenden Eindruck.

«Ich sah immer wieder diese hochschwangere Frau vor mir – ich konnte mir ihr ungeborenes Baby vorstellen», erzählt Helen Ramscar. Irina Kalinina und ihr Baby starben später.

Irina Kalinina auf einer Bahre vor dem Entbindungskrankenhaus in Mariupol März 2022
Irina Kalinina wurde bei einem Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol am 9. März 202 schwer verletzt. Sie verstarb später, genauso wie ihr Kind. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved

«Es war einfach nur schrecklich – ich dachte an diese Frau und daran, was sie in diesem Moment gebraucht hätte», fügt Ramscar hinzu. So entstand die die Idee, einen Ambulanzwagen in die Ukraine zu schicken.

Innerhalb weniger Tage lancierte die 40-Jährige online einen Appell unter dem Namen Ambulance ReliefExterner Link. Ursprünglich war ihr Ziel, einen einzigen Rettungswagen zu organisieren und in die Ukraine zu schicken. Fünfzehn Monate später hatte Ramscar fast 110’000 Franken gesammelt und nicht nur mehrere Ambulanzfahrzeuge erworben, sondern auch weiteres medizinisches Gerät.

Dieses Material hat sie dem angeschlagenen ukrainischen Gesundheitswesen gespendet, das die russischen Streitkräfte absichtlich immer wieder ins Visier nehmen. Bis Ende 2022 wurden über 700 russische Angriffe auf GesundheitseinrichtungenExterner Link verzeichnet, darunter 65 auf Ambulanzen.

«Wir verlieren fast jeden Tag nicht nur Menschenleben, sondern auch technisches Know-how und Material», sagt Artem Rybchenko, der ehemalige ukrainische Botschafter in der Schweiz, gegenüber SWI swissinfo.ch. Dies erklärte er genau einen Tag, nachdem ein Spital, das Ausrüstung von Ambulance Relief erhalten hatte, von einer Rakete getroffen wurde.

«Grosszügige Gesten wie diejenigen von Helen Ramscar geben den Ukrainer:innen ein Gefühl der Solidarität – sie fühlen sich mit ihren Problemen weniger allein», ergänzt er. Die Schweizer:innen waren generell grosszügig. Sofort nach Ausbruch des Krieges haben sie ihre Häuser für ukrainische Flüchtlinge geöffnet. Die Spendensammelorganisation GlücksketteExterner Link sammelte über 130 Millionen Franken an Spendengeldern für Hilfe in der Ukraine. Die Glückskette arbeitet logistisch eng mit der Schweizerischen Radio- und FernsehgesellschaftExterner Link (SRG SSR) zusammen, zu der auch SWI swissinfo.ch gehört.

Gebrauchtes Ambulanzfahrzeug gefunden

Die aus Nordirland stammende Helen Ramscar hatte keinerlei Erfahrung mit Ambulanz-Fahrzeugen. 2019 war sie mit ihrer Familie in die Schweiz gekommen – in den vergangenen Jahren hat sie Bücher über die britische Sicherheitspolitik geschrieben und zuvor im Privatbüro des ehemaligen Prinzen von Wales, dem heutigen König Charles III., gearbeitet.

Ramscar wusste einfach, dass sie helfen wollte. Zusammen mit anderen Eltern an der Schule ihrer Kinder hatte sie bereits Medikamente und Erste-Hilfe-Material für die Ukraine gesammelt. Am Tag des Angriffs auf Mariupol klappte sie ihren Laptop auf und gab drei Wörter in eine Suchmaschine ein: «Kaufen – Ambulanz – Schweiz».

Schliesslich fand sie eine Garage im Kanton Solothurn, die Occasions-Ambulanzen verkauft. ACT Special Car CenterExterner Link empfahl ihr einen Mercedes Diesel Sprinter, da Ersatzteile für dieses Modell in Osteuropa leichter erhältlich seien. Sie boten auch an, das Ambulanz-Fahrzeug in die ukrainische Botschaft nach Bern zu überführen.

Ramscar setzte sich mit der Botschaft in Verbindung, die sich dann um die administrativen Angelegenheiten kümmern sollte: Versicherung des Fahrzeugs, technische Inspektion und Ausfuhrverfahren sowie die Überführung des Krankenwagens an seinen endgültigen Bestimmungsort in der Ukraine, den die Botschaft nach Bedarf selbst auswählen sollte.

Herzklopfen bei der Übergabe

Nachdem diese Dinge geklärt waren, erstellte Ramscar eine Spendenwebseite und startete einen Aufruf auf Facebook. Schon bald unterstützten Freunde, aber auch Unbekannte ihr Vorhaben. Spenden kamen von dem Mitgliedern der Internationalen Schule BaselExterner Link, die Ramscars zwei ältere Kinder besuchen, doch auch von Menschen aus der ganzen Schweiz und dem Ausland.

Innerhalb von nur zwei Wochen hatte Ramscar bereits genug Geld gesammelt (zirka 18’000 Franken), um den Occasions-Ambulanzwagen zu kaufen und die nötigen Reparaturen ausführen zu lassen, damit das Fahrzeug in einem tadellosen Zustand überführt werden konnte.

Dann kam die Stunde der Wahrheit: Am 23. März 2022 wartete Ramscar gespannt vor der ukrainischen Botschaft. Um 11 Uhr sollte die Garage das Fahrzeug abliefern. «Kurz vorher hatte ich kein gutes Gefühl. Ich hatte Erwartungen um mich herum geweckt. Was werde ich tun, wenn die Ambulanz nicht kommt?» erinnert sich Ramscar. «Ich stand da, meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich konnte meinen Puls und meine Schläfen pochen hören.»

Doch dann kam ein unvergesslicher Moment. «Es war einfach unglaublich, als das Fahrzeug um die Ecke fuhr», sagt sie. «Dass Menschen, die sich noch nie getroffen haben, auf so intelligente und freundliche Weise zusammenwirken konnten, um in einer Entfernung von Tausenden von Kilometern etwas gemeinsam zu bewirken – das war wirklich aufregend.»

Helen Ramscar und Artem Rybchenko mit gespendetem Krankenwagen für die Ukraine
Ramscar übergibt im August 2022 dem damaligen Botschafter der Ukraine in der Schweiz, Artem Rybchenko (zweiter von links) eine Ambulanz, zusammen mit einem Botschaftsmitarbeiter (rechts) und dem Direktor der Internationalen Schule von Basel, Bradley Roberts. Helen Ramscar

Botschafter Rybchenko ging auf sie zu. «Ein solches Fahrzeug ist sehr notwendig», sagte er zu ihr. Und Helen Ramscar antwortet ihm umgehend, dass sie erneut Geld für weitere Ambulanzen sammeln werde. «Schicken Sie so viele, wie Sie können», erwiderte er.

Bis im August 2022 hatte Ramscar insgesamt vier Ambulanzwagen organisiert. Sie wurden stets an die Botschaft geliefert, die sich dann um die Logistik für den Transport in die Ukraine kümmerte.

Auch Basel und Zürich helfen

Ein gutes Jahr nach Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine ist das ukrainische Gesundheitssystem nach wie vor grossen Belastungen ausgesetzt. Dringend benötigt würden insbesondere Ambulanzen, wie das Schweizerische AussenministeriumExterner Link bekannt gab. Es stünden aber aktuell nur wenige gebrauchte Ambulanzfahrzeuge zum Verkauf.

Der Kanton Basel-Stadt und die Stadt Zürich haben im April 2023 Beiträge von 225’000 Franken respektive 500’000 Franken für die Beschaffung von fünf Occasion-Ambulanzfahrzeugen gesprochen. Der Kauf und die Lieferung erfolgte mehrheitlich über die Niederlande. Die Fahrzeuge wurden lokalen NGOs in der Ukraine übergeben.

Lebensrettende Maschinen

Mit der Beschaffung der Ambulanzen war der Einsatz von Helen Ramscar jedoch nicht beendet. Sie hat sich um weiteres medizinisches Gerät bemüht, vor allem dank den Ratschlägen von befreundeten Ukrainer:innen in der Schweiz, die wussten, was in ihrer Heimat benötigt wird. Dazu gehören etwa ein Spirometer zur Diagnose von Lungenentzündungen und ein Audiometer zur Diagnose von Hörschäden. Ausserdem besorgte sie zwei Dutzend Generatoren und Stromaggregate.

Stepan Borzov und Yevhen Kalenda mit elektrochirurgischem Gerät in Dnipro
Kalenda hat 16 von Ambulance Relief gespendete Geräte an Krankenhäuser in Dnipro geliefert, darunter dieses elektrochirurgische Gerät für den Chirurgen Stepan Borzov und sein Team. Stepan Borzov

«Ich kann kaum die Gefühle eines Arztes beschreiben, den ich einige Tage nach der Übergabe eines elektrochirurgischen Geräts traf, das Helen für uns gekauft hatte», schreibt Yevhen Kalenda, ein freiwilliger Helfer in Dnipro (Ostukraine) in einer E-Mail. Der Arzt war begeistert und sagte, mit diesem Gerät sein ein Traum in Erfüllung gegangen. Er habe das Gerät bereits bei mehreren Operationen einsetzen können.

Ein anderer Freiwilliger, Taras Patlatiuk, ein ukrainischer Wissenschaftler in Basel, der Ambulance Relief unterstützt, erklärt seinerseits, dass solche lebensrettenden Geräte für die Ukraine zu teuer oder die Lieferfristen zu lang seien.

Helen Ramscar hat das Heft selbst in die Hand genommen, indem sie im Internet nach Spezialgeräten suchte und bei Lieferanten im Ausland bestellte. Mit ihrem Kleinkind im Schlepptau fährt sie sogar zu ihrem örtlichen Baumarkt, um nützliche Gebrauchsgegenstände für den Alltag wie Generatoren zu besorgen, die sie dann vorübergehend in ihrem Wohnzimmer deponiert.

Boxen mit Generatoren im Wohnzimmer
Hilfsgüter stapeln sich im Wohnzimmer von Helen Ramscar. Helen Ramscar

Zeichen der Dankbarkeit

Ihr Ehemann Nick und ihre Kinder unterstützen das Projekt mit Enthusiasmus. Aber es war nicht immer einfach, diese freiwillige und unbezahlte Arbeit mit dem Familienalltag zu vereinbaren. «Es gab Moment, die mir rückblickend betrachtet etwas lächerlich erscheinen», sagt Ramscar.

Dennoch: «So eine Aktivität frisst dich auf. Ich konnte das manische Sammeln und Abgeben von Spenden nicht ewig aufrechterhalten, auch weil meine Kinder Priorität geniessen – doch die Basisarbeit musste geleistet werden.» 15 Monate nach dem Start dieses Projekts habe sie mittlerweile ein gutes Gleichgewicht gefunden.

Im Hause Ramscar sind überall Zeichen der Dankbarkeit zu sehen. Verschnörkelte Urkunden in ukrainischer Sprache, die Empfänger von Ambulance Relief geschickt haben, säumen den oberen Rand eines Bücherregals. Auf ihrem Schreibtisch steht ein Gemälde mit Hortensien, ein Geschenk eines Rehabilitationszentrums, das einen Generator erhalten hat. Zudem gibt es zwei Auszeichnungen der britischen Botschaft in Bern für ihre Wohltätigkeitsarbeit.

Anerkennungszertifikate aus der Ukraine im Haus von Helen Ramscar
Danksagungen von verschiedenen ukrainischen Gesundheits- und Erziehungseinrichtungen im Bücherregal von Helen Ramscar. © Thomas Kern/swissinfo.ch

Das Vertrauen von Ramscar in ihre eigenen Fähigkeiten, etwas zu bewirken, ist mit dem Erfolg des Projekts stetig gewachsen. Jetzt gründet sie einen Verein, um weiterhin dringend benötigte medizinische Hilfe in die Ukraine und andere Teile der Welt zu bringen.

«Ambulanzen zu kaufen und zu spenden, ist weit weg von allem, was ich vorher gemacht hatte», meint sie. Aber es zeige, «dass wir selbst angesichts eines weit entfernten Konflikts nicht machtlos sind». Wir könnten auch im Kleinen etwas bewegen, selbst wenn man bei null anfangen müsse.

Während der Krieg andauert, bleibt ihr Zielstreben unerschüttert. Das Bild der hochschwangeren Irina Kalinina auf der Bahre in den Kriegstrümmern in Mariupol ist in ihren Gedanken stets präsent. «Daran halte ich fest – das ist ein Teil meiner Motivation. Ich will sie nicht vergessen», sagt sie.

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob

Gerhard Lob

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