«Wut hat mir geholfen»
"Ich wurde 1943 in Lausanne als letztes von fünf Kindern geboren.
Wir wurden alle zwangsplatziert. Man liess damals die Kinder nicht bei alleinstehenden Müttern aufwachsen, denn dieses hatten schwere Fehler begangen, wie die Leute sagten.
Im Alter von 2 Monaten kam ich in eine Kinderkrippe und mit 2 Jahren zu Ordensschwestern. Ich wurde mit Schlägen erzogen und ich musste arbeiten und beten. Wer das Bett nässte, musste die Leintücher selber waschen. Mit 13, als ich die Periode hatte, wollte sich eine Schwester um meine Intimtoilette kümmern. Ich bin zu meiner Mutter geflüchtet, aber sie war inzwischen mit einem Fremdenlegionär verheiratet, der trank und mich schlug. Er hat mich mit 15 auf die Strasse gestellt. Meine ältere Schwester hat mir geholfen, aber ich habe die Schule nicht abgeschlossen. Ich habe Gelegenheitsarbeiten gemacht, bis mir eine Bekanntschaft zu einem Job auf einer Bank verholfen hat. Dort habe ich bis ins Jahr 2000 gearbeitet.
Meinen Vater habe ich 4 Mal gesehen. Das letzte Mal 1969, ein Jahr vor seinem Tod, in einem Restaurant. Ich habe mich absichtlich neben ihn gesetzt, aber er hat mich nicht erkannt. Ich hatte einen Mann, der mich geschlagen hat und ich musste die Kinder alleine aufziehen. Mein Sohn kennt meine Geschichte, aber meiner Tochter habe ich nichts erzählt. Sie ist zu aufmüpfig. Sie ist seit einem Unfall invalid und ich habe Angst, dass man ihr ihren 14-jährigen Sohn wegnimmt. Ich habe den Eindruck, dass sich meine Geschichte ständig wiederholt. Was mir hilft? Die Wut.»
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