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«Zählebige Folter neigt zur Rückfälligkeit»

Tim Hetherington/Magnum

Während der argentinischen Militärdiktatur war der UNO-Sonderberichterstatter, Juan E. Méndez, selbst gefoltert worden. Seither widmet er sein Berufsleben dem Kampf gegen diese Geissel.

25 Jahre nach Inkraften des Übereinkommens gegen Folter und 15 Jahre nach der Einführung des Internationalen Tags zur Unterstützung der Opfer sind Folterpraktiken in vielen Ländern nach wie vor gang und gäbe. Im Gespräch mit swissinfo.ch sagt der UNO-Sonderberichterstatter, weshalb der Kampf so hartnäckig ist.

 

swissinfo.ch: Wie schätzen Sie die Lage in Syrien ein?

Juan E. Méndez: Von aussergerichtlichen Hinrichtungen über das Verschwindenlassen von Personen bis zur systematischen Folter gibt es alles. Die Unterdrückung ist so brutal, dass sie als Folter bezeichnet werden muss. Auf unsere Anfragen gibt die Regierung keine Auskunft. Und alles, was die Berichterstatter unternehmen, wird von der totalen Unentschlossenheit des UNO-Sicherheitsrats blockiert.

swissinfo.ch: Hat sich Ihr Mandat nach dem Arabischen Frühling verändert?

J.M.: Libyen beschäftigt mich sehr, denn es gibt eine Grosszahl von Milizen, die nicht dem Staat unterstellt sind und angeblich in geheimen Gefängnissen systematisch foltern. Die internationale Gemeinschaft muss die libysche Regierung auffordern, etwas zu unternehmen. Ägypten habe ich  um eine Einladung gebeten, aber bisher keine Antwort erhalten. Die Menschenrechtslage scheint sich zu verbessern, ist aber weiterhin unsicher. Die Macht des ägyptischen Volks muss in rechtsstaatliche Bahnen gelenkt werden.

swissinfo.ch: Stellen Sie in der Region Bemühungen fest, um der endemischen Folterpraxis ein Ende zu setzen?

J.M.: In Tunesien sind langsame, aber sichere Veränderungen im Gange. Die neue Regierung hat gute Absichten, kann aber Folterpraktiken nicht per Dekret abschaffen. Die Sicherheitskräfte foltern weiterhin, denn sie haben Mühe, sich an die neue Wirklichkeit anzupassen. Es ist unumgänglich, die Verantwortlichen des alten Regimes unter Anklage zu stellen, zu verurteilen und die Opfer zu entschädigen, auch wenn seither 20 Jahre vergangen sind. Die unter Ben Ali praktizierten Foltermethoden übersteigen jegliches Vorstellungsvermögen.

swissinfo.ch: Welche Ziele möchten Sie während ihres Mandats erreichen?

J.M.: Wir wollen, dass in diesen Ländern die universellen Normen respektiert werden. Alle Verhaftungen müssen registriert und alle Gefängnisse bekannt sein und periodisch kontrolliert werden. Das sind Massnahmen des gesunden Menschenverstands.

swissinfo.ch: In welchem Zeitraum wollen Sie dieses Ziel erreichen?

J.M.: Folter ist hartnäckig und neigt zur Rückfälligkeit. Sobald die Sicherheitskräfte merken, dass sich die Kontrolle durch die Zivilgesellschaft lockert, kehren sie zu ihren herkömmlichen Praktiken zurück, da sie am schnellsten Ergebnisse garantieren.

swissinfo.ch: …und das geschieht in Lateinamerika?

J.M.: Auch in Demokratien konnte Folter nicht vollständig ausgemerzt werden. Die Polizei handelt weiterhin mit einem falsch verstandenen Korpsgeist. Foltert ein Polizist, so wird er von den Kollegen gedeckt, anstatt angezeigt.

swissinfo.ch: Und die südamerikanischen Gefängnisse?

J.M.: Sogar in den demokratischsten Ländern sind die Verhältnisse erschreckend. Die Bevölkerung ist durch die Kriminalität dermassen eingeschüchtert, dass sie es vorzieht wegzuschauen.

swissinfo.ch: Damit lassen sich die Gefängnismeutereien erklären?

J.M.: Sicher. Auch in Argentinien gibt es total überfüllte Gefängnisse, in welchen die Wärter Gewalt fördern, indem sie  gewalttätigen Banden Macht gewähren.

swissinfo.ch: Können Sie das konkretisieren?

J.M.: Die Gefängnisse in Venezuela sind ein fürchterliches Beispiel. Die Wärter organisieren sogar Gladiatorenkämpfe mit Geldwetten, bei welchen sich die Insassen bis zum Tod bekämpfen.

swissinfo.ch: Ist Einzelhaft eine gängige Praxis?

J.M.: Ich habe keine genauen Zahlen, aber ich kann Ihnen versichern, dass sie auf der ganzen Welt immer mehr zur Bestrafung, aber auch für Geisteskranke und Minderjährige angewendet wird.

swissinfo.ch: Welche Länder bereiten Ihnen am meisten Sorgen?

J.M.: Diejenigen, die mich nie einladen oder wieder ausladen, wie Bahrein. In einigen Fällen warten wir seit 18 Jahren auf eine Besuchsbewilligung.

swissinfo.ch: Was können diese Besuche bewirken?

J.M: Ich hänge von der Einladung ab, denn ohne diese kann ich nicht einreisen. Einmal an Ort und Stelle entscheide ich, wann ich welches Gefängnis besuchen will. Das Gastland muss die Anwesenheit des Sonderberichterstatters bekannt geben, und keine Tür darf geschlossen bleiben. Ich kann ohne Überwachung mit Häftlingen oder Vertretern der Zivilgesellschaft sprechen, ohne dass jemand deswegen Verfolgung oder Repressalien befürchten muss.

swissinfo.ch: Wir pflegen Folter mit der 3.Welt zu identifizieren. Gibt es sie auch im Westen?

J.M.: Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde dem Terrorismus der Krieg erklärt. Seither  gab es u.a. in den USA gravierende Folterpraktiken wie Water boarding (simuliertes Ertränken). Auch psychologische Folter muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Niemandem wird ein Haar gekrümmt, aber 23 Stunden in einer Zelle von 4m2 eingesperrt zu sein, ist eine Folter. Wir müssen sowohl physische als auch psychische Folter bekämpfen.

swissinfo.ch: Sie sprechen von Guantánamo während der Ära Bushs? Was hat sich seither geändert?

J.M.: Einen Tag nach der Regierungsübernahme verbot Obama Folterpraktiken sowie die Anwendung der Militärjustiz. In den letzten drei Jahren haben wir keine Anzeigen wegen Folter aus den USA erhalten. Alle bekannten Fälle sind der vorherigen Administration zuzuschreiben.

swissinfo.ch: Die USA kommen also ihren Verpflichtungen nach?

J.M.: Nicht vollständig. Der Staat kann sich nicht auf das Folterverbot beschränken, sondern muss Fälle unter der früheren Regierung untersuchen und ahnden. Unter dem Vorwand der Staatssicherheit und des Staatsgeheimnisses hat sich die Regierung Obama bisher geweigert, ganz konkrete Fälle zu untersuchen und hüllt sich in Schweigen. Bis heute verletzen die USA ihre internationalen Verpflichtungen.

swissinfo.ch: Sie selbst sind ein Folteropfer.

J.M.: Während der argentinischen Militärdiktatur (1976- 1983) wurde ich gefoltert, weil ich als Anwalt politische Häftlinge verteidigt hatte. Deshalb habe ich beschlossen, mein Berufsleben diesem Problem zu widmen.

swissinfo.ch: Bedrückt es Sie nicht, ständig tragische Foltergeschichten anhören zu müssen?

J.M.: Obwohl ich seit Jahren die Aussagen der Opfer anhöre, gibt es Fälle, die mich besonders berühren. Den Schmerz und das Leid anderer kann ich nachfühlen. Aber das Schlimmste –  und es wird oft vergessen – ist der Schmerz und das Leid der Angehörigen. Ich denke an ein Ehepaar aus Kirgistan, dessen Sohn gefoltert wurde. Sechs Monate nach seiner Freilassung starb er trotz aller Bemühungen an den Folgen der Folter. Das zerstört die ganze Familie und nicht nur das betroffene Opfer.

Laut Juan E. Méndez ist die gängigste Definition von Folter «ein vorsätzlich von einem staatlichen Beamten zugefügter Schmerz oder Leid zwecks Verhör und Bestrafung.«

«Der zugefügte Schmerz muss von einer bestimmten Intensität sein. Unterhalb dieser Schwelle sprechen wir von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, die nicht an Folter heranreicht», präzisiert der UNO-Sonderberichterstatter.

«Um im engen Sinn von Folter zu sprechen, braucht es den ausdrücklichen Willen, akutes Leid und Schmerz zuzufügen.

Erniedrigende Behandlung kann unbeabsichtigt und objektiv durch menschenunwürdige Haftbedingungen bedingt sein.»

Er wurde 1944 in Mar del Plata (Argentinien) geboren, schloss 1970 sein Jurastudium ab und übernahm die Verteidigung politischer Häftlinge.

Unter der Militärdiktatur (1976 – 1983) sass er 18 Monate in Haft und wurde gefoltert. Unter dem Druck von Amnesty International wurde er freigelassen und konnte in die USA ausreisen.

Dort setzte er sich für die Rechte der Einwanderer sowie die Bürgerrechte ein. Während 15 Jahren arbeitete er für Human Rights Watch.

Er war Professor für Rechtswissenschaft und Direktor des Zentrums für Bürger- und Menschenrechte an der Universität von Notre Dame (Indiana).

Der vormalige UNO-Generalsekretär, Kofi Annan, ernannte ihn zum Sonderberater zur Verhinderung von Völkermord (2004 – 2007).

Méndez ist Gastdozent an der American University (Washington) und hat an den Universitäten von Johns Hopkins, Oxford und Georgetown unterrichtet. In Europa und Amerika hat er zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.

Im November 2010 wurde er zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt.

Der UNO-Sonderberichterstatter für Folter ist einer der vom UNO-Menschenrechtsrat geschaffenen Mechanismen zur Behandlung spezieller Themen.

Es werden 3 Arbeitsmethoden angewendet:

1. Entgegennahme von Meldungen der Öffentlichkeit.

2. Länderbesuche, die von der Einladung des betroffenen Landes abhängen. An Ort und Stelle führt der Berichterstatter Gespräche mit den Behörden, Vertretern der Zivilgesellschaft und in erster Linie mit den Opfern.

3. Im Fall von mit dem Mandat verbundenen Gesetzeslücken werden Experten angefragt, um neue, universal gültige Normen vorzuschlagen.

Juan E. Méndez hat ausführliche Berichte über Einzel- und Isolationshaft sowie über Fälle geheimer Folterungen verfasst.

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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