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Ziehen Kinder die Piccoloflöte dem Fussball vor?

Um eine Piccoloflöte gut genug zu beherrschen, um mitmarschieren zu dürfen, braucht es jahrelange Übung. Keystone

Jedes Jahr verwandelt sich Basel für 72 Stunden in ein locker organisiertes Chaos. Die Basler Fasnacht ist die grösste und bekannteste der Schweiz. Doch Fasnächtler und Fasnächtlerinnen haben es immer schwerer, eine nächste Generation von Festfreudigen heranzuziehen.

An einem kalten Tag Mitte Februar ertönen auf dem Platz vor der grössten Basler Messehalle Piccoloflöten und Trommeln. Dieses Jahr spricht eine Fasnachtsgesellschaft erstmals Kinder von Besuchern der Basler Mustermesse an, damit diese etwas über eine der ältesten Traditionen der Stadt erfahren können – mit dem Ziel, neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu gewinnen.

«Früher haben viele Einheimische Fasnacht gefeiert, sie wussten, um was es geht, weil ihre Eltern bereits mitgemacht hatten», sagt Cédric Rudin, «Obmann» der jüngsten Teilnehmergruppe an der Fasnacht, der «Jungen Garde», die zur nur Männern zugänglichen Pfeifer- und Tambouren-«Clique» der «Schnurebegge» gehört. «Heute leben viele Einwanderer hier, also müssen wir ihnen zeigen, was die Fasnacht ist, um was es dabei geht.»

Heute sind bei der «Jungen Garde» mehr Buben von auswärts aktiv als aus Basel, ihre Eltern stammen aus 15 Nationen. Rudin ist die Herkunft der Kinder egal – er und seine Gruppenleiter möchten ihnen lediglich ein Stück Basler Tradition näherbringen und die sinkende Zahl junger Mitglieder vor der Konkurrenz von Sport, Computern und Videospielen abhalten. Noch vor zehn Jahren machten 80 Buben bei der «Garde» mit, heute sind es gerade noch 24.

Es gibt verschiedenste Möglichkeiten, an der Basler Fasnacht teilzunehmen, sowohl musikalisch wie auch künstlerisch. Jedes Jahr wird ein Thema ausgewählt, das mit Masken, Laternen und Witzen an der Fasnacht präsentiert wird. Zuschauer erhalten Flugblätter mit Baseldeutschen Sprüchen und Versen zum Thema des Jahres.

Cliquen sind Trommel- und Pfeifergruppen, die verkleidet und maskiert durch die Strassen marschieren und dabei auf ihren Instrumenten spielen. Früher eine reine Männerdomäne, nehmen heute die meisten auch Frauen auf.

Guggenmusik-Gruppen spielen laute, oft leicht falsch tönende Interpretationen bekannter Musikstücke. An der Basler Fasnacht haben sie ihren traditionellen Auftritt am Dienstagabend.

Larven (Masken) wurden bis in die 1920er-Jahre importiert und jeweils an die individuellen Bedürfnisse angepasst. Dann versuchten zwei junge Fasnachtsfans, selber Masken aus Pappmaché herzustellen und diese von lokalen Künstlern dekorieren zu lassen. Heute sind solche Masken die Norm. Im November beginnen die Fasnächtler, ihre Larven zu basteln.

Laternen werden von Cliquen getragen und haben ein Holzgerüst. Die meisten von ihnen sind über 3 Meter hoch. Das Licht im Innern beleuchtet die Sujets auf der Leinwand.

Schnitzelbängg sind auf theatralische Weise vorgetragene, witzige und bissige Musikstücke. Abends ziehen die Schnitzelbanksänger von Lokal zu Lokal und kommentieren das vergangene Jahr mit Wortwitz und Reimen.

Schyssdräggziigli sind Einzelpersonen oder kleine Gruppen, die keiner Clique angehören und auf eigene Faust mit Piccolos und Trommeln durch die Basler Gassen und Strassen marschieren.

Jene «Clique», die 1909 stolz die erste «Junge Garde» überhaupt gegründet hatte, sah sich 90 Jahre später gezwungen, diese wegen mangelndem Interesse zu schliessen. Der Präsident der «Mittwoch-Gesellschaft» erklärte kürzlich in der Schweiz am Sonntag, rückblickend hätte seine «Clique» während der 1980er-Jahre die Rekrutierung stärker forcieren sollen, «also zu einer Zeit, in der das Interesse gross und der Zulauf noch ein Selbstläufer war».

Laut Pia Inderbitzin, Statthalterin des so genannten «Fasnachts-Comité», das die Fasnacht organisiert, haben die «Cliquen» heute begriffen, dass sie hart arbeiten müssten, um neue Mitglieder anzuwerben. Sie sind sehr kreativ geworden, mit Ständen vor Lebensmittelgeschäften oder einem «Last Minute»-Angebot, bei dem Kinder Masken und Kostüme mieten und ohne Verpflichtung mitlaufen können.

«Die Fasnacht hat nicht mehr den Status, den sie vor 30 Jahren oder so hatte», gibt Inderbitzin zu. «Damals gab es noch nicht so viele Freizeit-Aktivitäten für Kinder, und im Fasnachts-Umfeld konnten diese noch ein seriöses Musikinstrument erlernen, besonders Trommeln und Pfeifen, oder Laternen bauen, Kostüme schneidern oder Themen konzipieren.»

Auch wenn die Fasnachtstradition in den Schulen in Basel und Umgebung schon lange zum Lehrstoff gehört, reicht dies laut Inderbitzin heute nicht mehr aus, um Kindern zu zeigen, was sie mit einer Teilnahme gewinnen können, und warum es Sinn macht, mit dem Erlernen des Piccolospiels oder Trommelns zu beginnen.

«Wenn man das Spielen der Piccoloflöte erlernen will, braucht man zwei Jahre, bevor man damit auf der Strasse marschieren kann. Als Tambour braucht man sogar drei Jahre, bis man das Trommeln beherrscht, und man muss wirklich jeden Tag seriös üben. Das kann zu einem Problem werden, weil die Eltern die Kinder immer zum Üben antreiben müssen, auch wenn es nur 15 Minuten pro Tag sind.»

Vorbilder

Wenn sich die «Junge Garde» der «Schnurebegge» zum Üben versammelt, benehmen sich die Buben etwas flegelhaft. Doch sobald Rudin und ältere Mitglieder sie zum Aufhören und Zuhören ermahnen, tun sie es. Sie seien zu wichtigen Mentoren für die jüngeren Buben geworden, sagt Rudin, denn vielen fehlten männliche Vorbilder.

«Viele Eltern sind geschieden, und die Lehrer sind meistens Frauen. Wir sind eine ausschliesslich männliche Gruppe, und so haben sie einige männliche Vorbilder, denen sie folgen können», betont er. «Ich habe Anrufe von Müttern erhalten, die fragten, ‹kannst Du helfen, mein Kind flippt aus›, und ich habe den Buben am Telefon beruhigen können.»

Für die Eltern bietet die Teilnahme an Fasnachts-Aktivitäten eine Art von Gemeinschaft, die bei anderen Aktivitäten fehlt. Die Grossmutter eines der frühreifsten Mitglieder – er demonstriert für die Zuschauer gerade ein Stück auf seinem Piccolo – erklärt, ihr Grosssohn habe freie Wahl, an den Aktivitäten teilzunehmen oder nicht. Sie sei aber froh, dass er sich dafür entschieden habe, etwas zu machen, was sie selber als Kind getan habe.

«Er spielte Fussball, und wir mussten immer sehr weit an Turniere fahren, die schlecht organisiert waren und denen jeglicher Gemeinschaftssinn fehlte. Dann sagte er: ‹Ich will nicht mehr Fussball spielen. Ich will Piccolo spielen.› Ich schätze den Gemeinschaftssinn innerhalb der Gruppe – die Eltern kennen sich alle.»

Selbstorganisiert

Dieser Gemeinschaftssinn sei ein Eckpfeiler der Fasnacht, besonders, weil nicht viel formell über eine zentrale Organisation laufe, sagt Inderbitzin. Der berühmte «Morgestraich» punkt vier Uhr morgens, wenn die maskierten «Cliquen» alle in jenem Moment losmarschieren, in dem alle Lichter der Stadt ausgeschaltet werden, wird nicht vorher organisiert. Die «Cliquen» versammeln sich quasi beiläufig und warten dann gemeinsam auf den 4-Uhr-Schlag.

Und auch wenn das «Fasnachts-Comité» den etwa 500 registrierten Gruppen Stipendien auszahlt, schätzt Inderbitzin, dass sich mehrere hundert weitere selber organisieren und sich ungezwungen in einem Lokal oder einer Wohnung treffen.

Das «Comité» hat damit begonnen, immer mehr Veranstaltungen zu fördern, um Gruppen bei der Suche nach neuen Mitgliedern zu unterstützen. Dazu gehört etwa ein Zelt, das jedes Jahr am Wochenende nach der Fasnacht aufgestellt wird, um «die Kinder zu schnappen, so lange sie noch im Fasnachtsfieber sind», wie es Pia Inderbitzin ausdrückt, und ihnen zu zeigen, wie sie sich für den Umzug im nächsten Jahr anmelden können.

Zudem organisiert es jedes Jahr einen Maskenbau-Kurs für Schulklassen und eine Versewerkstatt, in der Jugendliche mit einem Flair für Gedichte lernen, wie man Witze über das Thema der Fasnacht zum Reimen bringt – natürlich im dazu nötigen «Baseldytsch».

Doch der Schritt von einer einmaligen Nachmittagsbeschäftigung zu einem langfristigen Einsatz für die Fasnacht bleibt die grösste Hürde für die Kinder. Vor der Messehalle sagt eine Mutter, deren Töchterchen sich an der Piccoloflöte versucht, sie würde das Mädchen unterstützen, wenn es einer «Clique» beitreten möchte – doch es habe bisher noch kein Interesse daran gezeigt und spiele bereits Gitarre.

Zum Schluss der Veranstaltung auf dem Basler Messegelände machen sich Rudin und die «Junge Garde» auf zu einem abendlichen Übungsmarsch durch die Strassen. Bis jetzt sei der Zuspruch gut gewesen, sagt er vor dem Abmarsch. Er hofft, dass viele der Kinder, die an der Aktion teilgenommen haben, dieses Jahr in einem «Versuchsprogramm» mitmachen, um die Fasnacht hautnah zu erleben und vielleicht langjährige Teilnehmer werden.

«Es haben viele Leute angehalten und mitgemacht», sagt er. «Ich weiss nicht, wie viele schliesslich dranbleiben werden. Doch ob sie einmal Trommel oder Piccolo bei uns oder anderswo spielen, sind sie zumindest in Kontakt mit der Fasnacht gekommen und wir konnten ein wenig von dieser Tradition bewahren.»

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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