Zürichtal – einst wohlhabendste Krim-Kolonie
Nicht nur in Amerika haben Schweizer Auswanderer eine neue Heimat gefunden und Siedlungen gegründet. Einige Eidgenossen zogen auch ostwärts - ins russische Zarenreich.
Zwei Dörfer in der Ukraine sind bis heute stille Zeugen. Eine der Schweizer Siedlungen ist Zürichtal auf der Schwarzmeerhalbinsel Krim – ein Blick zurück.
Seit Zar Peter dem Grossen (Regierungszeit 1689-1725) haben zahlreiche Schweizer in Russland Spuren hinterlassen; als Ingenieure, Kaufleute oder Wissenschafter, als Lehrer, Geistliche oder Offiziere, als Käser, Zuckerbäcker oder Uhrmacher. Viele von ihnen machten beachtliche Karrieren.
Nebst diesen im Zarenreich gefragten und angesehenen Fachleuten (rund 7’000 bis 8’500 kurz vor dem Ersten Weltkrieg) wanderten in zwei Fällen aber auch ganze Gruppen von verarmten Schweizern nach Russland aus, um der wirtschaftlichen Misere in der Heimat zu entfliehen und im Zarenreich als Bauern eine neue Existenz aufzubauen.
So entstanden die Schweizer Kolonien Zürichtal auf der Krim (gegründet 1805) und Šabo in Bessarabien (gegründet 1821/22, südwestlich von Odessa am Schwarzen Meer).
Schweizer Wurzeln kaum mehr sichtbar
Während sich in Šabo vor allem französischsprachige Weinbauern aus dem Kanton Waadt ansiedelten, stammten die rund 50 Gründerfamilien von Zürichtal fast ausschliesslich aus der Deutschschweiz, die Mehrheit aus dem Kanton Zürich. Alsbald liessen sich in Zürichtal auch Kolonisten aus den süddeutschen Fürstentümern nieder.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem Stalin wie aus allen deutschen Siedlungen auch die gesamte deutschsprachige Bevölkerung von Zürichtal deportieren liess, trägt das Dorf den russischen Namen Zolotoe Pole (Goldfeld).
Spuren der Schweizer Kolonisten sind heute nur noch wenige zu finden. Die markanteste Erinnerung an die Zürichtaler Zeit stellt die 1860 erbaute Kirche dar, die auf einer Anhöhe am Dorfeingang steht. Anfang der 1990er Jahre wurde das Gebäude restauriert und dient seither als orthodoxes Gotteshaus.
Verarmte Spinner, Weber und Bauern
Es waren vor allem verarmte Seiden- und Baumwollspinner, Weber, aber auch viele Bauern und andere Berufsleute, die sich von Werbern im Auftrag von Zar Alexander I (1801-1825) zur Auswanderung auf die Halbinsel Krim bewegen liessen.
Sie litten unter der Wirtschaftskrise (hervorgerufen etwa durch das Ende der Schweizer Handspinnerei als Folge der aufkommenden Maschinenspinnerei in England) oder hatten Angst, für das Europa beherrschende Frankreich Kriegsdienst leisten zu müssen.
155 der 240 Auswanderungswilligen stammten aus dem Kanton Zürich, ein Drittel davon aus dem Knonauer Amt.
Beschwerliche Reise
Die beschwerliche Reise der Schweizer in Richtung Russisches Imperium nahm im Spätherbst 1803 unter der Leitung des Hauptwerbers Hans Caspar Escher in Konstanz ihren Anfang.
Escher, ehemaliger Zürcher Grosskaufmann, war nach dem Konkurs seiner Firma 1789 ins Zarenreich ausgewandert, wo er in russische Kriegsdienste trat und Major des Moskauer Dragonerregimentes wurde.
Die Fahrt mit Schiffen und Pferdewagen führte über Regensburg, Wien, Pressburg (Bratislava), das Tatra-Gebirge und Lemberg (Lviv) auf die Krim. Unterwegs verliess viele Auswanderer der Mut, sie kehrten wieder um.
30 bis 40 Menschen, vor allem Kinder, starben während der Reise an den Pocken. Auf dem Weg wurde die Gruppe durch nachgefolgte Schweizer beziehungsweise durch einige auswanderungswillige Deutsche verstärkt.
Eine neue Heimat
Im Sommer 1804 kamen die Emigranten auf der Krim an, insgesamt 228 Personen. Nebst 136 Frauen, Männern und Kindern aus dem Kanton Zürich befanden sich unter ihnen Bürger aus den Kantonen Aargau, Bern, Freiburg, Glarus, Graubünden, Luzern, Neuenburg, Solothurn, St. Gallen und Waadt.
Zunächst wurden die Auswanderer unter misslichen Bedingungen in der offenen Steppe angesiedelt, bis sie dann an Ostern 1805 in das bis anhin von Krimtataren bewohnte Dorf Džejlav in der Nähe der grossen Handelsstrasse Simferopol-Feodosija übersiedeln konnten.
An dieser Stelle entstand alsdann am Bach Indol das Schweizer Dorf, welches die Auswanderer als Erinnerung an ihre Heimat «Zürichtal» nannten.
Klimawechsel und Krankheiten
Das Leben der Kolonisten war anfänglich von vielen Schwierigkeiten geprägt. Einerseits hatten die Weber und Spinner kaum Erfahrung mit der Landwirtschaft, und die Bauern mussten sich zuerst mit den neuen Umständen von Klima und Boden vertraut machen.
Andererseits wurde das Dorf von Krankheiten und Heuschreckenplagen heimgesucht, Dutzende Schweizer Auswanderer wurden in den ersten Jahren nach der Ansiedlung dahingerafft.
Russische Knechte und Mägde
Aber nach und nach wandelte sich die Situation zum Besseren: Weizenanbau, Viehzucht sowie später auch Obst- und Weinbau brachten Erfolg. Am Bach entstand eine Mühle, die Siedlung wuchs, konnte Land dazukaufen und zählte 1848 bereits 74 Hofstellen mit je rund 44 Hektar Land.
Zürichtal profitierte – wie auch die anderen Kolonistendörfer, die allesamt vom Militärdienst befreit waren – vom Krimkrieg (1853-1856), weil man der russischen Armee Lebensmittel verkaufen und mit dem Gewinn weiteres Land erwerben konnte.
Vornehme Siedlung
Die Nachfahren der mausarm ausgewanderten Schweizer waren zu wohlhabenden Bauern, zum Teil sogar zu Grossgrundbesitzern geworden. Viele beschäftigten russische Knechte und Mägde.
Schon bald galt Zürichtal als die wohlhabendste und vornehmste Siedlung unter den mittlerweile zahlreich gewordenen deutschen Kolonien auf der Krim.
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