Zuwanderungsstopp: Hier sagten 94% Ja, dort 81% Nein
Einen Namen machten sich die beiden Gemeinden am 9. Februar 2014. Horrenbach-Buchen, am Rande des Emmentals, nahm die Initiative gegen "Masseneinwanderung" (MEI) mit dem höchsten Ja-Stimmen-Anteil (94%) an. Lussy-sur-Morges über dem Genfersee lehnte sie mit dem grössten Nein-Anteil (81%) ab. Was unterscheidet die Gemeinden voneinander, dass sie so unterschiedlich stimmten? Ein Augenschein ein Jahr danach.
Keine Post, keine Einkaufsmöglichkeiten, keine Arztpraxis, kein öffentlicher Verkehr. Die Gemeinde Horrenbach-Buchen liegt auf der Schattenseite des Zulgtals am südlichen Rand des Emmentals. Sie besteht – wie es der Name andeutet – aus zwei Teilen, die durch eine andere Gemeinde voneinander getrennt sind. Das Gemeindegebiet von mehr als 20 Quadratkilometern erstreckt sich bis auf die Höhe von 2000 Metern über Meer. 264 Menschen leben hier, die meisten in Bauernhäusern und häufig in grosser räumlicher Distanz zueinander.
Auf dem verschneiten Strässlein, das in die beiden Dörfer führt, ist kein Fussgänger und nur selten ein Auto unterwegs. Das grosse Klassenzimmer im Schulhaus Horrenbach ist menschenleer. 2009 gab es nur sechs Kinder in der Gesamtschule, weshalb sie geschlossen wurde. Seither werden die Schüler der Unterstufe mit einem Kleinbus zum Unterricht in benachbarte Dörfer gebracht.
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Horrenbach-Buchen – eine Welt für sich
Aber das ehemalige Schulhaus ist für Horrenbach der Dorf-Mittelpunkt geblieben. Das Klassenzimmer, wo anstelle der Pulte nun lange Tische aufgereiht sind, steht für Gemeinde-Versammlungen und gemeinnützige Veranstaltungen zur Verfügung. Im dritten Stockwerk verwaltet Urs Wandfluh die Gemeinde seit 16 Jahren im Alleingang.
«Geschlossen» Ja gesagt
Wandfluh kennt jede und jeden in der Gemeinde persönlich. «Wir sind ein Dienstleistungsbetrieb für die Einwohner. Ich kümmere mich um die Funkverbindungs-Verträge der Holzer, ich helfe beim Ausfüllen der Steuererklärungen und anderer Formulare oder bei einem Krankenkassen-Wechsel.» Viele Einwohner haben zuhause keinen Internet-Anschluss. Und hier dürfen sie auch gratis Kopien machen.
Eine Zeitlang hat Wandfluh auch den konkursgefährdeten Schlepp-Skilift weiter hinten im Tal verwaltet. Derzeit führt er zusätzlich die Geschäfte der Kirchgemeinde und des Friedhofverbands. Lauter Aufgaben, die mit der Gemeindeverwaltung direkt nichts zu tun haben, aber «hier gehört es dazu». Ohne Finanzausgleich würde die Gemeinde tief in den roten Zahlen stecken. Die Steuereinnahmen von 250’000 Franken decken knapp einen Viertel der Ausgaben.
Horrenbach-Buchen habe die MEI «geschlossen» angenommen, sagt der Gemeindeverwalter. «Jedes Jahr 80’000 Zuwanderer, 20’000 neue Wohnungen – die Leute hier waren der Meinung, dass dies nicht nötig ist.»
Aus der «Masse» von Immigranten taucht fast nie einer im Zulgtal auf. In Horrenbach-Buchen leben derzeit drei Personen mit Ausländerausweis. Alle drei gehen einer geregelten Arbeit nach: Ein Physiotherapeut aus Holland, ein portugiesischer Chauffeur und ein deutscher Elektriker. Es gibt überdurchschnittlich viele günstige, leere Wohnungen, Natur und Kulturlandschaft soweit das Auge reicht, keine Spur also von «Dichtestress», wie er von den MEI-Initianten beklagt wird.
«Wir beobachten die Entwicklung über die Gemeindegrenze hinaus», widerspricht Wandfluh. Die urbane Gemeinde Steffisburg am unteren Ende des Tals, wo auch Bewohner von Horrenbach-Buchen einkaufen, arbeiten oder zur Schule gehen, wachse in hohem Tempo, obwohl niemand in der Region davon begeistert sei.
Rosmarie Müller, die einzige Frau im 5-köpfigen Gemeinderat, argumentiert ähnlich. Die Mutter von vier erwachsenen Kindern unterrichtete die Schüler der Gemeinde während 20 Jahren im Fach «textiles Werken». Heute legt sie mehr denn je Hand an auf dem Milchwirtschafts-Betrieb ihres Ehemanns. «Wer in der Landwirtschaft nicht eine gewisse Grösse hat, ist nicht auf Rosen gebettet», sagt sie.
Zu schaffen macht dem Familienbetrieb der sinkende Milchpreis und die immer höheren Auflagen der Behörden in Sachen Umwelt- und Tierschutz. Wegen der Bevölkerungsentwicklung werde in den Agglomerationen immer mehr flaches Kulturland zubetoniert, das sich leichter landwirtschaftlich nutzen liesse. «Am Ende bleiben dafür nur noch unsere steilen Hänge übrig, wo es viel Handarbeit braucht, die kaum noch jemand verrichten will.»
Ohne Nebenbeschäftigungen käme die Familie nicht über die Runde. Die Lebenspartner von zweien ihrer erwachsenen Kinder finden selbst in der weiteren Umgebung seit längerer Zeit keine Stelle. «Je mehr billige Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen, umso weniger Möglichkeiten gibt es für Einheimische», bedauert die Gemeinderätin.
Nicht ausgeschlossen
Von 125 Stimmenden sagten nur acht Nein zur MEI. Zwei von ihnen leben mit ihren beiden Schulkindern in der Wohnung über dem leeren Klassenzimmer: Der Künstler Heinrich Gartentor und seine Frau Christine Clare, die mit psychisch behinderten Menschen arbeitet. «Globalpolitisch» haben die beiden das Heu zwar nicht auf der gleichen Bühne wie die «geschlossene» Dorfgesellschaft, aber sie fühlen sich alles andere als ausgeschlossen. Obwohl sie erst vor sechs Jahren aus dem «Flachland» in die Bergzone zogen, sind sie hier gut vernetzt. Gartentor ist bei der Dorf-Feuerwehr und Mitglied der Schulbuskommission. «Was das alltägliche Leben hier betrifft, ticken wir genau gleich wie alle anderen auch», sagt er.
«Die Menschen sind konservativ. Sie wollen die Landschaft, die gesellschaftlichen Strukturen bewahren und dass ihre Kinder Arbeit haben», erklärt Gartentor das rekordhohe Ja zur MEI. «Die Propaganda mit der Drohung, dass uns die Ausländer Arbeitsplätze wegnehmen, hat sie beeinflusst.» Aber, sagt der international erfolgreiche Künstler, «sie haben das Herz am rechten Fleck. Es sind bescheidene Menschen, die Zeit ihres Lebens hart arbeiten. Und wenn jemand in der Gemeinde Hilfe nötig hat, bekommt er diese, ohne bitten zu müssen.»
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Weitblick in Lussy sur Morges
Zuwanderer willkommen
In Lussy-sur-Morges lehnten 4 von 5 Stimmenden die MEI am 9. Februar 2014 ab. Auch Pierre Jaberg hat seinen Anteil zum landesweiten Rekord beigetragen, «weil ich überzeugt bin, dass die Schweiz die Migrationsprobleme nicht allein lösen kann, sondern nur gemeinsam mit den Ländern, aus denen die Zuwanderer kommen», sagt der pensionierte Flugingenieur, der die 650-Seelengemeinde seit Sommer 2014 präsidiert. «Das Land wird so oder so überbaut. Dafür sind nicht die Immigranten verantwortlich.»
Die Westschweizer Gemeinde auf der Sonnenseite über dem Genfersee war vor wenigen Jahrzehnten ebenfalls noch stark von der Landwirtschaft geprägt. Heute gibt es nur noch fünf Bauernbetriebe. Lussy sei ein Pendlerdorf geworden. «Die meisten Arbeitsplätze befinden sich ausserhalb der Gemeinde», sagt Jaberg.
Ins Auge stechen dem Besucher einige herrschaftliche Villen mit grosszügigen Park- und Gartenanlagen. Auf einem besonders gut abgeschirmten Privatbesitz lebte bis zu ihrem frühen Tod 1988 die Tochter des griechischen Reeders Onassis. «Das Anwesen wird immer noch von Griechen bewohnt», sagt Jaberg, ohne zu präzisieren, um wen es sich handelt.
Lussy gehört dank hoher Steuereinnahmen von vermögenden Bürgern zu den starken Netto-Zahlern im Finanzausgleich. Finanzielle Probleme hat die Gemeinde nicht, «aber wir müssen dem Kanton allein für das Sozialwesen 850’000 Franken abliefern», sorgt sich Jaberg, obwohl in der Gemeinde nur zwei Einwohner auf Sozialleistungen angewiesen sind.
Rund ein Fünftel der Einwohner sind Ausländer. Viele arbeiten in Firmen, die sich in den letzten Jahren in der steuergünstigen Region La Côte niedergelassen haben, wie zum Beispiel Iris Obermüller aus Bayern, die ihr Einkommen in der Life-Science-Branche verdient. Sie und ihr französischer Ehemann fühlen sich in Lussy «sehr willkommen». Kleine, nette Gesten – auch auf Behördenseite – sorgten bei den Neuankömmlingen für gute Gefühle, sagt sie.
Auch Hugo Van Den Hombergh aus Holland wohnt mit seiner Familie seit 12 Jahren in der aussichtsreichen Gemeinde über dem Genfersee. Er kauft und verkauft Immobilien – «nicht nur an Ausländer». Das Abstimmungsresultat vom 9. Februar 2014 ist ihm unerklärlich. Das Land verdanke seine Wettbewerbsfähigkeit doch vor allem ihren international tätigen Unternehmungen, für die auch viele hochqualifizierte Ausländer arbeiteten, sagt er.
Sogar Leute aus der Landwirtschaft stimmten Nein vor einem Jahr. Winzer Michel Vulliamy ist für die Erntezeit auf günstige Arbeitskräfte aus Portugal angewiesen. «Die Initiative macht uns mit ihren Kontingenten nur Probleme», sagt er.
Verständnis für Ja-Sager
In Lussy wurde die MEI nur von 48 Stimmenden angenommen. Rolf Aecherli ist einer von ihnen. «Um die Einwanderung zu bremsen», sagt er beim Mittagessen im Café P’tit Pressoir, wo ein Gastarbeiter aus Polen kocht und eine junge Portugiesen serviert. «Was bringen uns die vielen neuen Arbeitsplätze, die man in der Region geschaffen hat? Überhaupt nichts ausser wachsende Infrastrukturkosten», klagt der pensionierte Ingenieur aus der Biotechnologie-Branche.
Die Initiative teilt die Schweiz
Am 9. Februar 2014 sagten 50,3% des Schweizer Stimmvolks Ja zur Initiative gegen Masseneinwanderung. Vor allem in der Deutschschweiz und noch stärker im Tessin fand die Initiative Gehör. In der französischsprachigen Westschweiz wurde sie mehrheitlich abgelehnt. Das Volksbegehren verlangt, die Zuwanderung mit Kontingenten zu begrenzen. Damit würde die Schweiz aber das Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU verletzen.
Willi Steckeisen, der vor seiner Pensionierung Direktor des Genfer Bauernverbands war, hat Nein gestimmt, aber er versteht auch die Sorgen der Ja-Sager. «Wir können nicht ewig so weiterfahren», warnt er, «sonst gibt es in 246 Jahren laut meinen Berechnungen keinen freien Quadratmeter mehr in der Schweiz. Man kann sich das Land ohne Landwirtschaft vorstellen und alles importieren, aber ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.»
Verständnis fürs Ja-Lager hat auch Anne-Hélène Fontannaz, obwohl sie selber die Initiative abgelehnt hat. Sie engagiert sich in einem Verein, der in den bevölkerungsreichen Orten am Genfersee mittellosen Immigranten die Teilnahme an Sprachkursen ermöglicht.
«In Lussy können sich diese Zuwanderer aber nicht niederlassen. Hier werden Villen mit 1000 und mehr Quadratmetern Umschwung erstellt und keine günstigen 3-Zimmerwohnungen für 5-köpfige Familien vermietet. Hier tritt uns niemand in unsere Gärten. Deshalb ist es auch einfacher, die Initiative abzulehnen», sagt sie. «Wenn wir Immigranten aufnehmen müssten, die tagsüber nichts zu tun haben, weil sie kein Recht haben zu arbeiten, hätten wir in der Gemeinde vielleicht auch ein anderes Abstimmungsresultat gehabt.»
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