Zwischen zwei Heimaten: Migrationsspuren in der Schweiz und Brasilien
Wie fühlt es sich an, auf dem Schiff über den Atlantik nach Südamerika auszuwandern – ohne Aussicht auf eine baldige Rückkehr in die Heimat? In einer Ausstellung in Basel lässt sich genau ein solches Gefühl nacherleben. Erzählt wird die Lebensgeschichte von Walter Wüthrich, der 1939 von Basel nach Brasilien emigrierte und dort sein Glück machte.
Walter Wüthrich, Kaufmann aus Basel, schiffte sich 1939 im Alter von nur 21 Jahren im Hafen des belgischen Antwerpens ein. Sein Ziel: Rio de Janeiro in Brasilien.
Der junge Unternehmer sollte dort zu einer zentralen Figur der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen der Schweiz und Brasilien werden.
Es ist Wüthrich selbst, der als Erzähler durch die Ausstellung «Zwischen zwei Heimaten» Externer Linkführt und seine Lebensgeschichte darlegt. Durch seine Perspektive nähern sich die Besucher:innen dem globalen Thema der Migration an.
In Begleitung seines Freundes Gustav Baumann machte sich Wüthrich auf die Suche nach Freiheit, um in Südamerika einen Neuanfang zu wagen, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Er hatte eine Pistole dabei, versteckt in seiner Tasche. Als er sich bei seiner Ankunft in Brasilien bückte, um den Boden zu küssen, fiel die Pistole jedoch aus der Tasche. Wüthrich wurde verhaftet und verbrachte seine ersten tropischen Nächte im Gefängnis.
Tagebucheintrag vom 12. September 1939: «Gusti hatte Recht. Ich hätte die verdammte Schusswaffe ins Meer werfen sollen. Geblendet vom Anblick Rios, unendlich erleichtert, dem Krieg entronnen zu sein, voller Vorfreude auf das Kommende, musste ich sofort niederknien und den gesegneten Boden Brasiliens küssen. Und da fiel mir die Pistole aus der Manteltasche. Ich hatte nicht einmal Zeit, sie aufzuheben – da waren schon zwei Zollpolizisten da, die mich auf Portugiesisch anschrien und mir Handschellen anlegten. Gusti schwor, mich nach zwei Tagen aus dem Gefängnis zu holen. Gesagt, getan. Auf Gusti kann man sich verlassen! Und jetzt? Jetzt ruhen wir uns aus, wir schlafen in einem Bett in der Schweizer Pension und dann wird endlich das Abenteuer beginnen.»
Der Auswanderer
Trotz anfänglicher Schwierigkeiten gelang dem jungen Wüthrich in der neuen Welt eine eindrückliche Karriere. Dank seiner Handelsaktivitäten zwischen der Schweiz und Brasilien wurde er sehr reich. Sein erfolgreichstes Unternehmen war die Niederlassung für Webstühle der Sulzer Maschinenfabrik.
Inmitten der brasilianischen Industrialisierung bauten Wüthrich und andere Industriepioniere ein Netz von Kontakten auf, das einen wesentlichen Beitrag zu den Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Brasilien leistete.
Die sind bis heute intensiv. Im Moment beläuft sich das Handelsvolumen zwischen der Schweiz und Brasilien auf mehr als 3,5 Milliarden Franken pro Jahr, wobei die Schweiz Waren im Wert von 2,1 Milliarden Franken exportiert und im Wert von 1,4 Milliarden Franken importiert.
Das geht aus der 2020 veröffentlichten Handelsbilanz des Schweizer Aussendepartements hervor. Mehr als 13’700 Schweizer:innen leben in Brasilien und 81’000 Brasilianer:innen in der Schweiz.
Stiftung gegründet
Nach dem Tod von Walter Wüthrich im Jahr 2002 wurde mit dem grossen Vermögen seiner Hinterlassenschaft die Stiftung BrasileaExterner Link in Basel gegründet. Diese umfasst die Sammlung von mehr als 500 Werken seines österreichischen Freundes und Malers Franz Josef Widmer und fördert brasilianische Kunst und Kultur in der Schweiz.
Und genau in dieser Institution ist nun die Ausstellung «Zwischen zwei Heimaten» zu sehen, die den breiten Kontext der schweizerisch-brasilianischen Migration anhand der persönlichen Geschichte des Stiftungsgründers Walter Wüthrich beleuchtet.
Die Ausstellung «Zwischen zwei Heimaten» ist die erste in einer Serie von vier Ausstellungen, die jeweils eine bestimmte Facette von Wüthrichs Persönlichkeit beleuchten werden.
«Über Handel und Wandel» (Ausstellung 2), «Über Freundschaften und Kultur» (Ausstellung 3) und «Über Wüthrichs Sammlungen» (Ausstellung 4) werden in den Jahren 2023, 2024 und 2025 folgen. Die aktuelle Ausstellung ist seit Februar zu sehen und kann noch bis zum 23. Dezember besichtigt werden.
Einblicke in die Ausstellung:
Empfang im Wohnzimmer
Für die Besucher:innen bedeutet «Zwischen zwei Heimaten» ein interaktives Eintauchen in die persönliche Migrationsgeschichte von Walter Wüthrich. Sie werden im Wohnzimmer der Familie in Basel empfangen. Zwischen Koffern und Pässen steht ein Schrank mit einem Foto seines Vaters, eines Gymnasiallehrers, und seiner Mutter, die an Tuberkulose litt und früh starb.
Die Familie hatte kein Verständnis für die Abenteuerlust des jungen Walter und bekämpfte seinen Entschluss zur Auswanderung.
Videos und Fotos illustrieren die Zeit der Abreise. 1939 widersetzte sich die Schweiz dem aussenpolitischen Druck und förderte die Einheit des Landes. Zu sehen sind Bilder der damaligen Landesausstellung, der Landi 39, mit Fahnen von Schweizer Dörfern. Dieses nationale Fest war für die Schweizer Identität eine Antwort auf die nationalsozialistische Bedrohung aus Deutschland.
Für Wüthrich war die Antwort auf den Nationalsozialismus jedoch nicht der Blick nach innen, sondern der Blick nach aussen. Seine Neugierde galt dem exotischen und unbekannten Südamerika, und vor allem dem extravaganten Brasilien, repräsentiert durch die typischen Bilder der nationalistischen Pracht des «Estado Novo» (Neuen Staates) unter Präsident Getúlio Vargas, sowie den Tänzen des Popstars Carmen Miranda mit der Zeichentrickfigur Zé Carioca.
An diesem Punkt werden die Besucher:innen zu einer Interaktion eingeladen. Sie können darüber nachdenken, was es bedeutet, das eigene Land zu verlassen. Sie können in Rollen schlüpfen und die Gründe für die Auswanderung erörtern, Dialoge und Argumente über das Für und Wider einer solchen Entscheidung abwägen.
«Es ist sehr nützlich, dieses Rollenspiel mit Kindern durchzuführen. Um über die Gründe nachzudenken, die einen Menschen dazu bringen, sein Heimatland zu verlassen. Das Spiel hat sich besonders beim Besuch von Schulklassen bewährt. Dann haben etwa Flüchtlinge aus der Ukraine die Möglichkeit, mit ihren Schweizer Mitschüler:innen über die unfreiwillige Migration zu sprechen, die sie erlitten haben», erklärt Tatiana Andrade Vieira, Geschäftsführerin der Stiftung und Kuratorin der Ausstellung.
Letícia Venâncio, Professorin für interkulturelle Pädagogik an der Fachhochschule Nordwestschweiz, besuchte die Ausstellung und war begeistert. Sie weist darauf hin, dass es in einem Land wie der Schweiz, in dem fast vier von zehn Menschen einen Migrationshintergrund aufwiesen, sehr wichtig sei, dieses Thema im schulischen Kontext praxisbezogen zu behandeln.
Grosse Wirkung
Auf dem Weg durch die Ausstellung gibt es einen Zeitstrahl, der die wichtigsten Ereignisse innerhalb der 500jährigen Migrationsgeschichte von Schweizer:innen nach Brasilien aufzeigt. Der Schwerpunkt liegt auf den Familien aus dem Kanton Freiburg, die 1819 in den Staat Rio de Janeiro auswanderten und dort die Stadt Nova Friburgo gründeten.
Im Anschluss daran können Besucher:innen aller Altersschichten eine dunkle Kabine betreten, die einen Raum auf dem Schiff MS Copacabana simuliert. Nach dem Verlassen dieser schiffsähnlichen Dunkelkammer befinden sie sich im pulsierenden Rio de Janeiro, wo die berühmte Strandpromenade der Copacabana wartet.
Die euphorische Stimmung im Brasilien der 1940er und 1950er-Jahre ist im letzten Teil der Ausstellung verewigt. Der Raum ist ausgeschmückt mit Fotografien von Kurt Klagsbrunn, einem Österreicher jüdischer Herkunft. Der Arzt verliess Wien etwa zur gleichen Zeit wie Wüthrich die Stadt Basel. Auf der Flucht vor den Nazis fanden beide in Rio ihre Rettung und Freiheit.
In den Aufnahmen Klagsbrunns erscheint ein wunderbares Brasilien, ein Land, das Wüthrich zur zweiten Heimat wurde. Es ist Brasilien in seiner Blütezeit, bevor sich in Folge des Militärputsches von 1964 Dunkelheit über das Land legte.
Am Ende der Ausstellung bleiben die Besucher:innen fasziniert zurück. Sie wollen am liebsten noch mehr wissen über die Folgen, die eine persönliche Entscheidung zur Auswanderung im Gesamtgefüge der Dinge haben kann. Wie konnte ein junger Mensch, der zufällig die Schweiz verlies, eine ganze Generation von wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen zwei Ländern beeinflussen? Und wie konnte eine Lebensgeschichte ein Knotenpunkt im Geflecht der schweizerisch-brasilianischen Geschichte werden?
«Darum geht es genau: zu debattieren und zum Nachdenken anzuregen», sagt Kuratorin Tatiana Andrade Vieira. «Es handelt sich um eine Ausstellung, die viele Interpretationen zulässt. Und die Absicht ist gerade diese Offenheit, um alle Möglichkeiten von Identitäten einzubeziehen.»
Editiert von Balz Rigendinger. Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob
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