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Zucker – unser süsses Sorgenkind

Zuckerwürfel
Die Schweiz will weiterhin keine Zuckersteuer. © Keystone / Christian Beutler

In der Frühjahrssession lehnte das Parlament zwei Volksinitiativen ab, die Massnahmen in Bezug auf Zucker aus Gründen der öffentlichen Gesundheit forderten. Diese heikle Debatte verdeutlicht, wie schwierig es in der Schweiz ist, über Zucker zu sprechen. Und sie zeigt die Macht der Lobbys.

Nein heisst Nein – das ist seit 2017 die klare Botschaft des Bundesrats und einer Mehrheit des Parlaments, wenn es um Massnahmen zur Reduktion des Zuckerkonsums geht.

Auch auf kantonaler Ebene stösst das Thema auf Widerstand: Waadt, Neuenburg und Jura haben ähnliche Ideen bereits abgelehnt. Und auch die jüngsten Initiativen aus Genf und Freiburg haben im National- und Ständerat keine Unterstützung gefunden. Diese Entscheide sorgen bei Befürworter:innen einer Zuckersteuer für Frust.

Parlamentarier:innen aus Freiburg hatten gefordert, den Zuckergehalt auf der Nährwertdeklaration zu kennzeichnen und eine verständliche und leicht lesbare Angabe zur Pflicht zu machen. Genf wiederum wollte den Einsatz von zugesetztem Zucker in verarbeiteten Lebensmitteln und Industriegetränken restriktiv regulieren.

Der Freiburger Antrag wurde von der rechten Mehrheit des Nationalrats als überflüssig angesehen, da die Revision des Lebensmittelrechts die Angabe des Zuckergehalts ohnehin obligatorisch machen wird. Auch die EU befasst sich derzeit mit der Frage einer besser lesbaren Kennzeichnung. Das Parlament vertraut stattdessen auf die freiwilligen Anstrengungen der Industrie – es ist eine Position, die auch der Bundesrat teilt.

10% weniger Zucker bis 2024

Philippe Nantermod
Philippe Nantermod. Keystone / Anthony Anex

«Die Mailänder Erklärung hat bereits zu einer Reduktion des Zuckergehalts in Frühstücksprodukten geführt», sagt Philippe Nantermod, freisinniger Parlamentarier und Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Kultur und Bildung des Nationalrats.

Die Erklärung von Mailand wurde 2015 vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) ins Leben gerufen. «Sie verpflichtet Einzelhändler und Getränke- sowie Lebensmittelhersteller dazu, den Zuckergehalt ihrer Produkte freiwillig zu reduzieren», informiert BLV-Sprecherin Sarah Camenisch.

Aktuell haben sich 24 Schweizer Unternehmen für den Weg der Zuckerreduktion entschieden. Im Februar 2023 wurde die Mailänder Erklärung erweitert.

«Neu sind neben Frühstückszerealien und Joghurt auch Erfrischungsgetränke, Milchgetränke und Quark Teil der Selbstverpflichtung. Die unterzeichnenden Unternehmen haben sich das Ziel gesetzt, den Zuckergehalt dieser Produkte bis Ende 2024 um 10% zu senken», sagt Camenisch.

«Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es uns in der Schweiz gelungen ist, alle Akteur:innen – von der Produktion bis zum Vertrieb – an einen Tisch zu bringen, um eine koordinierte Strategie mit freiwilligen Zielen umzusetzen», sagt die freisinnige Genfer Nationalrätin Simone de Montmollin.

«Diese Ziele werden von allen verfolgt und sind erfolgreich. Sie führen zu einem gemeinsamen Ergebnis. Mit der Einführung einer Steuer wäre eine solche Zusammenarbeit sicherlich nicht möglich gewesen.»

Coca-Cola lädt Parlamentarier:innen ein

Die Parlamentarierin betont, dass seit 2016 konkrete Ergebnisse erzielt wurden: Der Zuckergehalt in Frühstücksflocken wurde um 25% und in Joghurts um 9% reduziert. Die Mailänder Erklärung zielt darauf ab, zuckerhaltige Getränke und andere Produkte zu reduzieren.

«Im Februar wurden neue Ziele vereinbart, bei denen keine Verschlechterung der bisherigen Ergebnisse zu erwarten ist und ein Gesetz nicht unbedingt schnelleren Fortschritt ermöglichen würde», so de Montmollin.

Coca-Cola Schweiz erklärte auf Anfrage, dass das Unternehmen froh sei, der Mailänder Erklärung beigetreten zu sein. Schon vorher seien Massnahmen ergriffen worden. «Seit 2005 haben wir den Zuckergehalt in unserem Lebensmittelportfolio um mehr als 10% reduziert», sagt Sprecherin Natasja Sommer-Feldbrugge.

«Um die neuen Ziele zu erreichen, wird Coca-Cola Schweiz weitere Innovationen einführen.» Und weil diese Innovationen laut dem Unternehmen erklärt werden müssten, lud Coca-Cola die Parlamentarier:innen zu einem Essen inklusive Informationsveranstaltung am 15. März in Bern ein.

«Lobby ist zu mächtig»

Valérie Piller Carrard
Valérie Piller Carrard. Keystone / Alessandro Della Valle

Dieses Marketing ärgert die Befürworter:innen einer Zuckersteuer: «Die Zuckerlobby ist sehr stark», beobachtet die grüne Waadtländer Nationalrätin Léonore Porchet. «Neben Coca-Cola mobilisieren auch die Lebensmittelindustrie und Einzelhandelsriesen ihre Kräfte. Eine Zuckersteuer würde zwangsläufig ihre Geschäfte beeinträchtigen.»

Ihre sozialdemokratische Ratskollegin Valérie Piller Carrard aus Freiburg verweist auf Simone de Montmollin, die Mitglied des Verwaltungsrats der Schweizer Zucker AG ist, und darauf, dass die Zuckerlobby auch in der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur vertreten ist.

De Montmollin zeigt sich unbeeindruckt und erklärt: «Die Ausstandspflichten im Parlament sind sehr klar, und ich habe sie vollumfänglich wahrgenommen. Im Übrigen käme niemand auf die Idee, Parlamentarier:innen, die Mitglieder des Mieterverbands sind, zu bitten, sich nicht an Debatten zu beteiligen, die das Mietrecht betreffen», sagt sie.

«In der zweiten Sessionswoche haben sie sich ausgiebig dazu geäussert. Im Gegensatz zu ihnen entschied ich, nicht an der Zuckerdebatte teilzunehmen, obwohl ich nicht dazu verpflichtet gewesen wäre.»

Dennoch fühlen sich die Befürworter:innen einer Zuckersteuer aufgrund der starken Lobby machtlos: «Im Vergleich dazu haben die Partner:innen im Gesundheitswesen und die Organisationen, die etwa die Interessen der Patient:innen und Konsument:innen vertreten, sehr begrenzte Mittel, um Präventionsmassnahmen zu fordern», sagt Léonie Chinet, Generalsekretärin von Diabetesvaud, der Vereinigung der Diabetiker:innen im Kanton Waadt.

Die Welt handelt, die Schweiz zögert

«Weltweit haben fast 80 Länder eine Zuckersteuer eingeführt, mit unterschiedlichen Modellen. Es ist bedauerlich, dass man es in der Schweiz nicht einmal versuchen will», sagt die sozialdemokratische Genfer Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle. «Man hält einfach an der Mailänder Erklärung fest.» Doch eine Senkung des Zuckergehalts in Getränken um 10% sei nichts als Augenwischerei, kritisiert sie.

«Weltweit haben fast 80 Länder eine Zuckersteuer eingeführt, mit unterschiedlichen Modellen. Es ist bedauerlich, dass man es in der Schweiz nicht einmal versuchen will.»

Laurence Fehlmann Rielle

Ratskollegin Piller Carrard ergänzt: «Es ist bedauerlich, dass wir das Problem nicht aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheit betrachten. Andere Länder haben sich mit Erfolg dieser Problematik angenommen, und das aus gutem Grund.»

«In der Schweiz ist der Zuckergehalt in einem Deziliter Fanta doppelt so hoch wie in Grossbritannien, obwohl die WHO empfiehlt, nicht mehr als sechs Teelöffel Zucker pro Tag zu konsumieren. In der Schweiz liegt der Pro-Kopf-Verbrauch sogar viermal so hoch.»

Fehlmann Rielle betont, dass Grossbritannien ein gutes Beispiel sei. «Die Behörden haben die Industrie zwei Jahre im Voraus darüber informiert, dass sie Getränke mit Zuckerzusatz besteuern werden. Dadurch konnten sich die Unternehmen anpassen und den Zuckergehalt in ihren Getränken reduzieren, um weniger Steuern zahlen zu müssen. In Portugal führten die Behörden ebenfalls eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke ein – man konnte schnell einen deutlichen Rückgang des Konsums feststellen.»

Porchet verweist auf Chile als Beispiel: «Dort litten schon sehr junge Kinder an Fettleibigkeit. Die Regierung hat durch eindeutige Kennzeichnung von Produkten Massnahmen ergriffen, die zu beeindruckenden Ergebnissen geführt haben: Der Konsum von zuckerhaltigen Getränken sank um fast 25%.» Und Kolumbien habe als einer der letzten Staaten in diesem Jahr eine Steuer auf ultra-verarbeitete Lebensmittel eingeführt.

Appell an die Eigenverantwortung

Gegner:innen der Steuer in der Schweiz verweisen auf die individuelle Verantwortung für die eigene Gesundheit. «Ich denke, dass jede:r Bürger:in für seine Ernährung verantwortlich ist», sagt Nantermod.

«Was die Erziehung von Kindern betrifft, liegt die Hauptverantwortung bei den Eltern, während Schulen auch eine Rolle spielen – dies fällt jedoch in den Zuständigkeitsbereich der Kantone, nicht des Bundes.»

Porchet ist dennoch alarmiert: «80% der verarbeiteten Lebensmittel enthalten zugesetzten Zucker. Wir leben eindeutig in einer diabetogenen Gesellschaft. Und wir sind nicht alle gleich, wenn es um Zucker geht.» Die steigende Zahl von Kindern, die an Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes erkranken, zeige, dass individuelle Verantwortung allein nicht ausreiche, um dieses Problem zu lösen.

«Es ist verrückt», fasst Piller Carrard die Debatte zusammen. «Wenn es um Zucker geht, wird es sehr schnell angespannt.» Sie habe mit Rübenanbauenden gesprochen und ihnen versichert, dass die geplante Steuer die Produktion nicht beeinträchtigen werde.

«Leider sind es immer nur die Sozialdemokratie und die Grünen, die sich für diese Problematik interessieren», bedauert Fehlmann Rielle und betont, dass die öffentliche Gesundheit unabhängig von politischen Richtungen Priorität haben sollte.

>> Reportage aus der Zuckerfabrik in Aarberg im Kanton Bern, der grössten Zuckerproduktionsanlage der Schweiz:

Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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