Humanitäre Tradition: der Stolz der Schweiz
Seit Jahrhunderten bietet die Schweiz in unterschiedlichem Mass religiös und politisch Verfolgten Asyl. Darauf gründet die Humanitäre Tradition des Landes.
Seit den 1980er Jahren wird der Begriff «Humanitäre Tradition» verstärkt politisch besetzt – sowohl von den Gegnern als auch den Befürwortern einer restriktiveren Asylpraxis.
Als im 16. und 17. Jahrhundert in Frankreich Hugenotten und Waldenser wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, flüchteten mehrere zehntausend Personen in die Schweiz und fanden in den reformierten Kantonen, insbesondere in Genf, Aufnahme. Vom Sonnenkönig Louis XIV. wird berichtet, er habe sehr ungehalten auf die grosszügige Asylgewährung der Schweiz reagiert.
Doch nach 1792 sollten auch französische Royalisten als Verfolgte der Revolution von der Schweiz aufgenommen werden. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert gilt die Schweiz als klassisches Asylland. Vor allem politisch Verfolgte fanden ab 1815 in der Schweiz vermehrt Aufnahme.
Da waren Liberale aus Deutschland, Aufständische gegen die russische Herrschaft aus Polen, Sozialisten und Anarchisten aus ganz Europa. Sie wurden geduldet, solange sie sich ruhig verhielten.
Dunant gründet das Rote Kreuz
Ein weiteres Element, das der Schweiz den Ruf eines Landes mit humanitärer Tradition eintrug, wurzelt ebenfalls im 19. Jahrhundert: Die Gründung des Roten Kreuzes 1863 in Genf.
Unter dem Eindruck des menschlichen Leids auf dem Schlachtfeld bei Solferino, wo sich 1859 Truppen Piemont-Sardiniens und Frankreichs auf der einen und die österreichische Armee auf der anderen Seite gegenüber gestanden hatten, veröffentlichte der Genfer Kaufmann Henry Dunant ein Buch, das die schrecklichen Zustände beschrieb.
In «Eine Erinnerung an Solferino» skizzierte Dunant auch, wie das Leid von Soldaten und Zivilpersonen bei kriegerischen Auseinandersetzungen verringert werden könnte. Damit warb der Humanist in ganz Europa. Seine Ideen stiessen auf Zustimmung. Am 17. Februar 1863 gründeten Mitglieder der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft ein Internationales Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege.
Seit 1876 trägt die Organisation den heute noch gebräuchlichen Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Als unparteiische, neutrale und unabhängige Organisation hat sich das IKRK seither in unzähligen Konflikten um das Wohlergehen von zivilen Opfern, Kriegsversehrten und Gefangenen gekümmert. Der grösste Teil des jährlichen Budgets von rund 1 Mrd. Franken (2006) stammt von der Schweiz.
Kontroverse um Rolle im Zweiten Weltkrieg
Im 20. Jahrhundert erlebte die schweizerische Asylpolitik, die im historischen Rückblick als ein zentrales Moment der Humanitären Tradition gilt, eine wechselvolle Geschichte. Für Kontroversen sorgte die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Insbesondere die Zurückweisung jüdischer Flüchtlinge an der Grenze stiess auf Kritik. So galten Juden bis 1944 nicht als politisch Verfolgte, sondern lediglich als «Flüchtlinge aus Rassengründen», was kein ausreichender Grund für eine Aufnahme in der Schweiz darstellte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte die Schweiz zu einer grosszügigeren Aufnahmepraxis zurück. Grosse Flüchtlingsgruppen, insbesondere aus kommunistischen Staaten, fanden Aufnahme. So gewährte die Schweiz 1956 rund 7000 Menschen dauerhaft Asyl, die nach der Niederschlagung des Volksaufstands aus Ungarn geflüchtet waren, 1968 fanden 12’000 Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei Aufnahme.
Aus Polen flüchteten nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 rund 2500 Menschen in die Schweiz. Diese vergleichsweise grosszügige Asylpraxis fand mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt ein Ende. Wer in der Schweiz um Asyl nachsuchte, stand ungleich schneller im Verdacht, «nur» aus wirtschaftlichen, nicht aber aus politischen Gründen die Heimat verlassen zu haben.
Politisches Ringen um einen Begriff
Seit den 1980er-Jahren ist die schweizerische Asylgesetzgebung mehrere Male revidiert worden. Eines der Ziele dieser Revisionen war es, die Schweiz weniger attraktiv erscheinen zu lassen für Asylsuchende. In den Debatten tauchte immer wieder der Begriff der humanitären Tradition auf, sowohl von staatlicher Seite, die eine restriktivere Asylpraxis anstrebte, als auch von den Befürwortern eines liberalen Regimes.
Deutlich manifestierte sich dieses Ringen um die Definition der Asylpolitik im Vorfeld der Abstimmung im Herbst 2006. Unter dem Titel «Humanitäre Tradition der Schweiz wahren – Missbräuche verhindern» warben kantonale und Bundesbehörden für Zustimmung zu einer weiteren Revision des Asylgesetzes.
Als eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung die Verschärfung der Asylpraxis guthiess, kritisierten die unterlegenen Kreise, dass sich die Schweiz mit dem neuen Gesetz von ihrer humanitären Tradition verabschiedet habe. Damit wurde der Begriff neben seiner historischen Bedeutung um eine kontroverse, politische Dimension erweitert, die auch bei jeder kommenden Asyldebatte eine Rolle spielen wird.
Die Humanitäre Tradition der Schweiz gründet auf der historischen Rolle als Asylland und dem Roten Kreuz, das 1863 in Genf gegründet wurde.
Im 19. Jahrhundert fanden politisch Verfolgte aus ganz Europa in der Schweiz Asyl.
Für Kontroversen sorgte die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg: Hätte die Schweiz mehr jüdische Flüchtende aufnehmen können?
Im 20. Jahrhundert fanden vor allem Flüchtlinge aus kommunistischen Staaten Osteuropas Aufnahme in der Schweiz.
Wird heute die Asylgesetzgebung verschärft, erfolgt dies mit dem Argument die «Humanitäre Tradition» der Schweiz zu wahren.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch