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#detrans: Die bekannteste trans Person der Schweiz will keine Frau mehr sein

Nadia Brönimann am Zürichsee
"Ganz zurück kann ich sowieso nicht, körperlich nicht, aber auch als Mensch nicht", sagt die bekannteste trans Person der Schweiz nach ihrem "zweiten Outing". Marc Leutenegger

Als aus Chris Brönimann Nadia wurde, schaute die ganze Schweiz zu. Jetzt hat die bekannteste trans Person des Landes ihre Transition bedauert ‒ keine Läuterungsgeschichte, aber ein post-wokes Plädoyer.

«Chris/Nadia» steht unter der SMS, die den Treffpunkt bestätigt. Es ist Spätsommer, klare Luft liegt über dem Zürichsee im kleinen Städtchen Lachen. Im Café an der Promenade, wo Nadia/Chris Brönimann Teilzeit arbeitet, ist nicht viel los. So wie im Leben der ehemals bekanntesten trans Frau der Schweiz wieder etwas Ruhe eingekehrt ist. Zumindest vorerst.

Nur ein paar Tage sind vergangen, seit Brönimanns Abkehr von der Transition in allen Zeitungen des Landes stand, das Postfach auf Instagram volllief, mit Hass und Zuspruch.

Transsexualität polarisiert in der Schweiz wie in vielen westlichen Gesellschaften. Man spricht von Gender-Dysphorie. Gemeint ist, dass sich Personen nicht mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren.

Die Diagnose hat gerade bei Jugendlichen stark zugenommen; in vielen europäischen und angloamerikanischen Ländern um mehr als das ZehnfacheExterner Link seit der Jahrtausendwende. Im falschen Körper wähnen sich vor allem junge Frauen.

Obschon die Gesellschaften offener geworden sind, bleiben Hormontherapien und chirurgische Eingriffe ins Geschlecht umstritten. Ehemals progressive Länder wie Schweden, Norwegen und Grossbritannien haben die Verschreibung von Pubertätsblockern an Jugendliche verboten oder deren Abgabe auf den Rahmen von Studien beschränkt.

Viele Schlüsselfragen zur Transition sind nicht genügend geklärt. Es tobt ein Streit um die Deutungshoheit, auch unter Medizinerinnen und Medizinern. Gleichzeitig wird das Transgenderthema politisch instrumentalisiert wie zuletzt bei den US-Präsidentschaftswahlen.

Gender-Etiketten

Im Café am Zürichsee bleibt diese politische Dimension zunächst ausgeklammert. Das Gespräch dreht sich erst einmal um die persönliche Situation, die Gründe für das «Outing», mit dem Brönimann erneut an einem Tabu rührt und in die Öffentlichkeit rückt.

Seit drei Jahren schon entfernt sich Brönimann immer mehr von Nadia. Denn deren Bild aufrecht zu erhalten, sei mit der Zeit zu einer Pflicht geworden, einem täglichen Schauspiel.

Überhaupt: «Der Druck auf trans Personen, die Rolle als Mann oder als Frau voll auszufüllen, ist enorm», sagt Brönimann. «Man ist unter Dauerstrom, immer sind die Sensoren an: Genüge ich, bin ich weiblich genug?»

«Das ist, was viele nicht verstanden haben. Mein Outing ist nicht einfach ein Schritt zurück zu Christian.»

Nadia Brönimann

Hier lauern Zwänge, Scham, ein Selbstbild, das einseitig vom Geschlecht dominiert wird. Brönimann wollte sich aus dieser Enge lösen.

«Das ist, was viele nicht verstanden haben. Mein Outing ist für mich nicht einfach ein Schritt zurück zu Christian. Ganz zurück kann ich sowieso nicht, körperlich nicht, aber auch als Mensch nicht. Beide, Christian und Nadia, sind ein Teil von mir. Seit dem Outing kann ich meine Identität neu entdecken.»

Natürlich seien da auch Unsicherheiten und Ängste und die Frage: «Werde ich jetzt zu einem Freak?»

In Emails und Messages hätten die Leute gefragt: «Dann bist du jetzt nonbinär?» Eben das sei heute das Problem.

«Man tut alle Möglichkeiten auf, schubladisiert aber auch alles. Ich möchte erst einmal kein Label haben. Ich will entdecken, wo meine individuelle Seele als Mensch ist, meine innere Heimat, nicht als Mann, Frau oder nonbinäre Person.»

Es ist Kritik an der Identitätspolitik, die in Brönimanns Aussagen anklingt. Aber da ist noch mehr.

Woke und Anti-Woke

Ein paar Wochen nach dem Treffen am Zürichsee steht Brönimann in Genf vor der Menschenrechtskommission des Grossen Rats, die sich ein Bild über das Thema der Geschlechtsangleichung machen will, und tritt in Lausanne mit einem Vater vor die Medien, der sich gegen eine Transition seiner noch minderjährigen Tochter wehrt.

Brönimann vertritt schon seit ein paar Jahren eine klar konservative Linie, wenn es um Jugendliche geht: Die frühere Ikone der Schweizer trans Szene lehnt chirurgische Eingriffe bei unter 18-Jährigen wie auch Pubertätsblocker und Hormonbehandlungen ab.

«Geschlechtsanpassungen verkommen zum woken Lifestyle.»

Nadia Brönimann

Diese Haltung hat Brönimann vor dem Auftritt in Lausanne auch gegenüber dem SonntagsblickExterner Link erläutert und dabei die liberale Praxis in der Schweiz kritisiert.

Diese vertraue zu sehr auf die Selbstdiagnose der Jugendlichen und ermögliche so vorschnell medizinische Behandlungen – ein Phänomen, das durch wie Tiktok und Instagram verstärkt werde. «Geschlechtsanpassungen verkommen zum woken Lifestyle», so Brönimann.

Dahinter steckt die vor allem in konservativen Kreisen verbreitete, aber umstrittene Theorie einer sozialen Ansteckung, für die der Begriff «rapid onset gender dysphoria» (ROGD) geprägt wurde.

Gemeint ist, dass sich vulnerable Jugendliche im falschen Geschlecht wähnen, weil sie in den sozialen Medien wiederholt mit dieser Vorstellung konfrontiert wurden.

Die Zeitung liess ein paar Tage später einen Arzt aus dem Umfeld des Transgender Network Switzerland (TGNS) replizierenExterner Link, der die Kritik Brönimanns zurückwies. Seine Botschaft: Die Fälle in der Schweiz würden sorgfältig abgeklärt.

Das ist auch die offizielle Haltung des nationalen Interessenvereins der trans Menschen in der Schweiz. In einer Medienmitteilung schreibt TGNS: «Eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Gründen für steigende Zahlen bei Geschlechtsangleichungen oder therapeutischen Massnahmen fehlt oftmals oder wird zugunsten populistischer Schlagworte wie ‘Woke-Wahnsinn’ vereinfacht.»

Dass heute mehr trans Personen «zu einem früheren Zeitpunkt angemessene Behandlungen erhalten» würden, sei auf den einfacheren Zugang zu Behandlungen und eine höhere Sensibilisierung beim Gesundheitspersonal zurückzuführen.

Die Mitteilung zitiert zudem eine im August im «American Journal of Surgery» erschienene StudieExterner Link, wonach die «Regret-Rate», also der Anteil der Personen, die ihre Transition bedauern, bei unter einem 1 Prozent liege. Die Zahl, die schon frühere Studien genannt haben, ist umstritten.

Wissensdefizite

Einen Fragenkatalog zu Brönimanns Outing lässt das Transgender Network unbeantwortet. Wie es auf Nachfrage heisst «wegen der grossen Zahl der Medienanfragen». Die bekannteste trans Person des Landes und das Transgender Netzwerk können nicht gut miteinander.

Kritik an der transaffirmativen Behandlungspraxis, die den Wunsch der Patientinnen und Patienten ins Zentrum stellt, kommt aber nicht allein von ehemaligen trans Personen, sondern auch aus medizinischen Kreisen.

Mitte Jahr forderteExterner Link die Schweizerische Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Überarbeitung der neuen Behandlungsleitlinie für Jugendliche und Kinder mit Geschlechtsdysphorie.

Der Verband schloss sich damit einer Erklärung der Europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft an. Das Gremium hatte die wissenschaftliche Evidenz des sogenannten Dutch Protocols, an dem sich die affirmative Behandlungspraxis orientiert, als schwach kritisiert. Auch gebe es Hinweise, dass Pubertätsblocker und Hormone Gesundheitsschädigungen verursachen.

Vieles, was über den Nutzen oder die Risiken der Transition behauptet wird, ist wissenschaftlich schlecht belegt.

Das Defizit der Forschungslage machte vor drei Jahren unter anderem der vom englischen Gesundheitsministerium bestellte Nice-ReportExterner Link deutlich. Die Untersuchung sollte durch die Auswertung existierender Studien den klinischen Nutzen von Pubertätsblockern klären. Von 525 Arbeiten qualifizierten sich aber nur deren 9 für eine Auswertung.

Ein Bruch und doch keiner

Fälle wie derjenige Brönimanns werden von Kritikerinnen und Kritikern gerne als Beleg für die Gefahren transaffirmativer Behandlungen herangezogen.

Nicht immer ist dieser Zugriff differenziert: Der amerikanische Kurzfilm «Detrans»Externer Link zeigt junge Erwachsene, die einen Irrweg und ihre Erlösung in der Detransition beschreiben ohne Gegenargumente. Absender sind christlich-konservative Kreise.

Brönimann würde dafür nicht Hand bieten. «Ich spreche mich natürlich nicht pauschal gegen alle Transitionen ein. Im Gegenteil, ich freue mich für jeden einzelnen trans Menschen, der die Transition erfolgreich durchlaufen hat und der so sein Glück finden durfte. Worum es mir geht, ist eine saubere Abklärung der Fälle, dass eine Differenzialdiagnose gemacht wird, also andere Ursachen für psychische Leiden geprüft werden – um die bestmögliche Vorsicht bei irreversiblen Eingriffen. Und es geht mir um eine offene Gesellschaft, in der Transpersonen ihren festen, gleichwertigen Platz haben, die aber eine kritische Diskussion zulässt.»

Chaos oder Regenbogen

Als aus Christian Nadia wurde, kurz vor der Jahrtausendwende, war Brönimann Ende zwanzig. Das Schweizer Fernsehen zeigte alles in Grossaufnahme. Acht Jahre lang hatte Filmer Alain Godet Brönimann begleitet, für einen DokumentarfilmExterner Link, der eine Transformation, aber keine Befreiung zeigt.

Alain Godet hat den Stationenweg von Nadias Frauwerdung acht Jahre lang mit der Kamera aufgezeichnet, der Film von 2004 ist ein Portrait in Nahaufnahme:

Externer Inhalt

Am Ende des Films fragt er: «Wenn du jetzt zurückschaust, würdest du alles nochmals machen?» Brönimann blickt nachdenklich und sagt: «Stell Dir mal das Chaos vor, das ausbricht, wenn ich sagen würde: Nein. Dann wäre ich so richtig in der Sackgasse.»

Der Mensch, der da am Zürichsee sitzt, macht einen anderen, einen gefassten Eindruck.

Während der Recherche gehen noch viele Mails hin und her. Brönimann zeichnet sie mit einem Regenbogen und dem Satz: «Es bunts Grüessli zu Dir, Chris/Nadia».

Editiert von Balz Rigendinger

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