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Kühlschrank mit gratis Lebensmittel für die Bedürftigsten

Fast eine Person von zehn leidet in der Schweiz unter Armut oder ist davon bedroht. Das staatliche soziale Sicherheitsnetz und verschiedene Stiftungen helfen. Es gibt aber auch immer mehr Bürgerinitiativen, um die Betroffenen zu unterstützen. Ein Beispiel ist die vor einem Jahr gegründete Neuenburger Verein Free Go.

Hinter einem schwarzen Paravent, im hinteren Teil der Werkstatt des Vereins Sym’Bôle, geht Lilian durch die Regale eines Kühlschranks. Sie wählt ein paar Zwiebeln, einen Salat und eine Portion Linsen mit Poulet aus und packt alles in ihre Tasche, in die sie bereits etwas Brot gelegt hat. Die Rentnerin kommt regelmässig zum Free Go, um gratis unverkaufte Lebensmittel zu holen. Wenn sie kann, legt sie ein Geldstück in das Sparschwein neben dem Kühlschrank. «Ich finde hier Gemüse, um gute Suppen zu machen», sagt sie. «Manchmal gibt es sogar Kuchen!»

Das Angebot variiert in normalen Zeiten von Tag zu Tag. Jetzt musste auch Free Go den Betrieb aussetzen, wegen der Covid-19 Pandemie.  

Kostenlose Lebensmittel sind gefragt. Freiwillige Helfer und Helferinnen sammeln nicht verkaufte Waren aus der Region und verteilen sie in den vier im Kanton Neuenburg aufgestellten KühlschränkenExterner Link.

Marilyn Béguin ist Gründerin und Präsidentin des Vereins Free Go. «Unser Ziel ist es, die Verschwendung von Nahrungsmitteln zu vermeiden, Menschen in Not zu helfen und gleichzeitig das Bewusstsein für die Auswirkungen des Überkonsums zu schärfen», erklärt sie.

Der Stromverbrauch für die Kühlschränke von Free Go wird von den Eigentümern der Räumlichkeiten, in denen sie untergebracht sind, bezahlt. Auch Temperatur- und Inhaltskontrollen sind garantiert, um sicherzustellen, dass keine ungeniessbaren Produkte angeboten werden. Beim Abholen der gekochten Mahlzeiten beispielsweise stellen die freiwilligen Helfer und ihre Partner sicher, dass die Kühlkette eingehalten wird, um die Lebensmittel nicht zu beschädigen.

Die Free Gos finden sich an unscheinbaren Orten. Menschen, die gerne von dem Angebot profitieren möchten, sollen nicht aus Scham davon absehen. Sobald neue unverkaufte Produkte im Kühlschrank liegen, wird eine Anzeige auf den Facebook-Seiten der Orte, an denen die Kühlschränke aufgestellt sind, gepostet. Und nur wenig später hat alles bereits einen Abnehmer oder eine Abnehmerin gefunden.

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Ernährung und Armut: eine komplizierte Beziehung

«Wir wissen, was Prekarität bedeutet und kennen Menschen, die darunter leiden. Wir arbeiten im Sozialen. Einerseits haben wir jeden Tag mit diesen Menschen zu tun und gleichzeitig sehen wir, was wir alles wegwerfen», sagt Béguin. «Es gibt Menschen, die uns dafür danken, weil sie sich mit unseren unverkauften Produkten ein Essen kochen konnten. Aber es fällt uns schwer, auf diese Aktion stolz zu sein, denn für uns ist sie eine Selbstverständlichkeit.»

Menschen in prekären Situationen gesunde Gerichte und lokale Lebensmittel anzubieten, ist wichtig. Studien zum Einkommen und Konsum zeigen nämlich, dass der Kauf von Lebensmitteln in Krisenzeiten eine konkrete Möglichkeit ist, Geld zu sparen.

Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung warnt davor, dass billigere Nahrung zwar eine hohe Energiedichte, aber nur eine geringe Nährstoffdichte habe. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Fettleibigkeit vor allem die Armen trifft. Die WHO hat wegen der Mangelernährung der Einkommensschwachen bereits Alarm geschlagen.

Viel zu viel Lebensmittelverschwendung

Jedes Jahr wandern in der Schweiz 2,6 Millionen Tonnen noch geniessbare Lebensmittel in den Müll. Nach Angaben des Bundesamtes für Umwelt könnten zwei Drittel dieser Abfälle vermieden werdenExterner Link. Haushalte, Restaurants und Geschäfte sind für mehr als die Hälfte (54%) dieser Abfälle verantwortlich.

Von ihnen bezieht der Verein seine Lieferungen. Es ist Free Go gelungen, neun lokale Partner davon zu überzeugen, ihre unverkauften Waren zur Verfügung zu stellen: Die Fertiggerichte kommen aus einer Küche aus der Gemeinde, während Brot und Gemüse in Geschäften der Region gesammelt werden.

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Kai Reusser / swissinfo.ch

In der Schweiz gibt es verschiedene Initiativen zur Bekämpfung von Food Waste. Das Land hat sich im Rahmen der von der UNO ausgearbeiteten Agenda 2030 verpflichtet, die Nahrungsmittelverluste deutlich zu reduzieren. Im Gegensatz zu «Too Good to Go», das unverkaufte Lebensmittel zu reduzierten Preisen anbietet, und zu den Caritas-Lebensmittelgeschäften, braucht man für die Nutzung von Free Go keine Mitglieds- oder Kreditkarte.

Frei zugängliche Kühlschränke scheinen ein demokratisches und funktionierendes Mittel zur Bekämpfung von Food Waste zu sein. Es gibt sie in der ganzen Schweiz. In der Deutschschweiz hat der Verein Restessbar.chExterner Link das Konzept lanciert, während in der Westschweiz mehrere Städte über die Einrichtung eines eigenen Konzepts nachdenken.

Kaum ein Jahr alt, hat der Verein Free Go bereits eine erste Spendenkampagne lanciert, um den Kauf einer Kühltruhe zu finanzieren. «So können wir beispielsweise mehr warme Mahlzeiten in Kindertagesstätten und Altersheimen sammeln», erklärt Béguin. Lilian und die anderen Menschen, die auf die unverkauften Lebensmittel angewiesen sind, werden sich freuen.

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(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)

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