Tennis: Ist Roger Federer der Grösste aller Zeiten?
Der Schweizer Tennisstar Roger Federer wird am Sonntag 40 Jahre alt. Die Diskussionen über seinen Rücktritt, sein Vermächtnis und seinen Platz unter den Tennisgöttern nehmen zu. Ist er der "GOAT", der Grösste aller Zeiten (Greatest Of All Time) im Männertennis? Entscheiden Sie – nachdem wir Ihnen die fünf wichtigsten Anwärter vorgestellt haben.
Nur wenige Dinge versetzen die Fans so sehr in Aufregung wie die Debatte darüber, wer der Beste oder die Beste der Besten in einer bestimmten Sportart ist. Marciano oder Ali im Boxen? Comăneci oder Biles im Kunstturnen? Pelé oder Maradona im Fussball – oder etwa Messi oder Ronaldo? Vielleicht aber auch jemand anderes?
In vielerlei Hinsicht ist das ein albernes Unterfangen: Die Fortschritte in den Bereichen Ernährung und Technologie – und das allgemeine Niveau der Professionalität – machen es unmöglich und sinnlos, den Sprinter Jesse Owens (1913-1980) mit Usain Bolt (*1986) zu vergleichen. Oder die Schweizer Skilegende Vreni Schneider (*1964) mit Lindsey Vonn (*1984).
Beim Tennis sind Vergleiche zwischen den Epochen besonders schwierig. Bis 1968 und dem Beginn der so genannten Open-Ära war es Profis verboten, an den vier Grand-Slam-Turnieren (Australian Open, French Open, Wimbledon, US Open) teilzunehmen. Hinzu kam das Ende der Holzschläger in den frühen 1980er-Jahren (Yannick Noah war 1983 der letzte männliche Spieler, der einen Grand-Slam-Titel mit einem Holzschläger gewann).
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Trotzdem machen solche Vergleiche Spass! Also, los geht’s. Für mich sind die fünf Spieler, die für die Wahl zum «GOAT» in Frage kommen – in alphabetischer Reihenfolge –, Björn Borg, Novak Djokovic, Roger Federer, Rod Laver und Rafael Nadal. Ja, diese Liste ist natürlich subjektiv – wenn Sie anderer Meinung sind, lassen Sie es mich in der Debatte unter dem Artikel wissen!
Wie definieren Sie «der Grösste»? Das Kriterium, das wohl am meisten Beachtung findet, ist die Anzahl der Grand-Slam-Titel. Ich berücksichtigte aber auch – in unterschiedlichem Mass – die Wochen, die ein Spieler auf Platz 1 der Weltrangliste stand, andere Rekorde, die Schönheit seines Spiels, sein natürliches Talent und seine Vielseitigkeit.
Björn Borg
Borg (geb. 1956 in Stockholm, Schweden) spielte im Alter von 15 Jahren zum ersten Mal für sein Land im Davis Cup. Als er sich zehn Jahre später ausgebrannt zurückzog, hatte er elf Grand-Slam-Titel gesammelt – sechs auf dem Rasen von Wimbledon und fünf auf dem Sand von Roland Garros (French Open), was von einer seltenen Anpassungsfähigkeit zeugt.
Er wird auch für sein eiskaltes Temperament in Erinnerung bleiben, dafür, dass er vier US-Open-Finals verloren hat, dass er einer der ersten Spitzenspieler war, die eine beidhändige Rückhand benutzten, und dass er einer der letzten war, die mit einen Holzschläger spielten.
Zu seinen Rekorden (alle Rekorde in diesem Artikel beziehen sich auf die Open-Ära) gehören die meisten Matchgewinne bei Grand Slams (89,2%) und an den neun Masters-Turnieren (82,8%). Er kann auch auf die beste Gewinnbilanz gegen Top-Ten-Spieler in allen Turnieren zurückblicken (71,3%).
Borg hält zudem den Rekord für die meisten in Folge gewonnenen Spiele an einem Grand-Slam-Turnier (41 in Wimbledon) und die längste Siegesserie bei allen Titeln (10) und allen Spielen (49).
Seine Topspin-Schläge und die unglaubliche Fitness haben dazu beigetragen, den Stil zu entwickeln, der das Spiel heute dominiert. Wer weiss, wie viele Titel er noch gewonnen hätte, wenn er sich nicht bereits mit 26 Jahren zurückgezogen hätte?
Novak Djokovic
Djokovic (geb. 1987 in Belgrad, damals Jugoslawien, heute Serbien) teilt sich mit Federer und Nadal den Rekord von 20 Grand-Slam-Einzeltiteln und mit Nadal jenen der meisten Masters-Titel (36). Aber viele grosse Rekorde hält er auch allein.
Dazu gehören die Gesamtzahl der Wochen als Nummer 1 der Welt (331 bis heute, und jede Woche kommt wieder eine dazu) sowie die Tatsache, dass er der einzige Spieler ist, der alle neun Masters-Turniere gewonnen hat (alle sogar mindestens zweimal).
Er stand bei jedem Grand-Slam-Turnier in mindestens sechs Endspielen, sammelte als Weltranglisten-Erster die meisten Punkte (16’950) und hat die längste Siegesserie bei Grand-Slam-Turnieren (30 Spiele). Er hat die beste Match-Sieg-Bilanz von allen (83,3%) und verzeichnete mehr Siege als Niederlagen gegen Federer und Nadal.
War Djokovics Tennisniveau im Jahr 2016 das höchste aller Zeiten? Die Website «Ultimate Tennis Statistics» ist genau dieser Meinung: In ihrer Elo-WertungExterner Link (welche die Stärke der Gegner berücksichtigt) liegt er nur knapp vor Borg im Jahr 1980. Und er führt auch deren «GOAT»-ListeExterner Link an, knapp vor Federer.
Allerdings hat Djokovic noch nie einen Grand-Slam-Titel ohne Satzverlust gewonnen, was Nadal viermal und Federer zweimal gelungen ist. Das Publikum liebt ihn nicht, und einige Kritiker beschweren sich über sein langweiliges, roboterhaftes Tennis.
Aber dank seiner rhythmischen Konstanz, seiner unvergleichlichen Beweglichkeit und seinem Selbstvertrauen ist er einfach unglaublich schwer zu schlagen. Weitere Grand-Slam-Titel – und heftige Wutausbrüche – scheinen gewiss.
Roger Federer
Federer (geb. 1981 in Basel, Schweiz) teilt sich mit Djokovic und Nadal den Rekord von 20 Grand-Slam-Titeln im Einzel und hält den Rekord für die meisten aufeinanderfolgenden Wochen auf Platz 1 (237).
Dank seiner Beständigkeit und einer langen Karriere im Männertennis hält er zahlreiche andere Rekorde. Er rangierte beispielsweise rekordmässige 958 Wochen – also mehr als 18 Jahre – in den Top Ten, wo er bis heute platziert ist (gegenwärtig auf Rang 9). Und er war im Alter von 36 Jahren die älteste Weltnummer 1 aller Zeiten.
Federer hat die meisten Grand-Slam-Matches gewonnen (369) und die meisten Endspiele erreicht (31). Ausserdem hat er das ATP-Finale am Ende der Saison (mit den acht besten Spielern des Jahres) sechs Mal gewonnen und gilt als Meister der Tiebreaks (65,36% gewonnen).
Einige Zweiflerinnen und Zweifler behaupten, dass die Gegner in mehreren seiner früheren Grand-Slam-Finals schwächer gewesen seien als die Gegner von Djokovic und Nadal, gegen die Federer eine negative Bilanz aufweist. Dass er 2019 in Wimbledon gegen Djokovic verlor, obwohl er bei eigenem Aufschlag zwei Championship-Punkte hatte, muss ihm wohl schwer zu schaffen machen.
Seine Beliebtheit bei den Fans steht jedoch ausser Frage: Seit 2003 hat er jedes Jahr den «ATPTour.com Fans› Favourite»Externer Link gewonnen. Ausserdem wurde er bereits fünfmal mit dem «Laureus World Sports Award»Externer Link als Weltsportler des Jahres und 13-mal mit dem «Stefan Edberg Sportsmanship Award» ausgezeichnet.
Auf dem Platz ist er mit seinem mühelos wirkenden, eleganten Stil wahrscheinlich der talentierteste Spieler aller Zeiten. Einfach ausgedrückt: Es ist eine Freude, ihm zuzusehen, und niemand hat so viele Highlights zu bieten wie er.
Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace schrieb 2006 von «Federer-Momenten»Externer Link: «Das sind die Momente, wenn man dem jungen Schweizer beim Spielen zusieht, wenn einem die Kinnlade runterfällt, die Augen hervorstehen und man Geräusche gemacht, welche die Ehepartner aus anderen Zimmern hereinholen, um nachzusehen, ob es einem gut geht.»
Abseits des Platzes werden die Werbetreibenden von seinem sauberen und stilvollen Image und seiner weltweiten Popularität angezogen. Mit einem Wort: von seiner Klasse. Wie das Wirtschaftsmagazin Forbes feststellteExterner Link, «verfügt Federer über ein Sponsorenportfolio, das in der Sportwelt unübertroffen ist. Das machte ihn 2020 zum ersten Mal zum bestbezahlten Sportler der Welt».
Rod Laver
Rod «the Rocket» (die Rakete) Laver (geb. 1938 in Rockhampton, Australien) ist schwer einzuschätzen, weil er zwischen 1963 (als er Profi wurde) und 1968 (Beginn der Open Ära) nicht an den vier Grand Slams teilnehmen durfte.
Trotzdem gewann er 11 Titel und bleibt der einzige männliche Spieler, der den Grand Slam (Gewinn aller vier Grand-Slam-Titel im selben Jahr) erreicht hat.
Er schaffte dies sogar zweimal: als Amateur 1962 und als Profi 1969. Würden diese fünf fehlenden Jahre mitgezählt (als Laver die Nummer 1 der Welt war), wären 25 Grand-Slam-Titel durchaus im Bereich des Möglichen.
Wie hat er das geschafft? Laver war nicht gross (173 Zentimeter), aber er war stark, schnell, anpassungsfähig und konnte – wie Federer – alles: Er spielte grossartig Aufschlag und Volley, konnte sich aber auch auf die Grundlinie zurückziehen und auf aggressive Longline-Schläge setzen.
Laver war vor meiner Zeit. Die wenigen Clips von ihm in AktionExterner Link sind im Vergleich zum heutigen Spiel wenig beeindruckend, was vor allem auf die Rolle der leistungsfähigeren Schläger zurückzuführen ist. Aber warum sollte ich Federer widersprechen, der 2017 sagteExterner Link: «Laver ist der grösste Spieler aller Zeiten»?
Rafael Nadal
Nadal (geb. 1986 in Manacor auf Mallorca, Spanien) teilt sich mit Federer und Djokovic den Rekord von 20 Grand-Slam-Titeln im Einzel. Darunter finden sich aussergewöhnliche 13 Turniersiege in Roland Garros (French Open).
Nadal ist zweifelsohne der «GOATOC» («Greatest Of All Times On Clay», auf Sand), und das bei weitem. Er gewann 91,5% der Matches, die er jemals auf diesem Belag gespielt hat, und lässt damit alle anderen nur noch roten Staub beissen. Seine Siegesserie von 81 Matches auf Sand liegt weit vor den Rekorden auf Rasen (65) und Hartplatz (56), die beide von Federer gehalten werden.
Viele Jahre lang stand er in Federers Schatten. Er war rekordlange 370 Wochen – also sieben Jahre lang – die Weltnummer 2. Heute aber weist er eine bessere Matchgewinn-Bilanz (83,2%) als Federer aus (82%) und wird nur noch knapp von Djokovic (83,3%) übertroffen.
Auch auf anderen Unterlagen ist Nadal nicht schlecht: Er ist einer von nur fünf Männer, die alle vier Majors gewonnen haben (neben Laver, Agassi, Federer und Djokovic).
Zwar hat er noch nie die ATP-Finals gewonnen (Federer sechsmal, Djokovic fünfmal), und einige Kommentatoren stellten seinen Aufschlag und sein Volleyspiel in Frage. Aber seine mit Topspins gepfefferten Grundschläge und seine defensiven Fähigkeiten – ganz zu schweigen von seinem ungebrochenen Siegeswillen – machen alle vermeintlichen Schwächen wett. Es mag Kraft vor Schönheit sein – seine Knie beten sicher für seinen Ruhestand –, aber es ist schwer zu leugnen, dass sein Spiel sehr beeindruckend ist.
Schliesslich bleibt er auch in der Niederlage gesittet, was man vom jungen Federer nicht immer sagen konnte. Wenn ich mir einen Spieler aussuchen müsste, der einen Match spielen müsste, um mein Leben zu retten – und wenn ich mir den Belag aussuchen könnte –, dann wäre das keine Frage: Nadal auf Sand.
So, jetzt spiele ich Ihnen den Ball zu: Stimmen Sie in dieser Umfrage ab und argumentieren Sie in der Debatte!
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(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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