«Im Jemen fehlt es an allem»
Die Tötung des jemenitischen Ex-Präsidenten Ali Abdallah Saleh droht den "Stellvertreterkrieg" im Jemen zwischen Riad und Teheran anzuheizen. Laut IKRK-Präsident Peter Maurer ist die humanitäre Krise schlimmer denn je.
Letzten Samstag, 48 Stunden bevor er von seinen ehemaligen Partnern – den von Iran unterstützten Huthi-Rebellen – getötet wurde, hatte Ali Abdallah Saleh erklärt, er sei bereit, mit Saudi-Arabien ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die von Riad kommandierte militärische Koalition begrüsste diese Initiative umgehend, die von der Huthi-Saleh-Allianz seit 2015 bekämpft worden war.
Während sich der Konflikt drei Jahre nach der Eroberung der Hauptstadt Sanaa durch die Rebellen in einer totalen Sackgasse befand, schien Salehs Sinneswandel auf eine mögliche Niederlage der Huthi-Milizen hinzuweisen. Wird der gewaltsame Tod des ehemaligen Autokraten, der 2012 gestürzt wurde, dessen Kräfte trotzdem auf die Seite Riads schlagen und die Huthi-Milizen entscheidend schwächen, wie einige Beobachter denken?
Für Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), sind solche Analysen gewagt. «In diesem Krieg verändern sich die Allianzen dauernd. Das macht Vorhersagen sehr schwierig. Das Land ist in Zonen zerstückelt, die von Regierungstruppen oder bewaffneten Gruppen dynamischer oder religiöser Stämme kontrolliert werden, die mit den Frontlinien nicht zwingend übereinstimmen. Das hat sehr komplizierte Interessenkonflikte zur Folge.»
Komplizierter Orient
In diesem Krieg, der 2015 entfacht wurde, hat es in der Tat lokale (Regierungstruppen, Huthi-Rebellen, jemenitische Al-Kaida), religiöse (vor allem Saudi-Arabien und Iran) und globale (vor allem USA und Russland) Protagonisten.
Dadurch werde die humanitäre Hilfe zur Knacknuss, unterstreicht Peter Maurer. «Solange die Absicht der internationalen Akteure, die nationale und regionale Akteure unterstützen, nicht übereinstimmt, bleibt es extrem schwierig, vor Ort Resultate zu erzielen. Sogar für alltägliche Abmachungen ist es sehr schwierig, einen Kompromiss zufinden, wenn sich die lokalen Akteure von den internationalen Akteuren nicht unterstützt fühlen. Aber das Umgekehrte kommt auch vor. Wenn die grossen Mächte eine Abmachung treffen und versuchen, alle Akteure an einen Tisch zu bekommen, haben sie keine Garantie, dass sich die lokalen Akteure an die Abmachung halten.»
Laut dem IKRK gibt es eigentlich keinen politischen Willen: «Die Erklärungen zugunsten einer Verhandlung widersprechen der Politik, welche die involvierten Staaten tatsächlich an den Tag legen. Auf internationaler Ebene sagen alle, dass sie politische Lösungen anstreben, aber gleichzeitig ermutigen sie die Kräfte vor Ort, keine Kompromisse zu machen.»
Ein Land am Boden
Das Resultat: Der Krieg geht im ganzen Land weiter, obwohl die Intensität von Region zu Region variiert. Schon bevor die Kämpfe begannen, war das kleine Land am Rand der arabischen Halbinsel kaum entwickelt, jetzt befindet es sich am Rand des Abgrunds. «Der Jemen ist so arm und vom Krieg zerstört, dass man es mit sämtlichen Grundbedürfnissen – Nahrungsmitteln, Wasser, Elektrizität, Treibstoff oder Medikamenten – versorgen muss. Es mangelt an allem», sagt Maurer.
«Die Wirtschaft ist zum Erliegen gekommen. Die humanitären Organisationen können diese Lücke nicht schliessen. Sie können minimale Bedürfnisse abdecken, aber wenn die Importe, die Kredite, die Nationalbank, die Flug- und Schiffshäfen stark beschädigt oder stillgelegt sind, akkumulieren sich die Schwierigkeiten äusserst besorgniserregend. Eine solche Armut hat nicht einmal der Krieg in Syrien oder Irak ausgelöst», sagt der IKRK-Präsident.
Humanitäre Krise spitzt sich zu
Peter Maurer kritisiert insbesondere die Blockade gegenüber Jemen, ohne den Namen der Verantwortlichen (Saudi-Arabien) zu nennen. «Die Import-Restriktionen sind grundsätzlich aufgehoben. Aber die Hindernisse vor Ort existieren immer noch. Das zwingt uns dazu, Aufgaben zu erfüllen, die normalerweise nicht zu unserem Mandat gehören – wie die Lieferung von Treibstoffen, um eine minimale elektrische Versorgung der Spitäler oder der Wasserpumpen zu ermöglichen. Wir haben es in Jemen mit einer extrem zugespitzten Notsituation zu tun.»
In den letzten sechs Monaten hat das IKRK seine Tätigkeit im Jemen verstärkt. Das Budget wurde von 49 auf rund 100 Millionen Franken erhöht. «Wir können handeln. Aber die Lage verschlechtert sich schneller als sich unsere Kapazitäten, um auf die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu reagieren, erhöhen lassen», sagt Maurer.
Humanitäre Krise in Zahlen
Rund 17 Millionen Menschen oder 60% der Gesamtbevölkerung leiden unter Mangelernährung. 7 Millionen Menschen leiden Hunger.
Mindestens 3 Millionen Menschen sind geflüchtet. Die öffentliche Versorgung ist zusammengebrochen, weniger als die Hälfte der Gesundheitszentren funktionieren, es fehlt an Medikamenten und medizinischen Geräten. In 49 von 276 Distrikten hat es kein medizinisches Personal mehr. Der Zugang zu Trinkwasser ist eine der grössten Herausforderungen. Der Mangel an funktionierenden sanitären Anlagen erhöht das Risiko übertragbarer Krankheiten.
Die Zahl von Cholera-Fällen nimmt seit April stark zu. Im August wurden 540’000 Cholera-Verdachtsfälle gemeldet. Heute sind fast eine Million Menschen betroffen. Im Durchschnitt erkranken jeden Tag 5000 Personen mit diesen Symptomen.
41% der Erkrankten sind Kinder unter 15 Jahren. Derzeit stirbt alle 10 Minuten ein Kind unter 5 Jahren aus vermeidbaren Gründen.
Quelle : OCHAExterner Link
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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