Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

In «Nicht mein Leben» erzählt Adolf Muschg von sich – oder nicht?

Keystone-SDA

Mit "Nicht mein Leben" legt Adolf Muschg eine sehr persönliche Erzählung vor. In ihrem Titel steckt aber eine Warnung vor einer allzu biographischen Lesart.

(Keystone-SDA) August Mormann ist emeritierter Gymnasialprofessor und Ehemann der aus Japan stammenden Aki. Trotz Corona und Ukraine-Krieg geniesst er die Geruhsamkeit des Alters. Als ihn seine Frau bittet, mit ihr eine gemeinsame Grabstätte zu suchen, ergreift ihn eine leise Unruhe, die auch nicht weicht, als sie auf dem Friedhof Ennetbühl in Zürich fündig werden. Wenig später ist Aki spurlos verschwunden, und Mormanns Dasein gerät ins Rutschen.

Mormann ist der Protagonist in Muschgs Erzählung «Nicht mein Leben». Diese zeichnet sich durch bedächtige Ruhe aus, sowohl was die Sprache als auch die Genauigkeit der Beobachtung betrifft. Muschg beschreibt Mormanns Atelierhaus und Garten mit einer Akribie, als wäre es sein eigenes Zuhause. Tatsächlich gleichen sich Autor und Protagonist bezüglich ihrer Lebensumstände. Doch Vorsicht ist geboten: «Wohl dem, der auch lügen darf, um der eigenen Wahrheit näherzukommen», sinniert Mormann.

Distanz zum wirklichen Leben

«Nicht mein Leben» steckt voller Anspielungen auf tatsächliche Begebenheiten und Personen. Etliche sind leicht zu entschlüsseln, wie «der Bauer» aus Herrliberg, der spendabel ein Musikzentrum im Kloster Rheinau finanziert. Andere verbergen sich besser und geben Anlass zum Rätseln. All dies sind erzählerische Techniken, um Distanz zum wirklichen Leben zu schaffen. Der muntere Wechsel zwischen Ich- und Er-Rede bestärkt diesen Eindruck.

Angesichts der letzten Dinge verleiht Muschg seiner ruhigen Erzählung zunehmend etwas Sperriges, was sich in Mormanns Verhalten spiegelt. Sein Referat auf einer Europatagung versteigt sich schliesslich zu einer wirren Mythomanie, die nur noch Irritation hervorruft. Auf diese Weise hintertreibt Muschg die Verlässlichkeit seines «persönlichsten» Textes.

Allein gelassen verstirbt Mormann auf einer Gartenbank – «und niemand hatte ihn vermisst». Sowohl er als auch sein Autor bewahren in diesem Spiel zwischen Wahrheit und Lüge einen rätselhaften Eigensinn.*

null

*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft