Wissenschaft und Diplomatie: Zwei Schweizer Stärken helfen, Lösungen für die Welt von morgen zu antizipieren
Was kann die Wissenschaft zur Lösung globaler Krisen beitragen? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer von SWI swissinfo.ch und der Stiftung Geneva Science and Diplomacy Anticipator (GESDA) organisierten Podiumsdiskussion.
Künstliche Intelligenz, Quantencomputer und Klima-Engineering: Haben Sie schon davon gehört? Höchstwahrscheinlich ja, und vielleicht haben Sie bereits selbst erfahren, welches Potenzial in Tools wie ChatGPT steckt oder Artikel über die Möglichkeit gelesen, die Sonneneinstrahlung zu verändern.
Es gibt jedoch eine Frage, die noch niemand beantworten kann: Wie werden sich diese Technologien in Zukunft auf unser Leben und unseren Planeten auswirken?
Wir wissen es nicht.
Aber das ist kein Grund, es mächtigen Staaten oder grossen multinationalen Konzernen zu überlassen, die Auswirkungen technologischer Revolutionen auf die Gesellschaft zu definieren.
«Wir leben in einer Welt, in der sich die Technologie rasant entwickelt. Wir haben das Gefühl, dass es keine Regeln gibt und dass die Steuerung der Technologie hinterherhinkt. Aber das muss nicht so sein», sagte Michael Hengartner, Präsident des Rates der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH).
Hengartner sprach an einer Veranstaltung, die am Dienstag am Sitz von SWI swissinfo.ch in Bern stattfand und an der Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Diplomatie, Politik und Medien teilnahmen.
Im Zentrum der Diskussion standen die Rolle der wissenschaftlichen Antizipation in der Diplomatie und mögliche Schweizer Lösungen für die grossen globalen Probleme.
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Wissenschaftsdiplomatie hat in der Schweiz Tradition
Eine Promotorin solcher Lösungen ist die in Genf ansässige Stiftung GESDA (Geneva Science and Diplomacy Anticipator), die wissenschaftliche Forschung und technologische Trends analysiert, um Empfehlungen für die Politik und die Diplomatie zu entwickeln.
GESDA wurde 2019 als gemeinsame Initiative des Bundesrats, der Stadt und des Kantons Genf gegründet. Sie fördert den Austausch zwischen Wissenschaft und Diplomatie, um Lösungen für Themen wie die Klimakrise, Nachhaltigkeit oder Gesundheit zu finden.
Die Klimafrage ist ein typischer Bereich, in dem «die Wissenschaft zu einem Instrument der Diplomatie wird», sagte Alexandre Fasel, Staatssekretär des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), gegenüber swissinfo.ch.
Als Beispiel nannte er den Weltklimarat (IPCC), der Massnahmen der internationalen Gemeinschaft im Bereich Klima ausarbeitet. «Wir haben die Wissenschaft in den diplomatischen Prozess eingeladen», so Fasel.
«Die Schweiz hat eine starke Tradition in der wissenschaftlichen Diplomatie», betonte Larissa M. Bieler, Direktorin von swissinfo.ch, und erinnerte daran, dass die Europäische Organisation für Kernforschung in Genf (CERN) nach dem Zweiten Weltkrieg dazu beitrug, dass sich Europa und die Welt durch die Wissenschaft wieder annäherten.
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Abwägen von positiven Effekten und negativen Auswirkungen
Die GESDA blickt nicht zurück. Sie blickt in die Zukunft, um abzuschätzen, wie die wissenschaftliche Entwicklung in den nächsten fünf, zehn oder 25 Jahren voranschreitet.
Die Erwartungen werden im «Science Breakthrough RadarExterner Link» zusammengefasst, der nach Ansicht der Stiftung zu einem Instrument für die multilateralen Verhandlungen im internationalen Genf und darüber hinaus werden sollte.
«Aber das ist nicht genug», warnte Michael Hengartner, Vorsitzender des akademischen GESDA-Ausschusses. Entscheidend sei auch, zu wissen, welche technologischen Entwicklungen für die Gesellschaft relevant seien und für welche bereits jetzt eine multilaterale Diskussion beginnen sollte.
Ziel sei es, die positiven Effekte zu maximieren und sicherzustellen, dass alle Zugang zu ihnen haben, und die möglichen negativen Auswirkungen zu reduzieren.
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Diese disruptiven Technologien kommen auf uns zu
Ein konkretes Projekt ist das Open Quantum InstituteExterner Link. Das in Genf domizilierte Institut hat sich zum Ziel gesetzt, Quantentechnologien in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen und dadurch die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung schneller zu erreichen.
Die dramatische Steigerung der Rechenleistung von Computern sollte nicht nur grossen Unternehmen, sondern auch Menschen in ärmeren Ländern zugutekommen, so Alexandre Fasel.
Quantencomputer sind nicht der einzige Bereich, in dem die Schweiz globale Lösungen anbieten kann, bemerkte Marcel Tanner, emeritierter Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.
Für komplexe Fragen des Klimas, der Energie oder der Neurowissenschaften hat die Schweiz bereits die Grundlagen geschaffen, auf denen aufgebaut werden kann.
Die GESDA fungiert als Brücke zwischen den Spitzenforscher:innen und den Akteur:innen des öffentlichen und privaten Sektors, wie in der Podiumsdiskussion bekräftigt wurde.
Die Stärke der GESDA bestehe darin, die Hauptakteur:innen zu einer gemeinsamen Reflexion zusammenzubringen, ohne in eine Verhandlungslogik zu verfallen, in der jeder versuche, seine eigene Position durchzusetzen.
«Die Lösungen müssen aber von der Diplomatie, den Unternehmen und den Regierungen kommen», erklärte Fasel.
Priorität liegt bei den Problemen von heute
Die Herausforderung besteht darin, eine noch ferne Zukunft schon jetzt anzudenken. Imogen Foulkes, Journalistin bei swissinfo.ch und der BBC in Genf, sowie Host des SWI-Podcasts «Inside Geneva«, erinnerte daran, dass die Diplomatie mit aktuellen, unmittelbaren Problemen konfrontiert ist: «Sie denken in kurzen Zeiträumen, und das könnte für GESDA ein Problem darstellen.»
Die Covid-Pandemie habe gezeigt, wie schwierig vorausschauendes Handeln sei, so Foulkes. Die Weltgesundheitsorganisation hatte die Staaten aufgefordert, sich vorzubereiten, aber niemand hat sofort reagiert. «Heute erkennen die Diplomat:innen vielleicht ein wenig mehr, dass es notwendig ist, langfristiger zu denken», sagte Foulkes.
«GESDA ist ein Kind, das erst fünf Jahre alt ist», schloss Hengartner. «Aber es hat grosse Ambitionen, einen positiven Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.»
Editiert und aus dem italienischen übersetzt von Reto Gysi von Wartburg
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