Die holzfällende Prinzessin und Superman als Babysitter
In der Schweiz ist der Entwicklungsverlauf von Mädchen und Jungen stark von Geschlechterunterschieden geprägt. Die "Gleichstellungsschule" versucht den Lernenden zu helfen, sexistische Vorurteile und Stereotypen zu erkennen und zu beseitigen. Erläuterungen anlässlich des Internationalen MädchentagsExterner Link.
«Als ich zur Schule ging, besuchten nur die Mädchen den Hauswirtschaftsunterricht und lernten Socken flicken und Kochen», erinnert sich eine 60-jährige Frau. Eine 15-jährige Schülerin, die in ihrer Nachbarschaft lebt, kann sich das kaum vorstellen: «Bei uns im Hauswirtschaftsunterricht kochen Mädchen und Jungen zusammen und lernen, Glühbirnen auszuwechseln.»
Allerdings ist die Gleichstellung in der Bildung in der Schweiz noch lange nicht erreicht. Der Entwicklungsverlauf hängt immer noch stark davon ab, ob man ein Mädchen oder ein Junge ist. Nach der obligatorischen Schulpflicht entscheiden sich Frauen immer noch eher für weniger gut bezahlte Jobs, die weniger Aufstiegsmöglichkeiten bieten.
Die «Gleichstellungsschule»
Die «Gleichstellungsschule» ist ein Projekt der kantonalen Büros für Gleichstellung in der WestschweizExterner Link. Federführung des Projekts hat das Büro des Kantons Waadt.
Das Lehrmaterial umfasst vier Broschüren für sämtliche Stufen der obligatorischen Schule. Die erste Broschüre richtet sich an Schüler der 1. bis 4. Klasse und ist seit Februar 2019 erhältlich. Die anderen drei Broschüren werden anfangs 2020 veröffentlicht.
Tatsächlich ist das traditionelle Familienmodell, in dem der Mann arbeitet und die Frau sich um die Kinder kümmert, nach wie vor beliebt. Nach Angaben des Bundesamts für Statistik lag der Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen an der Erwerbsbevölkerung mit Kindern unter 25 Jahren im Jahr 2018 bei 78,8 %, bei Männern nur bei 11,7 %.
Implizite Stereotypen
Wie an allen anderen Orten, an denen Kinder sozialisiert werden, vermittelt die Schule auch Botschaften über Geschlechterdifferenz. Nach einer Umfrage an Kindergärten und Grundschulen in den Westschweizer Kantonen kam «le 2e ObservatoireExterner Link«, ein Westschweizer Institut für Forschung und Ausbildung über Geschlechterverhältnisse, zum Schluss, dass Lehrkräfte an Schulen tendenziell
- eher den Buben das Wort geben,
- toleranter gegenüber Bubenlärm sind,
- die Vornamen der Mädchen weniger oft erwähnen als die der Buben und
- Mädchen weniger disziplinieren als Buben.
In seinem im vergangenen Jahr veröffentlichten PräventionsleitfadenExterner Link stellt das Institut fest, dass sowohl Fachleute für Kleinkinder, als auch Lehrkräfte «unterschiedliche Erwartungen haben und bestimmte Eigenschaften Mädchen und andere Jungen zuschreiben».
In der Schule sind Geschlechterstereotypen oft implizit in der Sprache enthalten. «Wenn wir zum Beispiel über alles reden, was mit der Familie zu tun hat, wie Mittagessen, Schürzen zum Mitnehmen usw., sprechen wir oft von ‹eure Mutter› statt von ‹euren Eltern› oder ‹eurem Vater'», sagt Seema Ney, Projektleiterin der «GleichstellungsschuleExterner Link» beim Büro für Gleichstellung von Frau und Mann des Kantons Waadt.
Mehr
In der «Gleichstellungsschule»
In der «Gleichstellungsschule»
«Sicherlich reproduzieren Schulen bestimmte Ungleichheiten, aber vor allem sind sie auch ein Ort, an dem diese Ungleichheiten in Frage gestellt werden können», fährt Ney fort. Das Lehrmittel «Gleichstellungsschule» wurde anfangs Jahr lanciert. Eines der Ziele des Projekts sei es, das Bewusstsein der Lernenden für Geschlechterstereotypen zu schärfen, damit sie diese identifizieren und überwinden können.
«Mit diesem einfach zu bedienenden Lehrmaterial wollen wir Lehrkräfte ermutigen, von Zeit zu Zeit Überlegungen zur Gleichstellung anzustellen, sei es im Französisch-, Mathematik-, Geographie- oder Geschichtsunterricht», sagt die Pädagogin.
So schlägt das LehrmittelExterner Link beispielsweise vor, die Thematik mit Hilfe einer Diskussion um eine E-Mail anzugehen: «Hallo Grossvater, in der Schule bereiten wir unsere Kostüme für die Prozession zum Jahresende vor. Das Thema ist Sport. In meiner Klasse werden sich die Mädchen als Tänzerinnen und die Buben als Fussballspieler kleiden. Du weisst, dass ich Fussball liebe… Aber ich habe mich nicht getraut zu sagen, dass ich mich gerne als Fussballerin verkleiden würde… Liebe Grüsse, Zora.
Indem die Schülerinnen und Schüler den Text lesen und sich in den Grossvater hineinversetzen, der seiner Enkelin Zora eine Antwort schreiben wird, lernen die Schüler sowohl eine E-Mail zu schreiben und müssen sich gleichzeitig fragen: Warum ist Zora frustriert? Was könnte ich ihr raten? Was würde ich an ihrer Stelle tun?
Es geht darum, gemeinsam über Stereotypen zu diskutieren und es so den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, ihre eigene Wahl zu treffen. Die Mädchen sollen verstehen, dass sie sich sowohl als Fussballspielerinnen als auch als Tänzerinnen verkleiden können. Sie sollen ihre Entscheidungen nicht gegen ihren Willen treffen, nur um den traditionellen Geschlechterrollen zu entsprechen.
L’objectif consiste à ouvrir la discussion sur les stéréotypes afin de permettre aux élèves, filles et garçons, de réaliser leurs propres choix. Il ne s’agit pas d’encourager les filles à se déguiser en footballeuses, mais à leur faire comprendre qu’elles peuvent aussi bien se déguiser en footballeuse qu’en danseuse; à condition que les choix ne soient pas faits à contrecœur pour coller aux rôles traditionnellement dévolus à chaque sexe.
Herausforderung Pausenplatz
Mädchen, die Fussball lieben, werden nicht nur für die Prozession, sondern auch auf dem Pausenplatz aussen vorgelassen. «Es ärgert mich, dass uns die Jungs in der Schule immer verbieten, Fussball zu spielen… das ist nicht toll… Das Problem ist, dass sie viel Platz haben auf dem Pausenplatz. Manchmal brauchen sie sogar mehr als das Fussballfeld und wir haben noch weniger Platz…», sagt ein 9-jähriges Mädchen in dem Kurzfilm «Espace», der im Rahmen dieses Projekts gedreht wurde:
Die Stereotypen und Ungleichheiten äussern sich oft in Interaktionen zwischen Mädchen und Jungen. Das Institut «le 2e Observatoire» weist darauf hin, dass Mädchen beispielsweise dazu neigen, auf engem Raum zu spielen, während Jungen sich auf zentralen Plätzen ausbreiten und sogar die Räume einnehmen, die Mädchen belegen.
«Der Pausenplatz wird oft als Freiraum der Schülerinnen und Schüler angesehen, und die Lehrpersonen reden nicht mit ihnen darüber, wie sie diesen in den Pausen nützen könnten», sagt Ney. Bestünde die Möglichkeit, angemessen einzugreifen, käme es sicher zu einer Raumaufteilung, die für alle besser geeignet wäre, so die Pädagogin.
Für Mädchen, aber auch für Jungen
Auf dem Pausenplatz verbieten Buben den Mädchen das Fussballspielen. Mädchen ihrerseits wollen nicht, dass die Buben beim Gummitwist mitmachen. Auch werden Buben in der Schule gewisse Merkmale zugewiesen und sie müssen beispielsweise ihre Männlichkeit beweisen. «Für einige ist das eine grosse Belastung. Und es kann zu schwerwiegenden Folgen wie Mobbing führen, wenn man nicht aufpasst», sagt Ney.
«Geschlechterungleichheiten schaden sowohl Mädchen als auch Buben.» Seema Nay, Projekt-Verantwortliche
Darüber hinaus sind Jungen laut einer StudieExterner Link aus dem Jahr 2014 im Vergleich zu Mädchen mehr Stress und Schwierigkeiten ausgesetzt, wenn sie sich für «atypische» Berufe interessieren. Wenn ein Mädchen Mechanikerin werden oder bei der Feuerwehr arbeiten will, werden ihre Familie und Freunde möglicherweise erstaunt reagieren. Sie werden aber auch die Besonderheit und den Mut ihrer Wahl zu schätzen wissen. Will ein Junge hingegen Kleinkindererzieher, Krankenpfleger oder Florist werden, riskiert er, als unmännlich oder gar als beruflicher Versager abgestempelt zu werden
In der Schweiz müssen die meisten Jugendlichen vor dem 15. Lebensjahr eine Berufswahl treffen. Für die Jugendlichen, die von Gleichaltrigen akzeptiert werden wollen und denen eine geschlechtsspezifische Zugehörigkeit wichtig ist, ist es nicht einfach, gegen den Strom zu schwimmen. Daher ist es besonders wichtig, bereits während der Kindheit ihre Fähigkeit zu fördern, Geschlechterstereotypen zu erkennen und zu widerstehen.
In der «Gleichstellungsschule» weiss die Prinzessin, wie man Holz bearbeitet und Supermann liebt das Babysitten. Im Biologieunterricht lernen die Kinder, dass «bei den Pinguinen das Männchen das Ei brütet und das Weibchen loszieht, um nach Nahrung zu suchen»; im Mathematikunterricht helfen sie Rosie, einem Mädchen, das gerne Maschinen erfindet, ihre Werkzeuge zu zählen. Oder Oscar, dem Blumenhändler, die Anzahl der verkauften Sträusse zu berechnen. Und während des Musikunterrichts singen die Kinder: «Fleur wird Ingenieurin, Amal will Fussball spielen, Arthur nähen und Florent wird sich um die Kinder kümmern.»
«Geschlechterungleichheiten schaden sowohl Mädchen als auch Buben», sagt Ney. Mit unseren Broschüren wollen wir die Gleichstellung von Mädchen und Buben fördern und so etwas zur Gleichstellung der Geschlechter beitragen.»
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch