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Christelle Genoud: «Menschenrechte sind zutiefst politisch»

Blick in den voll besetzten Saal des Menschenrechtsrates in Genf.
Der Menschenrechtsrat in Genf ist zum Schauplatz einer harten Konfrontation zwischen den westlichen Demokratien und China geworden. Keystone / Salvatore Di Nolfi

Mit ihrer inkonsequenten Verteidigung der Menschenrechte riskieren die westlichen Mächte ihre Glaubwürdigkeit, sagt die Wissenschaftlerin Christelle Genoud. In der UNO, wo der Westen versucht, die Länder des Südens gegen China zu vereinen, sind die Doppelstandards ein Problem.

Unter dem Einfluss westlicher Mächte hat sich der Menschenrechtsrat in der Vergangenheit häufiger mit Menschenrechtsverletzungen in den Ländern des sogenannten «globalen Südens», besonders in Afrika, befasst als mit solchen in westlichen Ländern.

Noch nie hat das in Genf ansässige UNO-Gremium in einer Resolution Menschenrechtsverletzungen verurteilt, die beispielsweise von den USA und Grossbritannien in Afghanistan oder im Irak begangen wurden.

Diese Ungleichbehandlung, von manchen auch als „Doppelmoral“ bezeichnet, wird zunehmend beklagt.

Das Gefühl wurde durch die jüngsten Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen noch verstärkt. Während der erste Krieg weitgehend verurteilt wurde, fielen die Reaktionen des Westens auf den zweiten Krieg wesentlich zurückhaltender aus.

In den letzten Jahren war der Menschenrechtsrat Schauplatz einer harten Konfrontation zwischen den westlichen Demokratien und China, das fest entschlossen ist, dem Menschenrechtssystem seinen Stempel aufzudrücken.

Peking drängt auf eine stärkere Anerkennung kollektiver Rechte wie des Rechts auf Entwicklung und wirft den westlichen Demokratien vor, sich auf die Verteidigung individueller Rechte wie der Bürgerrechte zu versteifen.

Der Kritik am Umgang mit Minderheiten hält China entgegen, Millionen Menschen aus der Armut befreit zu haben.

Der Hohe Kommissar für Menschenrechte wiederum erinnert daran, dass diese Rechte universell sind und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.

Die Länder des Südens, die bei wichtigen Abstimmungen die Mehrheit stellen, haben an Einfluss gewonnen und werden sowohl von Peking als auch von Washington, London und Paris umworben.

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In einer neuen PublikationExterner Link des Think Tanks Foraus analysiert Christelle Genoud, Lehr- und Forschungsbeauftragte an der Universität Lausanne, die Antwort der westlichen Demokratien auf ein China, das die Menschenrechtsarchitektur zunehmend kritisiert.

Die Doppelmoral des Westens und die Weigerung, den politischen Charakter der Menschenrechte anzuerkennen, untergraben demnach seine Glaubwürdigkeit.

SWI swissinfo.ch: Ist das Phänomen der Doppelmoral ‒ das Anprangern der Menschenrechtsbilanz bestimmter Länder und das Verschweigen der eigenen oder der anderer Staaten ‒ ein neues Phänomen?

Portrait von Christelle Genoud
Christelle Genoud

Nein, das ist nicht neu. Die Problematik war beispielsweise schon während des Kalten Krieges sehr präsent. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza haben sie jedoch verstärkt.

Die im Vergleich zu anderen Krisen in der Welt sehr starke Unterstützung der westlichen Länder für die Ukraine wurde von den Ländern des Südens als Ungleichbehandlung empfunden.

Auch ihre Unfähigkeit, den Angriff Israels auf die Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza scharf zu verurteilen, wurde als solche gesehen.

Gleichzeitig haben die Staaten des Südens auch ihre Widersprüche, etwa wenn muslimische Länder die Palästinenser:innen in Gaza unterstützen, aber zum Schicksal der Uigur:innen in China schweigen.

Wie nutzt China diese Wahrnehmungen von Doppelstandards?

Chinas Anschuldigungen, der Westen messe mit zweierlei Mass, haben insofern eine Wirkung, als sie Teil einer generellen Infragestellung des UNO-Menschenrechtssystems sind.

China instrumentalisiert legitime Kritik an diesem System, die auch von Menschenrechtsaktivisten und Wissenschaftlerinnen geäussert wird. Der Unterschied besteht darin, dass letztere versuchen, diese Rechte zu stärken, während China versucht, sie zu schwächen.

Verschiedene Akteure weisen daher auf diese Schwächen hin. Aber China hat bedeutende Mittel und eine internationale Position, die dafür sorgen, dass seine Kritik ein besonderes Gewicht hat.

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Sie plädieren dafür, den politischen Charakter der Menschenrechte anzuerkennen. Warum?

Es gibt eine Tendenz, die Menschenrechte als moralische Werte zu verteidigen, die über der Politik stehen müssen. Mein Ansatz ist vielmehr, anzuerkennen, dass sie zutiefst politisch sind.

Inwiefern sind sie politisch?

Sie sind das Spiegelbild von Machtkämpfen. Sie wurden in einem bestimmten historischen Kontext vereinbart, nämlich in der Nachkriegszeit, und sie entwickeln sich mit den Debatten weiter.

Was heute als Menschenrecht gilt, ist nicht mehr dasselbe wie früher. Neue Rechte sind entstanden, insbesondere in Bezug auf die Umwelt.

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Was ist das Problem der westlichen Länder?

Die westlichen Regierungen neigen dazu zu glauben, dass die politische Dimension dieser Rechte verschwiegen werden muss, um ihre Legitimität zu gewährleisten.

Das UN-System funktioniert jedoch so, dass ein Staat keine perfekte Menschenrechtsbilanz haben muss, um die Menschenrechtsbilanz anderer Regierungen zu kritisieren.

Ob dies zu beklagen ist oder nicht, ist eine andere Frage. Und nur weil ein Land ein Interesse daran hat, Verstösse in einem anderen Staat anzuprangern, ist die Kritik noch nicht illegitim.

Es ist auch nicht möglich, allen Krisen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Indem liberale Demokratien eine moralische Vision der Menschenrechte vertreten, setzen sie Standards durch, die sie selbst nicht einhalten, und verlieren dadurch an Glaubwürdigkeit.

Fürchten die westlichen Demokratien, ihren Einfluss in einem System zu verlieren, das sie bisher dominiert haben?

Es wird viel darüber diskutiert, ob das internationale Menschenrechtssystem westlich ist. Heute sind die Länder des globalen Südens an der Entwicklung dieses Systems beteiligt, was die westlichen Länder manchmal als Bedrohung empfinden.

Sie tun sich beispielsweise schwer damit, die sogenannte dritte Generation der Menschenrechte zu akzeptieren, also kollektive Rechte wie das Recht auf Entwicklung oder auf eine gesunde Umwelt.

Manchmal neigen sie dazu, sich an eine Vision des Systems zu klammern, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg bestand.

Die Länder des Südens, die von beiden Seiten umworben werden, können also ihren Teil dazu beitragen?

Die Länder des Südens ergreifen bereits wichtige Initiativen. Das sieht man zum Beispiel in Bezug auf Gaza. Südafrika hat den Internationalen Gerichtshof gegen Israel angerufen. Der Vorwurf lautete auf Völkermords im Gazastreifen, was hauptsächlich von Ländern des globalen Südens und weit weniger von den westlichen Demokratien unterstützt wurde.

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Während die Menschenrechte überall mit Füssen getreten werden, scheint das System wie gelähmt.

Ein Wandel in der Art und Weise, wie die westlichen Länder das internationale Menschenrechtsregime verstehen, ist notwendig.

Dazu sollte die Bereitschaft gehören, neue Rechte zu akzeptieren, mehr Transparenz über ihre politischen Agenden und Offenheit für Reformen.

Die Debatte neigt dazu, sich auf die Tatsache zu konzentrieren, dass China das System in Frage stellt, ohne daran zu erinnern, dass das System erhebliche Schwächen gezeigt hat, die weithin anerkannt sind.

Auch wenn es eine Instrumentalisierung durch China gibt, werden einige der Kritikpunkte von vielen Akteurinnen und Akteuren geteilt, die tatsächlich versuchen, das System zu verbessern.

Deshalb findet Pekings Diskurs so grossen Anklang. China tippt auf die richtige Stelle, aber nicht aus den richtigen Gründen. Das Land bietet Alternativen an, die die Menschenrechte schwächen, statt sie zu stärken.

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Französischen: Michael Heger

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