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Das israelische Parlament will die UNRWA verbieten – was heisst das?

Menschen vor einem Verteilzentrum der UNRWA
Die UNRWA verteilt weiterhin Hilfslieferungen im kriegsgeplagten Gaza-Streifen. Copyright 2024 The Associated Press. All Rights Reserved.

Die Entscheidung des israelischen Parlaments, dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA die Arbeit in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem zu verbieten, hat heftige Reaktionen hervorgerufen und wirft viele Fragen auf. Einige Einordnungen.

Am Montag, 28. Oktober, stimmte das israelische Parlament (Knesset) mit grosser Mehrheit – 92 Stimmen dafür, 10 dagegen – für zwei Gesetze, die es dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) verbieten, in Israel zu arbeiten. Zudem dürfen israelische Beamte nicht mit dem Hilfswerk kommunizieren, wodurch dessen Arbeit in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem faktisch verhindert wird. Das Gesetz soll innerhalb von drei Monaten in Kraft treten.

Ein Grossteil der internationalen Gemeinschaft, einschliesslich der Schweiz, humanitärer Organisationen und der UNO, verurteilte die Entscheidung und erinnerte an die Schlüsselrolle der Agentur bei Hilfsleistungen für palästinensische Flüchtlinge, insbesondere im kriegszerstörten Gazastreifen.

Warum wurde das Verbot ausgesprochen?

Israel, seit jeher gegen die UNRWA, ist der Ansicht, dass die 1949 gegründete humanitäre Organisation, die weiterhin die Nachkommen der durch den Krieg von 1948 vertriebenen Palästinenser:innen unterstützt, den israelisch-palästinensischen Konflikt fortsetze. Dies, indem sie die Weitergabe des Flüchtlingsstatus von einer Generation an die nächste ermöglicht.

Seit Anfang 2024 wirft die israelische Regierung der UNRWA vor, von der Hamas infiltriert zu sein, und beschuldigt mehrere Mitarbeiter des Hilfswerks, an den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen zu sein. Diese Behauptungen wurden von den Gesetzgebern, die die Gesetze verfasst haben, ebenfalls aufgegriffen.

Eine interne UntersuchungExterner Link der UNO führte zur Entlassung von neun Mitarbeitern aufgrund ihrer möglichen Beteiligung an diesen Angriffen. Eine weitere externe Untersuchung stellte keine grösseren Mängel in Bezug auf die Neutralität der Organisation fest.

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Welche Folgen hat dies für die UNRWA und die humanitäre Hilfe?

UN-Generalsekretär António Guterres schriebExterner Link auf X, dass «die Gesetze […], wenn sie angewendet würden, die UNRWA wahrscheinlich daran hindern würden, ihre wichtige Arbeit im besetzten palästinensischen Gebiet fortzusetzen». Diese Einschätzung wurde vom Generalkommissar der UNRWA, dem Schweizer Philippe Lazzarini, geteilt. Er sagte, dass «diese Gesetze das Leiden der Palästinenser nur noch verschlimmern werden, insbesondere in Gaza, wo die Menschen seit über einem Jahr durch eine wahre Hölle gehen».

Das Verbot, auf israelischem Territorium tätig zu werden, bedroht direkt den Sitz der UNRWA in Ostjerusalem – jenem Teil der Stadt, der seit der Annexion 1967 von Israel besetzt ist – sowie seine Aktivitäten im Flüchtlingslager Shuafat.

Zudem gefährdet das Verbot, mit dem Hilfswerk zu kommunizieren, die Arbeit im Westjordanland und im Gazastreifen, da die UNRWA für den Transport und die Verteilung von Hilfsgütern in beiden Gebieten auf die Zusammenarbeit mit den israelischen Behörden und der israelischen Armee angewiesen ist. Das gilt auch für die Sicherheit der Organisation. Nach der neuen Gesetzgebung wird Israel den Mitarbeitenden des Hilfswerks jedoch nicht mehr die erforderlichen Arbeitsgenehmigungen oder Visa ausstellen.

Jonathan Fowler, Sprecher der UNRWA, zeigte sich auf Anfrage von RTSExterner Link «besorgt» über die Zukunft, auch wenn die konkreten Folgen bis zur praktischen Umsetzung dieser Texte schwer abzusehen seien. «Aber tatsächlich könnte es, wenn dieses Gesetz umgesetzt wird, unsere Operationen im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gazastreifen unterbrechen, wo wir das Rückgrat der internationalen humanitären Hilfe bilden», sagt er.

Im Gazastreifen, wo neun von zehn Palästinenser:innenExterner Link im  seit über einem Jahr dauernden zerstörerischen Krieg vertrieben wurden, bleibt die UNRWA die wichtigste Lieferantin humanitärer Hilfe, auf die sich auch andere Organisationen stützen. Die Organisation beschäftigt dort rund 13’000 Personen. Ausserdem betreibt sie zahlreiche Schulen und Gesundheitszentren im Westjordanland, in Jordanien, im Libanon und in Syrien.

Einsatzgebiete der UNRWA
Kai Reusser / SWI swissinfo.ch

Ist es möglich, die UNRWA zu ersetzen?

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu sagteExterner Link am 28. Oktober, er sei «bereit, mit [seinen] internationalen Partnern zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass Israel weiterhin humanitäre Hilfe für Zivilisten in Gaza auf eine Weise ermöglicht, die die Sicherheit Israels nicht gefährdet», also durch andere Organisationen.

António Guterres und Philippe Lazzarini erklärten ihrerseits, dass die Agentur «unersetzlich» sei. Diese Botschaft wird von den anderen humanitären Akteuren unterstützt, die regelmässig als mögliche Nachfolger genannt werden, darunter die Internationale Organisation für MigrationExterner Link (IOM). Im April hatte auch der Direktor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) gegenüber Le TempsExterner Link erklärt, dass die Genfer Organisation «das Mandat der UNRWA nicht übernehmen wird».

Jean-Daniel Ruch, ehemaliger Schweizer Botschafter in Israel (2016-2021), sagte auf Anfrage von RTSExterner Link, dass es «nicht realistisch» sei, die UNRWA durch einen anderen Akteur zu ersetzen, sei es ein privater oder ein UNO-Akteur: «Das erscheint mir extrem schwierig. Denn um diese humanitäre Hilfe zu leisten, braucht man Netzwerke von Lieferanten für den Kauf von Material, Netzwerke für die Lieferung bis zur Gaza-Grenze, Lastwagen und ein Verteilungsnetz innerhalb von Gaza selbst durch Leute, die das Gelände kennen.»

Was sagt das internationale Recht dazu?

Die Vorsteher der UNO und der UNRWA sowie mehrere Staaten haben erklärt, dass die Abstimmung im israelischen Parlament gegen das Völkerrecht verstösst.

Fuad Zarbiyev, Professor für Völkerrecht am Graduate Institute of International and Development Studies (IHEID) in Genf, ist der Ansicht, dass es sich um eine «weitere skandalöse Verletzung» der UN-Charta und des Völkerrechts durch Israel handelt.

Mit ihrer UNO-Mitgliedschaft verpflichten sich die Staaten, der UNO auf ihrem Territorium die Bedingungen zu bieten, die sie für die Durchführung ihrer Aktivitäten benötigen. Bedingungen, die in der UN-Charta sowie im Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der UNO festgelegt sind.  Zwei Verträge, zu deren Einhaltung sich Israel verpflichtet hat. «Die Entscheidung des israelischen Parlaments stellt einen schweren und nicht zu rechtfertigenden Verstoss gegen diese Abkommen dar», sagt der Professor.

Das UNRWA arbeitet auf der Grundlage eines Mandats der Generalversammlung, einem UN-Gremium, in dem alle Mitgliedstaaten einen Sitz haben. Laut Fuad Zarbiyev kann Israel daher nicht rechtmässig einseitig die Aktivitäten dieser Agentur auf seinem Territorium oder die notwendigen Kontakte zwischen seinen Behörden und der Organisation verbieten.

«Die UNO darf nicht vom guten Willen der israelischen Behörden abhängen. Wir sprechen hier von Verpflichtungen, die im Rahmen des internationalen Rechts eingegangen wurden. Solange Israel nicht aus der UNO austritt, wird es schwierig zu behaupten, dass diese Entscheidung rechtlich begründet ist», stellt er klar.

Philippe Lazzarini
Philippe Lazzarini, der Direktor der UNRWA, darf seit September nicht mehr nach Israel einreisen. Keystone / Salvatore Di Nolfi

Was können die UNO und die internationale Gemeinschaft tun?

Am 29. Oktober schickte António Guterres einen BriefExterner Link an den Präsidenten der Generalversammlung, in dem er die Möglichkeit erwähnte, dass «eine Situation besteht, in der ein Streit zwischen der UNO und Israel entstanden ist, der unter anderem die Auslegung oder Anwendung des Übereinkommens über die Vorrechte und Immunitäten der UNO betrifft».

Laut Fuad Zarbiyev bedeutet dies zwischen den Zeilen, dass das Gremium dazu ermutigt, den Internationalen Gerichtshof (IGH), das höchste UN-Gericht, um ein «Gutachten» über den möglichen Streit zwischen Israel und der UNO zu ersuchen.

«Nach dem Wortlaut des Übereinkommens muss dieses Gutachten von den Parteien als verbindlich anerkannt werden», sagt er. Wenn der IGH zum Schluss kommt, dass Israel gegen das Recht verstösst, «wird dies seine Legitimität noch weiter untergraben». Er fügte hinzu: «Es ist eine Sache, wenn die Generalversammlung oder der Generalsekretär feststellt, dass es sich um eine Verletzung des Völkerrechts handelt. Aber es ist eine ganz andere Sache, wenn diese Meinung vom wichtigsten UNO-Rechtsorgan kommt.»

Entscheidet der IGH, das Völkerrecht erlaube es Israel nicht, die UNRWA zu verbieten, dann können der Sicherheitsrat oder die Generalversammlung auf dieser Grundlage handeln. Ihre Massnahmen könnten von einer harten Resolution, die Israel verurteilt, bis hin zu einem Beschluss reichen, Israel bestimmte Rechte zu entziehen oder sogar Sanktionen zu verhängen – oder Israel aus der UNO auszuschliessen. Eine Option, die allerdings wenig realistisch ist. Der internationale Druck könnte die Art und Weise, wie Israel diese Gesetze umsetzt, beeinflussen.

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Welche Folgen hat das für die UNO?

Philippe Lazzarini ist der Ansicht, dass die Entscheidung des israelischen Parlaments einen «gefährlichen Präzedenzfall» schafft und «unseren gemeinsamen multilateralen Mechanismus zu schwächen droht».

Richard Gowan, bei der Denkfabrik Crisis Group zuständig für die UNO, schränkt diese Einschätzung jedoch ein. «Die Vorstellung, dass es sich um eine völlig neue Situation und einen gefährlichen Präzedenzfall für die UNO handelt, ist übertrieben.»

Es ist nicht das erste Mal, dass sich ein Staat den Aktivitäten der UNO auf seinem Territorium widersetzt. Die malische Regierung, die 2021 nach einem Staatsstreich an die Macht kam, hatte beispielsweise die UN-Friedensmission in Mali kritisiert und ihr operative Einschränkungen auferlegt, bevor sie im Sicherheitsrat ihren Rückzug erwirkte.

«Aber es stimmt: Es ist ungewöhnlich, dass ein Land die Operationen einer UN-Organisation de facto auf diese Weise verbietet», sagt der Experte.

Wenn Israel die Entscheidungen der UN-Gremien ignoriert, «dann sendet das ein sehr starkes Signal, dass man die UNO nach Belieben aus dem Weg schieben kann», fügt er hinzu. «Und wenn Israel das tut, dann werden auch andere denken, dass sie das tun können.»

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Editiert von Imogen Foulkes/livm/ptur. Übertragung aus dem Französischen: Giannis Mavris

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