Der Krieg in der Ukraine lässt Europas Unterstützung für humanitäre Abrüstung schwinden
Litauen ist aus dem Übereinkommen zum Verbot von Streumunition ausgetreten. NGOs befürchten, dass diese Entscheidung andere Staaten ermutigen könnte, sich von Abkommen zurückzuziehen, die den Schutz von Zivilist:innen im Krieg gewährleisten sollen.
Die Nachricht platzte mitten in das Sommerloch. Am 18. Juli beschloss das litauische Parlament, aus der Oslo-Konvention auszutreten.
Der internationale Vertrag verbietet den Einsatz, die Herstellung und den Transfer von Streumunition, da diese als zu schädlich für die Zivilbevölkerung angesehen wird. Seit seiner Gründung im Jahr 2008 haben 111 Staaten das Abkommen ratifiziert.
Vilnius begründete seine Entscheidung damit, dass es sich auf seine Verteidigung vorbereite. Es wäre «ein Fehler», auf diese Waffen zu verzichten, während Russland sie in seinem Krieg in der Ukraine einsetzt.
Das Übereinkommen über Streumunition ist eine der Säulen der humanitären Abrüstung: ein Paket von fünf Übereinkommen, die ganze Waffenklassen verbieten. Die anderen vier Verträge verbieten Antipersonenminen sowie biologische, chemische und nukleare Waffen. Bisher hat sich noch kein Land von einem dieser Verträge distanziert.
Die historische Entscheidung löste in Genf eine Schockwelle aus. «Das widerspricht allem, wofür das humanitäre Völkerrecht steht», sagt Tamar Gabelnick, Direktorin der Koalition gegen Streumunition, einer Vereinigung von NGOs, die sich für das Verbot von Streubomben einsetzt. Bevor diese Bomben ihr Ziel erreichen, verteilen sie eine Vielzahl von explosiven Fragmenten.
«Das Ziel dieses Rechtsgefüges ist es, Zivilisten in bewaffneten Konflikten zu schützen», sagt Gabelnick. «Wenn ein Land befürchtet, dass ein Krieg ausbrechen könnte, ist es nicht der richtige Zeitpunkt, ein Abkommen zu verlassen, das die Zivilbevölkerung schützen soll.»
Der Krieg in der Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa auf den Kopf gestellt. NGOs, die in der Abrüstung und humanitären Hilfe tätig sind, sowie ein Teil der internationalen Gemeinschaft befürchten, dass andere Staaten dem Beispiel Litauens folgen könnten.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das normalerweise nicht gerne mit dem Finger auf Staaten zeigt, reagierte sofort mit einer PressemitteilungExterner Link.
Als Hüterin der Regeln des Kriegs zeigte sich die Genfer Organisation besorgt, der Rückzug Litauens würde ein Signal aussenden, dass diese Verträge, die in Friedenszeiten verabschiedet wurden, in Kriegszeiten entbehrlich seien.
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Litauen bekräftigte, dass die Streumunition, die seine Armee eines Tages einsetzen könnte, seiner Verteidigung dienen wird. «Konventionen sind wichtig, wenn alle Länder ihnen beitreten», sagte der litauische VerteidigungsministerExterner Link Laurynas Kasciunas vor dem Parlament.
Er erinnerte daran, dass Russland die Konvention über Streumunition, die das Land in der Ukraine einsetzt, nicht unterzeichnet hat.
«Es wäre ein Fehler für ein Land, das sich auf seine Verteidigung vorbereitet, anzugeben, welche Mittel es nicht einsetzen wird», fügte er hinzu.
Dieses Argument überzeugt die NGOs jedoch nur schwer. Sie weisen darauf hin, dass Litauen, das historisch gesehen ein guter Schüler in Sachen humanitärer Abrüstung ist, nie über diese Art von Waffen verfügt hat und daher auch nie damit trainiert hat.
Laut Tamar Gabelnick hat Streumunition nur einen begrenzten militärischen Nutzen, während ihre negativen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und den Wiederaufbau eines Landes nach einem Krieg gross sind.
Die Zahl der Opfer, die durch diese Sprengkörper verursacht werden, wird von der Koalition gegen Streumunition streng überwacht.
Laut ihrem letzten BerichtExterner Link vom September waren im Jahr 2023 93% der Opfer dieser Waffen Zivilist:innen – eine Folge des grossen Einschlagradius und des hohen Anteils an Bruchstücken, die beim Aufprall auf den Boden nicht explodieren.
Die Fragmente töten und verletzen auch noch Jahre oder Jahrzehnte nach dem Ende der Kampfhandlungen. Kinder machen 47% der Opfer dieser Splitter aus, da sie diese mit Spielzeug verwechseln.
Droht ein Dominoeffekt?
Die NGOs sind besorgt, dass andere Länder Litauens folgen könnten. «Wir befürchten, dass es einen Dominoeffekt auslösen könnte, da sich andere Länder von ihrem Nachbarn bedroht fühlen könnten», bestätigt Daniel Suda-Lang, Direktor des Schweizer Zweigs von Handicap International.
Bisher hat kein anderer Staat die Absicht signalisiert, das Übereinkommen über Streumunition zu verlassen. Anfang des Jahres wurden in Lettland jedoch eine Unterschriften gesammeltExterner Link, um das Land, eine ehemalige Sowjetrepublik und direkter Nachbar Russlands, zum Austritt aus dem Ottawa-Übereinkommen zu bewegen.
Dieses Übereinkommen verbietet seit Ende der 1990er-Jahre Antipersonenminen. Das erklärte Ziel: sich vor einer möglichen Aggression Russlands zu schützen. Der lettische Verteidigungsminister erklärte jedoch, dass ein solcher Austritt nicht gerechtfertigt sei.
«Es ist nicht überraschend, dass die baltischen Staaten der Meinung sind, dass die Verteidigung ihrer Grenzen durch Antipersonenminen verstärkt werden könnte. Finnland ist dem Vertrag über diese Sprengkörper sehr spät beigetreten, zum Teil weil es seine Grenze zu Russland verteidigen wollte», erklärt Keith Krause, Professor für internationale Beziehungen am Institut de hautes études internationales et du développement (IHEID) in Genf.
«Aber niemand hat damals die Art von gross angelegten Aggressionen vorhergesehen, die wir jetzt in Europa beobachten», sagt er. «Die Voraussetzungen für eine humanitäre Abrüstung scheinen nicht mehr gegeben zu sein.»
Wie die meisten Grossmächte haben auch die USA das Übereinkommen über Streumunition nicht unterzeichnet. Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine hat Washington einen Teil seiner Bestände an die Ukraine geschickt, die den Vertrag ebenfalls nicht unterzeichnet hat und die Streumunition zur Verteidigung gegen die russischen Truppen einsetzt.
Doch diese Transfers geben auch Anlass zur Sorge. «Die Lieferung von Streumunition an die Ukraine könnte der Entstigmatisierung von Streumunition dienen und steht im Widerspruch zu den internationalen Bemühungen, ihren Einsatz zu beenden», schreibt Robert Goldman, Professor für Rechtswissenschaften an der American University in Washington, auf der Website The ConversationExterner Link.
«Dies könnte wiederum ihre Verwendung durch andere, potenziell weniger verantwortungsvolle Staaten fördern oder entschuldigen.»
Zaghafte Antwort aus Europa
Die Entscheidung Litauens hat in den europäischen Hauptstädten nur wenige Reaktionen hervorgerufen. Nur zwei LänderExterner Link, Norwegen und Österreich, äusserten ihr Bedauern über die Entscheidung.
Erst im September, als die Vertragsstaaten des Übereinkommens im Palais des Nations in Genf tagten, lösten sich einige Zungen. Bei diesem Treffen ergriffen etwa zehn Staaten das Wort, um ihre Enttäuschung zu teilen und die litauischen Behörden zur Umkehr aufzufordern. Das Land hat sechs Monate Zeit, um seine Entscheidung zu revidieren, bevor sie ihre Wirkung entfaltet.
Auch die zaghaften Reaktionen der NATO-Mächte, zu denen auch Litauen gehört, haben die NGOs nicht beruhigt, da sie sich eine entschiedenere Haltung gewünscht hätten. Vor allem von Frankreich und Deutschland, die zu diesem Fall geschwiegen haben.
«Wir brauchen starke Reaktionen von anderen Staaten, insbesondere von europäischen Ländern und der NATO, um zu zeigen, dass der Rückzug aus einem dieser Übereinkommen einen politischen Preis hat», erklärt Tamar Gabelnick.
Die Schweiz ihrerseits wartete das Treffen der Vertragsstaaten ab, um ihr «Bedauern» über diese Entscheidung zum Ausdruck zu bringen.
«Als Depositarstaat der Genfer Konventionen, der stolz auf seine humanitäre Tradition ist, hat die Schweiz eine Verantwortung, ihrer Stimme mehr Gehör zu verschaffen», meint Daniel Suda-Lang. «Wir sind überzeugt, dass unser Aussenminister mehr Präsenz zeigen sollte, um anzuprangern, was in der Welt und insbesondere in Litauen geschieht.»
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) betonte auf Anfrage, es habe «seine Bedenken in dieser Angelegenheit geäussert» und «Litauen aufgefordert, seine Entscheidung neu zu bewerten», und zwar während des Treffens in Genf sowie öffentlich auf der Plattform XExterner Link.
Das Aussenministerium erklärte, dass es im Vorfeld der Entscheidung des litauischen Parlaments bei bilateralen Kontakten zwischen den jeweiligen Aussenministerien «Schritte unternommen habe».
Erosion des internationalen Rechts
Einige Expert:innen sind der Ansicht, dass diese Ereignisse einen realen Niedergang der humanitären Abrüstung widerspiegeln. «Es gibt unbestreitbar eine Erosion des Engagements für die humanitäre Abrüstung, aber auch der gesamten globalen Abrüstungsarchitektur», sagt Keith Krause.
Beispiele dafür sind der Rückzug der USA aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenstreitkräfte (INF) im Jahr 2019 und der Ausstieg Russlands aus dem Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBT) im Jahr 2023.
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Die wiederholten Verletzungen des humanitären Völkerrechts im Rahmen der Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und im Sudan sowie die Doppelmoral einiger Staaten bei der Verurteilung der Täter lassen befürchten, dass die internationalen Normen zum Schutz von Kriegsopfern tatsächlich geschwächt werden.
Dieser Trend ist nicht neu, aber er scheint sich zu beschleunigen, beobachtet Keith Krause. «Das ist das Ergebnis eines umfassenderen geopolitischen Wandels, bei dem Staaten mit den Ergebnissen oder Einschränkungen, die eine regelbasierte Weltordnung mit sich bringt, unzufrieden sind.»
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Französischen mithilfe von DeepL: Janine Gloor
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