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Der lange Kampf um die Sichtbarkeit von Frauen in Genfs Strassen

Ein riesiger Stuhl, daneben ein Strassenschild
Die feministische Vereinigung "l'Escouade" hat sich mit der Stadt Genf zusammengetan, um die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum zu erhöhen. Stadt Genf

Genfs Bestreben, die geschlechtsspezifische Kluft in der Benennung von Strassen zu schliessen, hat eine vielschichtige Debatte über Tradition, Inklusivität und die Sichtbarkeit von Frauen in der Geschichte ausgelöst.

In den vergangenen fünf Jahren hat die Stadt Genf die Feminisierung ihrer Strassennamen zu einer Priorität erklärt. Auslöser für das Projekt war eine beunruhigende Erkenntnis: Von allen nach Personen benannten Strassen in der Stadt waren nur sieben Prozent Frauen gewidmet.

Heute hat sich diese Zahl auf 15 Prozent verdoppelt. Damit liegt Genf vor Städten wie Paris (8,6%) und Berlin (12,1%), aber noch hinter Stockholm (19,5%) oder Madrid (18,7%).

Doch Genfs Bemühungen spiegeln sich nicht nur in Zahlen wider. Was die Strategie der Stadt von anderen unterscheidet, ist ihr Fokus auf die Umbenennung von Strassen im historischen Zentrum.

Dies stellt eine mutige Abkehr von der üblichen Praxis dar, vorrangig Strassen in Randgebieten oder Neubaugebieten ohne vorherige Adresse mit Frauennamen zu versehen.

Nach Ansicht von Frédéric Giraut, Geografieprofessor an der Universität Genf, setzt die Stadt damit ein mutiges Zeichen. Nicht alle Strassen sind gleich gut sichtbar», sagt er gegenüber SWI swissinfo.ch.

Doch Genfs Vorgehen ist zugleich umstrittener, da es die Umbenennung alter Strassen erfordert und einen höheren Verwaltungsaufwand verursacht als die Benennung einer neuen Strasse. Zudem ruft es mehr Widerstand bei jenen hervor, die sich mit der Geschichte der Stadt verbunden fühlen. «Aus diesem Grund vermeiden die meisten Städte diese Strategie», fügt Giraut hinzu.

Für Laure Piguet, eine der an dem Projekt beteiligten Historikerinnen, war dies jedoch die einzige Möglichkeit, wirklich etwas zu verändern. «Wir wollten die Frauen nicht in Gassen, Sackgassen und abgelegene Viertel verbannen», sagt sie.

Das 2019 gestartete Projekt begann als zeitlich begrenzte Initiative, um auf das Geschlechtergefälle auf Genfs Strassen aufmerksam zu machen. In Zusammenarbeit mit der feministischen Vereinigung «L’Escouade» brachte die Stadt neben den offiziellen Strassenschildern 100 Namensschilder an, die Frauen würdigen.

«Dies löste eine Debatte über die Unsichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum aus», sagt Heloïse Roman, die das Projekt für die Stadt leitete und es als einen Erfolg bezeichnet. Infolgedessen beschloss das Parlament, 100 Strassen im ganzen Kanton nach Frauen zu benennen, diesmal dauerhaft.

Die Stadt Genf wollte 30 Strassen umbenennen, und zwar nach den im Gesetz festgelegten Kriterien: Um für eine Strassennamen in Frage zu kommen, müssen die Frauen seit mindestens zehn Jahren tot sein und zur Geschichte oder zum Einfluss der Stadt beigetragen haben.

Strassenschilder in Genf mit Namensschilder zu Ehren von Frauen
2019 hat die Stadt Genf in Zusammenarbeit mit der feministischen Vereinigung «l’Escouade» hundert Namensschilder zu Ehren von Frauen neben den offiziellen Strassenschildern angebracht. 100elles / creative commons

Den historischen Rahmen erweitern

Piguet und andere mit den Namensvorschlägen betraute Historikerinnen und Historiker beschlossen, dieses letzte Kriterium zu überdenken, um nicht nur bekannte Persönlichkeiten, sondern auch weniger bekannte Frauen aus der Genfer Geschichte zu berücksichtigen.

«In der Vergangenheit wurden Strassen nach den Urhebern militärischer Heldentaten, wissenschaftlicher Durchbrüche oder künstlerischer Meisterwerke benannt», sagt die Historikerin.

«Aber im Lauf der Geschichte war es für Frauen, vor allem für jene aus den unteren Gesellschaftsschichten, schwierig, Teil dieser herausragenden Geschehnisse zu sein. Um sie zu repräsentieren, mussten wir den Rahmen dessen erweitern, was für die Stadt als wichtig erachtet wurde», so Piguet.

«So haben wir beispielsweise eine Strasse nach drei Wäscherinnen benannt, die 1913 bei einem Unfall mit ihrem Waschküchenboot ums Leben kamen», erklärt sie. Auf solchen im Fluss festgemachten Booten konnte die Arbeiterklasse damals ihre Wäsche waschen.

«Der Tod dieser Frauen führte dazu, dass sicherere Waschküchenboote gebaut wurden. In dieser Hinsicht war dies ein Schlüsselereignis in der Entwicklung von Genf.»

Die Stadt legte zudem Wert auf Vielfalt und wählte Persönlichkeiten wie Annie Jiagge, eine ghanaische Anwältin und Aktivistin, und die Journalistin Marie-Claude Leburgue, eine LGBTQ-Befürworterin.

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Kritik und Widerstand

Diese integrative Strategie stiess bei einigen Historikerinnen, Politikern und lokalen Vereinen auf Ablehnung. Kritikerinnen und Kritiker wie die Historikerin Isabelle Brunier bemängeln, dass einige der neuen Strassennamen, besonders jene mit ausländischer Herkunft, schwer auszusprechen seien, und stellen in Frage, ob Personen mit kurzzeitigen Verbindungen zur Stadt eine solche Anerkennung verdienen.

«Man hat sich für Menschen entschieden, die aus den Vereinigten Staaten oder aus Afrika kamen, für lesbische Aktivistinnen, für Menschen, die vielleicht sechs Monate in Genf in einer bestimmten Kommission der Vereinten Nationen gearbeitet haben und die niemand kennt. Ist das ein Beitrag zur Geschichte von Genf?», fragt sie.

Auch praktische Einwände waren zu hören. Die Anwohnenden äusserten sich besorgt über logistische Kosten als Folge von Adressänderungen, über die Störung von Betriebsabläufen und über mögliche Hänseleien im Zusammenhang mit bestimmten Namen.

So wehrten sich beispielsweise die Anwohnenden der Rue Sautter erfolgreich gegen die Neubenennung ihrer Strasse nach Henriette Saloz-Joudra, der ersten Frau, die in Genf eine Arztpraxis eröffnete, unter anderem mit dem Argument, dass ihr Nachname an eine französische Beleidigung erinnere.

Abgesehen von den logistischen Herausforderungen beklagen Befürwortende der Denkmalpflege den Verlust von Strassennamen, die mit der Vergangenheit Genfs verbunden sind.

«Die Rue de la Scie (Strasse der Säge) erinnert an die historischen Sägewerke von Eaux-Vives», sagt Brunier. Die Strasse, die in Rue Annie Jiagge umbenannt werden sollte, behielt schliesslich ihren ursprünglichen Namen.

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Die Rolle von Sexismus

Hinter vielen Einwänden steht der Widerstand gegen eine grössere Repräsentanz von Frauen im öffentlichen Raum. Cathy Jacquier, eine gewählte Vertreterin der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Genfer Stadtrat, ist eine entschiedene Gegnerin der Feminisierung von Strassennamen.

«Wir löschen die Vergangenheit aus, weil wir Frauen vorziehen wollen, auf Kosten von Männern, die besser geeignet gewesen wären», bedauert sie und fügt hinzu, dass sie sich selbst als Feministin betrachte, die Initiative aber dogmatisch sei und den Frauen nicht diene.

Brunier betont ebenfalls, Feministin zu sein, hält jedoch Strassennamen in diesem Kontext für unbedeutend. «Kleine Mädchen treten nicht in die Fussstapfen von Frauen, die sie auf Strassenschildern sehen», stellt sie fest und fügt hinzu, dass die Mädchen, die sie kennt, eher an Prinzessinnen aus Märchen interessiert seien.

Piguet, die an dem ursprünglichen Projekt mitgearbeitet hat, ist vom Gegenteil überzeugt. «Wenn Mädchen die Namen von Frauen auf Strassenschildern lesen, zeigt ihnen das, was sie erreichen können», sagt sie.

Als sie ihr Engagement begann, ahnte Piguet nicht, dass die Initiative auf so viel Ablehnung stossen würde. «Ich dachte, es sei ein Mainstream-Projekt», erinnert sie sich.

Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen aus der städtischen Arbeitsgruppe haben sich oft gefragt, welche Rolle Sexismus bei den Anfeindungen spielte, denen sie ausgesetzt waren. «Wir wurden als ‹unvernünftig› bezeichnet, unsere Fähigkeiten wurden in Frage gestellt. Wäre das auch passiert, wenn wir Männer gewesen wären?», fragt sie sich.

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Ein Schritt vorwärts auf einem langen Weg

Trotz der Kontroverse feiert die Gruppe ihr jüngstes Etappenziel: die Umbenennung eines Platzes nach Grisélidis Réal, einer Sexarbeiterin und Autorin. Dazu musste sie den Widerstand in zwei verschiedenen Vierteln überwinden.

Nach Ende des Projekts wird sich die Stadt wahrscheinlich darauf konzentrieren, neue Strassen zu benennen, anstatt alte umzubenennen, sagt Roman, die das ursprüngliche Projekt geleitet hatte.

Dennoch ist Genf noch weit von der Geschlechterparität entfernt. Ein Bericht des European Data Journalism Network warnt, dass es bei der derzeitigen Geschwindigkeit, mit der Städte ihre Strassennamen umwidmen, Jahrhunderte dauern würde, bis eine Gleichstellung erreicht wäre. Selbst wenn alle neuen Strassen von nun an nach Frauen benannt würden.

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Editiert von Virginie Mangin, Bildredaktion: Helen James, Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove

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