Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Die Gefahr eines Atomkriegs lähmt das internationale Genf

startende Rakete
Eine ballistische Interkontinentalrakete vom Typ Yars wird im Rahmen der russischen Atomwaffenübungen von einem Startplatz in Plesetsk im Nordwesten Russlands getestet. Oktober 2022. Keystone/Russian Defense Ministry Press Service

Während Russland mit Atomwaffenübungen in der Nähe der Ukraine begonnen hat, sind die Abrüstungsgespräche in Genf ins Stocken geraten. Ist die Diplomatie der nuklearen Bedrohung gewachsen?

«Wir standen noch nie so nahe an einem Atomkrieg“, sagt Marc Finaud, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sicherheitspolitik in Genf.

Seit der Invasion in der Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin nicht aufgehört, mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen. Am 21. Mai gab die russische Armee bekannt, dass sie in der Nähe der ukrainischen Grenze mit militärischen Übungen zum Einsatz taktischer Atomwaffen begonnen habe. Damit reagierte sie auf die mögliche Stationierung von Nato-Soldat:innen in der Ukraine.

In diesem angespannten internationalen Kontext nahm die Abrüstungskonferenz im Palais des Nations in Genf ihre Arbeit wieder auf, um ihre zweite Sitzung des Jahres (13. Mai bis 21. Juni) abzuhalten.

Das 1979 gegründete halbuniversitäre Gremium befindet sich seit 1996 in einer Sackgasse. So lange ist es her, seit die Konferenz ihr letztes Instrument, den Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, ausgehandelt hat.

Stillstand bei den Verhandlungen

«Die Atommächte blockieren jeden Fortschritt, indem sie die Konsensregel als Vetorecht missbrauchen, selbst bei der Verabschiedung des Arbeitsprogramms“, sagt Finaud. Das hat dazu geführt, dass seit der Jahrtausendwende keine ernsthaften Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot begonnen wurden.

Susi Snyder, Koordinatorin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), einer Koalition von NGOs mit Sitz in Genf, ist der Meinung, dass ein Mangel an Transparenz diese Blockaden begünstigt. Sie erinnert daran, dass die Konferenz seit 1982 den Kreis ihrer Mitglieder nicht mehr erweitert hat und neue Beitritte systematisch ablehnt.

Hat die Abrüstungskonferenz, die insbesondere Uno-Generalsekretär António Guterres heftig kritisiertExterner Link, ihre Glaubwürdigkeit verloren?

«Die Konferenz ist unproduktiv, aber sie hat den Vorteil, dass sie alle neun Atommächte an einen Tisch bringt“, sagt Finaud, der fünf Jahre lang als französischer Diplomat bei der Konferenz gearbeitet hat.

Zwar steht das Verbot von Atomwaffen nicht auf der Tagesordnung. Aber die Konferenz befasst sich mit verwandten Themen wie dem Verbot der Produktion von spaltbarem Material, das für die Herstellung von Atomwaffen unerlässlich ist. Oder mit dem Vorschlag des Erstschlagsverbots, einer Politik also, bei der sich ein Staat verpflichtet, im Konfliktfall den Einsatz der Atombombe nicht zu initiieren, wie Finaud ausführt.

Der Uno-Chef warnteExterner Link, dass eine Reform der Konferenz dringend notwendig sei. Im Januar machte das Institut der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung (Unidir) Vorschläge zur Wiederbelebung der KonferenzExterner Link, indem Staaten, die «den Konsens als Vetomacht nutzen“, zur Rechenschaft gezogen werden, beispielsweise indem sie schriftliche Erklärungen abgeben müssen.

Der Atomwaffenverbotsvertrag

Angesichts der festgefahrenen Situation werden Fortschritte bei der Abrüstung oft am Rande der Konferenz erzielt. «Eine Gemeinschaft von Experten, Foren und NGOs umkreist die Konferenz in Genf. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden alle Abrüstungsabkommen auf Initiative der Zivilgesellschaft verabschiedet», erinnert Finaud.

Dies gilt auch für den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV), den die ICAN 2017 initiiert hat. Sie erhielt dafür den Friedensnobelpreis.

Der Vertrag ist seit 2021 in Kraft und verbietet Atomwaffen explizit, unabhängig davon, ob es sich um die Herstellung, den Besitz, den Einsatz, die Androhung des Einsatzes oder den Transfer handelt.

Bisher haben 93 Staaten den Vertrag unterzeichnet und 70 haben ihn ratifiziert, aber keine Atommacht ist ihm beigetreten. Dies im Gegensatz zum Atomwaffensperrvertrag (NVV), der die Atombombe jedoch nicht illegal macht.

Externer Inhalt

Die Schweiz spielte eine zentrale Rolle bei den Verhandlungen über den Verbotsvertrag. Doch obwohl sich das Parlament für den Text ausgesprochen hat, verzichtet der Bundesrat darauf, ihn zu unterzeichnen.

Die russische Invasion in der Ukraine hat die Schweiz dazu veranlasst, sich der Nato anzunähern, so dass im Laufe des Jahres ein Verbindungsbüro in Genf eröffnet werden soll. Diese Annäherung hat jedoch einen hohen Preis.

Laut der Tageszeitung Le Temps übt die «Atomallianz“ Druck auf die Schweiz aus, damit sie den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen nicht ratifiziert.

Ende März vertrat der Bundesrat die Ansicht, dass ein Beitritt zum Vertrag «nicht im Interesse der Schweiz“ sei, obwohl er daran erinnerte, dass der Einsatz von Atomwaffen nicht mit dem Völkerrecht vereinbar ist.

Er betonte, dass eine atomwaffenfreie Welt nur durch die Zusammenarbeit mit den Atommächten erreicht werden könne, und wies damit auf die Schwäche des Verbotsvertrags hin.

Eine bedauerliche Entscheidung, meint Finaud, für den der Vertrag trotz der Absenz der Atommächte bereits Früchte trägt: «In den Vertragsstaaten mussten Banken, Unternehmen, Universitäten und Privatpersonen auf jegliche Kooperation verzichten, die zur Entwicklung von Atomwaffen beitragen würde.»

Mehr

Wenn Abschreckung in Einschüchterung umschlägt

Ein weiteres Argument, das immer wiederkehrt, ist die Wirksamkeit der nuklearen Abschreckung, um einen Konflikt zu verhindern.

Doch seit dem Krieg in der Ukraine haben sich die Spielregeln geändert, betont der Sicherheitsexperte: «Ursprünglich sollten Atomwaffen den Frieden fördern, indem sie vor Angriffen abschreckten, ohne jemals eingesetzt zu werden. Heute ist dieses Paradigma hinfällig geworden. Die Abschreckung hat nicht verhindert, dass Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine ausbrechen.“

Im Gegenteil, Atomwaffen würden sogar zur Einschüchterung und Nötigung eingesetzt, sagt Susi Snyder. Die von ihr koordinierte ICAN-Koalition hat eine Volksinitiative gestartet, damit die Schweiz dem Verbotsvertrag beitritt.

Externer Inhalt

Derzeit gibt es weltweit mehr als 12’500 Atomwaffen, von denen sich die grosse Mehrheit in den Händen der USA und Russlands befindet. Während die Verhandlungen in Genf ins Stocken geraten, entwickelt sich die Technologie immer weiter, insbesondere durch künstliche Intelligenz.

«Wir erleben einen neuen nuklearen Rüstungswettlauf. Die Waffen werden moderner, stärker und schneller, was die Zeit für die Entscheidungsfindung für einen Atomangriff verkürzt», sagt Susi Snyder.

«Die Diplomatie wird von der Technologie überholt“, sagt Finaud. Bis heute ist keine Erklärung zur Regulierung autonomer Waffen in die Tat umgesetzt worden.“

Eine beispiellose Eskalation, die katastrophale humanitäre Folgen befürchten lässt, wobei Zivilist:innen unweigerlich zu Kollateralopfern werden.

«Selbst ein begrenzter Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan würde einen ‚nuklearen Winter‘ auslösen, der eine weltweite Hungersnot zur Folge hätte, welcher zwei bis fünf Milliarden Menschen zum Opfer fallen würden“, sagte der Experte unter Berufung auf eine Studie, die 2022 in Nature erschienen istExterner Link.

Ein Risiko, das die Gesellschaft aus den Augen verloren hat, weil es so unvorstellbar erscheint, fügt er hinzu. Dennoch war ein nuklearer Konflikt seit dem Kalten Krieg noch nie so greifbar.

Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger

Sie interessieren sich für das Internationale Genf, die Schweizer Aussenpolitik, den Finanzplatz Schweiz? Dann abonnieren Sie hier unsere thematischen Newsletter:

Mehr
Newsletters SWI swissinfo.ch

Mehr

Newsletter

Melden Sie sich für unsere Newsletter an und Sie erhalten die Top-Geschichten von swissinfo.ch direkt in Ihre Mailbox.

Mehr Newsletter

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft