Diese Personen aus der Schweiz haben die Geschichte des humanitären Rechts geprägt
Die Genfer Konventionen von 1949 werden heute 75 Jahre alt. Anlässlich des Jubiläums werfen wir einen Blick auf Schweizer Persönlichkeiten, die sich von 1864 bis 2024 für das humanitäre Völkerrecht eingesetzt haben.
Die Konventionen schützen insbesondere Zivilisten, medizinisches Personal, Verwundete und Kriegsgefangene. Alle Staaten haben sie ratifiziert. Die Schweiz ist das Depositarland.
Die Verpflichtungen, die sich daraus ergeben, mögen vor dem Hintergrund, dass sie in der Ukraine, in Gaza, Syrien oder Myanmar weitgehend missachtet werden, unbedeutend erscheinen.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erinnert jedoch daran, dass sie Millionen von Menschenleben gerettet haben. Und indem sie die Leiden des Krieges lindern, erleichtern sie die Rückkehr zum Frieden.
Im Laufe der Jahre haben sich viele Schweizer Persönlichkeiten für die Weiterentwicklung und Verteidigung der Genfer Konventionen eingesetzt. Sechs von ihnen im Portrait.
Henry Dunant (1828-1910) und Gustave Moynier (1826-1910), die Gründerväter
Henry Dunant war ein Genfer Geschäftsmann, der aus einer religiösen Familie stammte. Auf einer Geschäftsreise, die ihn nach Norditalien führte, erlebte er am 24. Juni 1859 die Schrecken der Schlacht von Solferino.
Angesichts des Leids der rund 40’000 verwundeten Soldaten meldete sich Henry Dunant freiwillig, um ihnen zu helfen, und organisierte gemeinsam mit den Einheimischen die Hilfsmassnahmen.
Nach seiner Rückkehr nach Genf veröffentlichte er drei Jahre später «Un souvenir de Solférino», in dem er sich für eine internationale Konvention einsetzte, die den Schutz der Opfer von Konflikten garantierte.
Ausserdem rief er darin zur Gründung von Hilfsgesellschaften auf, die bereit waren, Kriegsverletzten Hilfe zu leisten. Beide Ideen waren damals revolutionär. Die erste führte zur Gründung der Genfer Konventionen und die zweite zur Gründung der Rotkreuzbewegung.
Die ursprüngliche Idee stammt zwar von Henry Dunant, aber die konkrete Umsetzung wäre ohne den Beitrag eines anderen Genfers, des Juristen Gustave Moynier, nicht möglich gewesen.
Seinem juristischen Talent und seinem praktischen Geist ist es zu verdanken, dass die Genfer Konvention von 1864 ein Jahr nach der Geburt des Vorläufers des IKRK ins Leben gerufen wurde.
Er war es auch, der die europäischen Gerichte aufsuchte im Vorfeld der Unterzeichnung dieses ersten Vertrags, der die Grenzen und Regeln für den Kriegsfall festlegte. Darunter der Schutz des medizinischen Personals und die würdige Behandlung von Verwundeten.
Gustave Moynier wird der erste Präsident des IKRK, während sich der geschäftlich gescheiterte Henry Dunant in einen kleinen Ort im Kanton Appenzell-Ausserrhoden zurückzieht.
Max Petitpierre (1899-1994), der Bundesrat, der sich für humanitäre Zwecke einsetzte
Petitpierre wurde 1945, nur wenige Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Bundesrat sowie Aussenminister. Nach dem Ende des Krieges war klar, dass man das Völkerrecht aktualisieren und stärken musste, um eine Wiederholung der Schrecken des Krieges zu verhindern.
Vier Jahre später berief Max Petitpierre eine internationale Konferenz in Genf ein, deren Vorsitz er übernahm. Sie führte zu den vier Genfer Konventionen von 1949, die insbesondere den Schutz der Zivilbevölkerung sicherstellen sollten.
Max Petitpierre wird 16 Jahre lang in der Schweizer Regierung tätig sein. Er ist bekannt für seinen Einfluss auf die Entwicklung einer aktiven Neutralitätspolitik sowie für die Positionierung von Genf als «Hauptstadt des Friedens».
Jean Pictet (1914-2002), der Vater des zeitgenössischen humanitären Rechts
Als rechte Hand des IKRK-Präsidenten Max Huber während und nach dem Zweiten Weltkrieg spielte Jean Pictet eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung und Wiederbelebung des damals stark diskreditierten humanitären Völkerrechts.
In der Nachkriegszeit begann der Genfer Jurist mit den Vorarbeiten, die zur Verabschiedung der Genfer Konventionen von 1949 führten.
Neben seiner Beteiligung an der Abfassung dieser historischen Texte war Jean Pictet auch an den Verhandlungen über die Zusatzprotokolle beteiligt, die 1977 verabschiedet wurden.
Seine Bemühungen und sein Beitrag zu den Grundprinzipien des Roten Kreuzes, darunter Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit, brachten ihm den Beinamen «Vater des zeitgenössischen humanitären Völkerrechts» ein.
Im Laufe seiner langen Karriere beim IKRK bekleidete Jean Pictet unter anderem die Positionen des Generaldirektors und des Vizepräsidenten.
Élisabeth Decrey Warner (geboren 1953), die Gründerin von Geneva Call
Elisabeth Decrey Warner ist Physiotherapeutin und setzt sich seit Jahren für das Verbot von Antipersonenminen ein. Als 1997 in Ottawa ein internationaler Vertrag über das Verbot von Minen unterzeichnet wurde, erkannte sie, dass es wirkungslos bleibt, wenn bewaffnete Gruppen – also keine Staaten – die Minen verlegen.
Sie beschloss daraufhin, Geneva Call zu gründen. Seit 2000 führt die NGO Gespräche mit bewaffneten Gruppen, um sie zu sensibilisieren und ihnen das Kriegsrecht beizubringen. Sie ergänzt damit das Engagement des IKRK.
Während ihrer mehr als fünfzehnjährigen Tätigkeit als Leiterin dieser Organisation reiste Elisabeth Decrey Warner um die Welt, von Kolumbien bis Syrien, und versuchte, Rebellengruppen davon zu überzeugen, Verpflichtungen im Hinblick auf das humanitäre Völkerrecht einzuhalten.
«Wenn man nur mit den Guten diskutiert, wird das die Welt nicht verändern», sagte sie 2016 gegenüber Le Temps. Sie erhielt mehrere Ehrungen, darunter die Auszeichnung «d’Officier de la Légion d’honneur» (2023) und den Preis der «Fondation pour Genève» (2016).
Mirjana Spoljaric Egger (geboren 1972), erste weibliche Präsidentin des IKRK
Mirjana Spoljaric Egger ist seit Oktober 2022 Präsidentin des IKRK. Sie ist die erste Frau, die dieses Amt in der über 160 Jahre alten Organisation bekleidet.
Geprägt von den Kriegen in der Ukraine, im Sudan und in Gaza waren ihre ersten beiden Amtsjahre nicht einfach. Die Baslerin musste die Neutralität und die zunehmend missverstandene Rolle des IKRK gegenüber Kritiker:innen, insbesondere der ukrainischen und israelischen Regierungen, verteidigen.
Nach Jahren der Expansion musste die Präsidentin die Organisation im letzten Jahr ausserdem verkleinern, da sie mit einer beispiellosen Budgetkrise konfrontiert war.
Editiert von Imogen Foulkes, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger
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