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In einem Einkaufszentrum treffen das internationale und das lokale Genf aufeinander ‒ vermeintlich

Ein junger Mann an einem Stand der internationalen Organisationen in einem Einkaufszentrum.
Viele der Besuchenden der Stände des Internationalen Genf in einem Shoppingcenter waren Vertreter:innen einer NGO oder eines Unternehmens. Manche hofften auf Kontakte für eine spätere Tätigkeit in der Diplomatie. swissinfo.ch/ Dorian Burkhalter

Letzte Woche hat sich das Internationale Genf einer nicht alltäglichen Übung unterzogen: Es hat seine Arbeit dem breiten Publikum in Genf erklärt, in einem Einkaufszentrum. Für einige Mitarbeitende waren es mit die ersten Kontakte mit Einheimischen.

Popsongs und Geschirrklappern hallen an diesem Mittwochnachmittag im April durch die Flure von Balexert. Das trübe Wetter deutet draussen auf eine Rückkehr des Winters hin. Drinnen flanieren ein paar Mütter mit Kindern und Rentner zwischen den Geschäften des Komplexes.

Ungewöhnlich ist die Szenerie im Atrium: Hier sind rund 20 internationale Beamt:innen um zwei Reihen von Ständen herum aktiv, erkennbar an markanten blauen Abzeichen. In ihrer Mitte befindet sich ein beleuchteter Ballon. Darauf sind die Flaggen von 193 Ländern aufgedruckt.

Die Ausstellung «Rencontrerez la Genève Internationale», die zum ersten Mal in diesem Konsumtempel stattfindet, bringt zwei Welten zusammen, die sich sonst kaum begegnen. Das sogenannte Internationale Genf  ‒ unter anderem vertreten durch Organisationen der UNO, das CERN, die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (IFRC)  ‒ und das lokale Genf: die Kundschaft in den Geschäften.

Ziel der Aktion ist es, den Genfer:innen einen besseren Einblick in die Arbeit der internationalen Organisationen zu geben.

Menschenrechte, serviert vor einem Kettenrestaurant. Blick auf die Stände im Einkaufszentrum Balexert, die an eine Rolltreppe anschliessen.
Blick auf die Stände der internationalen Organisationen. swissinfo/Dorian Burkhalter

Komplizierte Erklärungen

An den Ständen von humanitären Organisationen wie dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) oder der IFRC zeigt man sich angenehm überrascht über die Reaktionen und den Wissensstand des Publikums.

Für einige ist diese pädagogische Arbeit jedoch mühsamer als für andere. Am Stand des Menschenrechtsbüros hat Daria, eine junge Frau russischer Herkunft, die schwierige Aufgabe, zu erklären, was die Vereinten Nationen tun, um die Grundrechte der Menschene auf der ganzen Welt zu schützen.

«Es ist nicht einfach», gibt sie in einem ausgezeichneten Französisch zu. «Ich habe erwartet, dass einige Leute den Vereinten Nationen misstrauisch gegenüberstehen. Das ist in der aktuellen Situation völlig normal. Auch in meinem Umfeld fragen mich viele Menschen, was wir wirklich erreichen.»

Die Tatsache, dass der Sicherheitsrat aufgrund des Vetos seiner fünf ständigen Mitglieder nicht in der Lage ist, die Kriege in Gaza, der Ukraine oder Syrien zu verhindern oder zu beenden, hat das Image der Vereinten Nationen als Ganzes beschädigt. Dazu gehört auch das Image ihrer Organe in Genf.

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Doch Daria lässt sich nicht entmutigen. Als Dzhem, ein Gymnasiast aus dem benachbarten Frankreich, an ihren Stand kommt, erklärt sie ihm konkret, was das Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte tut. Insbesondere durch die Präsenz in Dutzenden von Ländern.

«Wir werden ein Projekt machen, um Jugendlichen in lokalen Gemeinden die Menschenrechte zu lehren. Damit sie wissen, welche Rechte sie haben und wie sie diese verteidigen können», erklärt sie begeistert.

Mit Kinokarten in der Hand und einem Pullover einer amerikanischen Marke über den Schultern scheint der 18-Jährige zufällig auf die Ausstellung gestossen zu sein.

Ein falscher Eindruck, seine Tickets hat er sich verdient, indem er das Quiz am Stand nebenan richtig beantwortet hat. Und er ist tatsächlich hier, um die Akteure der internationalen Zusammenarbeit zu treffen.

«Seit meiner Jugend lese ich viele Bücher über internationale Organisationen», erklärt er. Nächstes Jahr will er an der Universität Maastricht europäisches Recht studieren. Aber was ist mit seinen Klassenkamerad:innen, denken sie, dass die UNO nützlich ist?

Er lacht. «Viele werden sagen, dass sie nichts bringt, weil es viele grosse Probleme auf der Welt gibt, bei denen die UNO versucht, einzugreifen, aber nicht wirklich etwas erreicht.»

«Aber das ist nicht meine Meinung», stellt Dzhem klar. Ein Beweis dafür, dass die Vereinten Nationen nach wie vor Träume wecken, ist die Tatsache, dass mehrere der angetroffenen Personen zugeben, dass sie gekommen sind, um zu netzwerken und, warum auch nicht, einen künftigen Job zu ergattern.

Getrennte Welten

Ein Stück weiter, am Stand der Interparlamentarischen Union (IPU), freut sich Kate, eine Australierin, die seit drei Jahren in der Schweiz lebt, darauf, mit der Genfer Bevölkerung in Kontakt zu kommen.

«Ich habe gerade zu meiner Kollegin gesagt, dass es das erste oder zweite Mal ist, dass ich jemanden treffe, der wirklich aus Genf kommt. Für mich ist es eine gute Gelegenheit, mit den Einheimischen zu sprechen», sagt sie mit einem breiten Lächeln.

Denn obwohl die Gebäude dieser Organisationen von weitem erkennbar sind und es in der Stadt viele Expats gibt, bleibt ihre Welt für die breite Öffentlichkeit wenig zugänglich. Und es besteht eine gegenseitige Unkenntnis.

«Das internationale Genf bleibt isoliert und ich denke, dass dies vielleicht ein wenig Absicht ist. Man will Distanz wahren, ohne unbedingt von Überlegenheit zu sprechen. Das ist der Fehler der Diplomatie», sagt Sergio mit einem Lächeln.

Der 83-jährige Rentner aus Italien gibt zu, dass auch er in dieser Blase der Expats gelebt hat. Heute bedauert er, dass er die französische Sprache nicht besser beherrscht. Die Sprache hat er während seiner Zeit als Angestellter des Konsulats seines Landes in Genf kaum gesprochen.

An vielen Ständen wird übrigens lieber Englisch gesprochen. Für die meisten Besucher:innen scheint dies jedoch kein Problem zu sein.

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Ein sinnvoller Schritt?

Während die meisten der angetroffenen Einheimischen sagen, dass sie wegen der Ausstellung gekommen sind, gibt es auch einige, die zufällig da sind. Dies ist der Fall bei Hanane und ihren vier Kindern. Sie haben nach dem Einkaufen beschlossen, einen Umweg zu machen, um sich mit den Wissenschaftler:innen des CERN auszutauschen.

«Das ist eine Welt, die ich überhaupt nicht kenne. Natürlich höre ich von einigen internationalen Organisationen, aber ich habe keine Ahnung, welche davon was macht», sagte sie. Sie fügte hinzu: «Aber es ist eine schöne Überraschung, die Kinder haben etwas Schönes entdeckt.»

Es ist schwer zu sagen, was die meisten Menschen denken, die nur einen flüchtigen Blick in Richtung der Ausstellung werfen. Für die Vertreter:innen des internationalen Genf scheint die Aktion ein Erfolg zu sein, der eine Wiederholung verdient.

Eine Feststellung, die Yuyu, eine junge chinesische Praktikantin am Forschungsinstitut der Vereinten Nationen für soziale Entwicklung (UNRISD), teilt. «Ich denke, dass dies der richtige Weg ist. Auch wenn es sich bei den meisten Besuchern um Vertreter von Organisationen, Unternehmen und NGOs handelt, die Verbindungen oder Kooperationen suchen. Bisher war die breite Öffentlichkeit eher zögerlich.»

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Editiert von Imogen Foulkes/vm, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger

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