«In Gaza sind die humanitären Helfer keine Helden, sondern Opfer»
Nach ihrer Rückkehr aus Gaza prangert die Nothilfekoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen systematische Angriffe auf humanitäre Helfer:innen an, nur wenige Tage nach dem Tod von sieben Mitarbeitenden von World Central Kitchen.
Ende März wurden bei einem israelischen Luftangriff sieben Mitarbeitende von World Central Kitchen getötetExterner Link. Die NGO lieferte Lebensmittel in den Gazastreifen, wo 1,1 Millionen Menschen einer drohenden Hungersnot gegenüberstehenExterner Link. Dieser Vorfall ist im Zusammenhang mit der Behinderung der humanitären Hilfe in den palästinensischen Gebieten zu sehen.
Ärzte ohne Grenzen (MSF) hat rund 400 Mitarbeitende in Gaza im Einsatz hat. Die Hilfsorganisation hat vor wenigen Tagen an einer Pressekonferenz in Genf wiederholte Angriffe auf ihre Mitarbeitende angeprangert. Seit Oktober wurden mindestens 196 humanitäre Helfer:innen in der palästinensischen Enklave getötet, darunter fünf Mitarbeitende von MSF.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums der Hamas sind dort mehr als 33’000 Menschen gestorben. Die UNO schätzt, dass rund 70% der Opfer Frauen und Kinder sindExterner Link. Nach ihrer Rückkehr nach Genf berichtet Marie-Aure Perreaut Revial, Notfallkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen, SWI über ihren Alltag und den ihrer Teams.
SWI swissinfo.ch: Sie haben für MSF in Äthiopien, im Kongo, in Pakistan und im Sudan gearbeitet. Inwiefern unterscheidet sich Gaza von Ihren bisherigen Erfahrungen?
Marie-Aure Perreaut Revial: Menschliches Leid ist bei jedem Einsatz präsent und kann nicht verglichen werden. Als Notfallkoordinatorin hatte ich jedoch noch nie so viel Angst um mein Team. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, halte ich den Atem an, weil ich denke, dass ich einen weiteren Kollegen verloren habe. Diese ständige Angst ist spezifisch für Gaza, wo humanitäre Helfer:innen ebenso zur Zielscheibe geworden sind wie Zivilisten.
Der israelische Premierminister Benyamin Netanyahu hat die Angriffe, bei denen sieben humanitäre Helfende von World Central Kitchen (WCK) getötet wurden, als «unbeabsichtigt» bezeichnet, aber laut MSF handelt es sich um einen vorsätzlichen Angriff. Was veranlasst Sie zu dieser Aussage?
Die Mitarbeitenden von WCK, mit denen wir eng zusammenarbeiteten, waren eindeutig identifiziert. Ihre Routen wurden mit der israelischen Armee abgestimmt und ihre Identitäten waren bekannt. Diese Vorgehensweise wird von allen humanitären Helfer:innen, einschliesslich MSF, befolgt: Wir tauschen ständig unsere GPS-Koordinaten aus und melden jede Bewegung. Wenn wir wegen einer Rakete sterben, kann niemand sagen, dass es ein Fehler war.
Doch die Krankenhäuser, in denen wir arbeiten, unsere Konvois und auch die Unterkünfte, in denen wir schlafen, werden ständig angegriffen. Nach der Zerstörung des Al-Shifa-Krankenhauses im Norden von Gaza wurde nun auch das Al-Aqsa-Krankenhaus, in dem MSF arbeitet, von israelischen Angriffen getroffen. In den letzten sechs Monaten wurden fast 200 humanitäre Helfer:innen in Gaza getötet, darunter fünf von MSF. In einem solchen Ausmass sind solche Angriffe entweder absichtlich oder offenbaren eine gefährliche Inkompetenz.
Vor Ort koordinieren Sie sich mit palästinensischen Organisationen, wie dem Palästinensischen Roten Halbmond. Welche Kontakte pflegen Sie zu israelischen Akteur:innen?
Es gibt keine Kontaktlinie zur israelischen Armee, was im Vergleich zu den Konflikten, in denen wir normalerweise operieren, beispiellos ist. Wir sind daher gezwungen, über dritte Ansprechpartner zu gehen, was das Management unserer Sicherheit erheblich erschwert. Was die israelische humanitäre Präsenz in Gaza betrifft, so ist diese nicht existent.
Seit dem Angriff haben World Central Kitchen und mehrere andere Organisationen ihre Aktivitäten in Gaza eingestellt. Was ist mit MSF?
Derzeit halten wir unseren Einsatz in Gaza aufrecht, bewerten unsere Präsenz jedoch ständig neu. Im November haben wir versucht, Grenzen für die Präsenz unseres internationalen Personals festzulegen.
Heute sind all diese roten Linien überschritten. Es gibt keinen sicheren Raum für humanitäre Helfer:innen, um ihre Arbeit in Gaza zu tun. Das ist etwas, was ich in meiner Karriere noch nie erlebt habe. Man fragt sich ständig: Welches Krankenhaus wird als nächstes bombardiert? Wenn man nach Gaza geht, akzeptiert man die Möglichkeit, dass man nicht mehr zurückkehren wird.
Kann die humanitäre Hilfe unter diesen Umständen in der Enklave wirklich fortgesetzt werden?
Die Frage ist nicht, ob sie fortgesetzt werden kann, sondern ob sie überhaupt beginnen kann. Nach sechs Monaten des Einsatzes ist es nicht gelungen, die Not der Zivilbevölkerung zu lindern. Das Ausmass der Krise ist zu gross. Kein Gesundheitssystem der Welt hat die Kapazitäten, um ein solches Blutbad zu bewältigen. Die humanitäre Reaktion auf Gaza heute ist daher eine Illusion. Wir können unsere Patienten nicht erreichen, ohne angegriffen zu werden. In Gaza sind humanitäre Helfer:innen keine Held:innen, sondern Opfer.
Die humanitäre Gemeinschaft beschuldigt Israel, die Vereinten Nationen und internationale Organisationen zu umgehen, insbesondere durch die Auflösung der UNRWA, um ein paralleles System von Hilfslieferungen unter israelischer Kontrolle aufzubauen. Ist das auch Ihre Beobachtung?
Tatsächlich stösst Israel nicht nur die UNO, sondern auch alle internationalen Organisationen ab. Mehrere Geber, darunter die Schweiz, haben ihre Finanzierung für die UNRWA eingestellt, da Israel sie beschuldigt, an den von der Hamas begangenen Verbrechen mitzuwirken.
Dabei ist das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge das Rückgrat der Gesellschaft in Gaza. Sie garantiert grundlegende Dienstleistungen wie die Verteilung von Lebensmitteln, den Zugang zu medizinischer Versorgung oder die Abfall- und Abwasserentsorgung. Es ist schlichtweg unmöglich, sie zu ersetzen, zumal keine israelische Hilfe in Gaza ankommt, obwohl die Behörden dies behaupten.
Tut die internationale Gemeinschaft genug, um humanitäre Helfer:innen zu schützen?
Absolut nicht. Die Arbeitsbedingungen in Gaza sind beispiellos. Alle Gesundheitseinrichtungen in Gaza, in denen ich im November letzten Jahres gearbeitet habe, mussten evakuiert werden. Trotz dieser Tatsache und dem Tod von fast 200 Mitarbeitenden sehen wir keine internationale Empörung oder den Ruf nach unabhängigen Untersuchungen, um die Verantwortlichkeiten zu ermitteln, einschliesslich der Angriffe auf MSF-Mitarbeitenden, die getötet wurden.
Die am 27. März vom Sicherheitsrat verabschiedete Resolution für einen Waffenstillstand ist bislang wirkungslos geblieben. Besteht vor Ort Hoffnung, dass die Resolution umgesetzt wird?
Die Resolution des UNO-Sicherheitsrats kommt zu spät und ist immer noch nicht umgesetzt. Es sind nur Worte auf dem Papier, während in Gaza immer noch Bomben regnen. Die Taten folgten nicht. So sagen viele in der Enklave, dass die Glücklichen diejenigen sind, die bereits tot sind.
Ist das Völkerrecht in Ihren Augen eine leere Hülle?
Ach, das ist die grosse Herausforderung, die sich vor dem Hintergrund des Konflikts abzeichnet. Die Zahl der in Gaza dokumentierten eklatanten Verletzungen des Völkerrechts ist unzählig. Dieser Krieg wird ohne Regeln geführt und setzt sich völlig über das Völkerrecht hinweg, sodass Kriegsverbrechen banalisiert werden.
Solange die Straflosigkeit anhält, gerät nicht nur die gesamte Glaubwürdigkeit, sondern auch die Zukunft des Völkerrechts ins Wanken.
Editiert von Virginie Mangin/livm. Übertragung aus dem Französischen von Janine Gloor
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch