Ist das humanitäre Völkerrecht noch zu retten? Die Nahost-Konferenz in Genf wagt den Versucht

Während des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas treffen sich am 7. März die Vertragsstaaten der Genfer Konvention in der Schweiz. Ziel der Konferenz ist es, den Schutz der Zivilbevölkerung und zivilen Eigentums in den besetzten palästinensischen Gebieten zu stärken.
Im vergangenen September hat die UNO-Generalversammlung die Schweiz beauftragt, eine Konferenz der Vertragsstaaten der Genfer Konventionen einzuberufen, um den Schutz der Zivilbevölkerung in den besetzten palästinensischen Gebieten zu diskutieren. Als Depositarstaat der Konventionen hatte die Schweiz sechs Monate Zeit, um diese Konferenz zu organisieren.
Die vier Konventionen von 1949 bilden die Grundlage des humanitären Völkerrechts und schützen Personen, die nicht an Feindseligkeiten teilnehmen. Sie gelten in den Palästinensischen Autonomiegebieten, im Gaza-Streifen und im Westjordanland einschliesslich Ost-Jerusalem, das seit 1967 von Israel besetzt ist.
Im Mittelpunkt der Konferenz steht die vierte Genfer Konvention, die Zivilisten im Krieg schützt, Zwangsumsiedlungen und Siedlungen in besetzten Gebieten verbietet und das Verhalten einer Besatzungsmacht regelt.
Die Konferenz soll die Parteien an die Bedeutung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts erinnern. Diplomatische Quellen haben bestätigt, dass eine gemeinsame – nicht bindende – Erklärung erwartet wird.

Alle 196 Staaten sind Vertragsparteien der Genfer Konventionen und zu deren Einhaltung verpflichtet. Als Depositarstaat der Konventionen verwahrt die Schweiz die Originale dieser internationalen Verträge. Sie steht im Dienst der Vertragsstaaten und ist zur Unparteilichkeit verpflichtet.
Angespannte internationale Lage
Die Konferenz findet nach 15 Monaten Krieg zwischen Israel und der militanten Palästinensergruppe Hamas statt. Fast alle der zwei Millionen Einwohner:innen des Gazastreifens wurden mehrmals innerhalb des Gebiets vertrieben.
Laut Angaben des Gesundheitsministeriums des Gazastreifens wurden mindestens 48’000 Palästinenser:innen getötet. Ein Grossteil der Infrastruktur in der palästinensischen Enklave liegt in Trümmern.
«Diese Konferenz ist eine dringend notwendige Erinnerung daran, dass das humanitäre Völkerrecht eingehalten werden muss», sagte Vincent Chetail, Professor für Völkerrecht am Graduate Institute in Genf, gegenüber SWI swissinfo.ch.
Seit Ende Januar ermöglicht ein fragiler Waffenstillstand den Austausch von palästinensischen Gefangenen gegen Geiseln, die am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt wurden. Bei dem Terroranschlag wurden 1139 Israelis getötet.
Das Abkommen sieht auch einen schrittweisen Rückzug Israels bis an die Grenzen des Gazastreifens und eine massive Verbesserung des Zugangs für humanitäre Hilfe vor.

Gleichzeitig drängt US-Präsident Donald Trump die arabischen Staaten, einem Vorschlag zur dauerhaften Vertreibung und Umsiedlung aller Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen zuzustimmen. Trump schlug ausserdem vor, dass die USA die «Verantwortung» für die Entwicklung des Gebiets zur «Riviera des Nahen Ostens» übernehmen.
«Die vierte Konvention erinnert an das Verbot der Zwangsumsiedlung von Palästinenser:innen, das aufgrund von Trumps völlig rechtswidrigem Vorschlag viel diskutiert wurde», sagte Chetail.
«Das Verbot der Zwangsumsiedlung soll eine Besatzungsmacht daran hindern, ein Land zu kolonisieren und ethnische Säuberungen durchzuführen», fügte er hinzu.
Trumps Vorschlag stiess bei den arabischen Nachbarstaaten wie Jordanien und Ägypten sowie bei der Europäischen Union auf heftige Kritik.

Was ist von der Erklärung zu erwarten?
Es sind nur wenige Details über die Konferenz bekannt. Wir wissen, dass sie auf Botschafterebene in Genf stattfinden wird und dass eine Erklärung verabschiedet werden soll. Ein Zeitrahmen wurde nicht genannt. Die letzte Konferenz zur vierten Genfer Konvention dauerte einen Tag.
Es wird erwartet, dass die USA und Israel nicht teilnehmen werden. Dies werde jedoch keinen Einfluss auf das Ergebnis haben, sagen internationale Jurist:innen gegenüber SWI.
Europäische Diplomat:innen sagten im Gespräch mit SWI swissinfo.ch, dass einige Staaten die Konferenz so neutral wie möglich halten wollen und keine spezifische «Ländersituation» erwähnen möchten – aus Sorge, dass dies zukünftige Verhandlungen über die nächsten Schritte des Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas erschweren könnte.
Dies steht jedoch im Widerspruch zur Resolution der UN-Generalversammlung, die ausdrücklich darauf hinweist, dass sich die Konferenz auf die «besetzten palästinensischen Gebiete» konzentrieren soll.
«Einige Staaten werden darauf drängen, dass die illegale Besetzung der palästinensischen Gebiete in der Erklärung verurteilt wird, insbesondere da diese Illegalität vom Internationalen Gerichtshof bereits mehrfach, zuletzt im Juli, anerkannt wurde», so Chetail.

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Diese Personen aus der Schweiz haben die Geschichte des humanitären Rechts geprägt
Im vergangenen Juli hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem Gutachten, das von der UN-Generalversammlung Ende 2022 angefordert worden war, entschieden, dass die seit 1967 andauernde Präsenz Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschliesslich Ost-Jerusalems, illegal sei und so schnell wie möglich beendet werden müsse.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu wies das Gutachten des IGH sofort zurück. Und Israel blieb eine klare Antwort auf die Frage schuldig, ob seine Besetzung rechtmässig sei.
Ähnliche Konferenzen, die 1999 und 2001 von der Schweiz organisiert wurden, kamen zu dem Schluss, dass die vierte Genfer Konvention auf die besetzten palästinensischen Gebiete anwendbar ist.
Auch die Erklärung der letzten Konferenz von 2014 forderte die Einhaltung des Völkerrechts sowohl durch Israel als Besatzungsmacht als auch durch nichtstaatliche bewaffnete Gruppen wie die Hamas.
«Ich bezweifle, dass die nächste Konferenz über das hinausgehen wird, was 2014 erreicht wurde», sagt Chetail. Israel kritisierte die Politisierung der Genfer Konventionen und des humanitären Völkerrechts.
«Der Versuch, die Konferenz während der Umsetzung eines äusserst heiklen Waffenstillstandsabkommens einzuberufen, von dem das Leben israelischer Geiseln abhängt, zeigt einmal mehr, dass es bei dieser Initiative nicht um die Förderung des humanitären Völkerrechts geht. Sie dient lediglich als weitere Plattform, um ein demokratisches Land anzugreifen und terroristische Organisationen zu ermutigen», sagte ein Sprecher der israelischen UNO-Mission in Genf gegenüber SWI swissinfo.ch.
Die Konferenz könne zwar keine rechtsverbindlichen Resolutionen verabschieden oder gar Sanktionen verhängen, aber «die Konventionen sind rechtsverbindlich», erklärt Chetail.
«Die Schweiz hat als Depositarstaat und neutrales Land die Aufgabe, die Welt und insbesondere die Politiker der USA und Israels daran zu erinnern, dass das humanitäre Völkerrecht unter allen Umständen eingehalten werden muss und für alle gilt, das ist wichtig», so Chetail.

Auch der Schutz der Infrastruktur durch die Besatzungsmacht in Kriegszeiten wird ein Thema sein.
Wie geht es weiter?
Der Konferenz werden weitere Initiativen folgen, um die UNO wieder auf die Nahost-Friedensagenda zu bringen, von der sie mehr oder weniger ausgeschlossen war.
So waren die UN-Organisationen nicht an dem Waffenstillstand beteiligt, den die USA, Katar und Ägypten im Januar mit Israel und der Hamas ausgehandelt hatten. Und Trump hat deutlich gemacht, dass er bilaterale Abkommen multilateralen Verhandlungen vorzieht.
Mit den politischen Aspekten des Nahostkonflikts wird sich im Juni in New York eine von der UN-Generalversammlung beauftragte Konferenz unter der Schirmherrschaft Frankreichs und Saudi-Arabiens befassen. Im Fokus der Konferenz stehen die «friedliche Lösung der Palästina-Frage und die Zweistaatenlösung sowie die Umsetzung der Zweistaatenlösung».
«Es ist interessant zu sehen, dass es eine ganze Reihe von diplomatischen Aktivitäten gibt und dass die Einberufung der Konferenz zur vierten Genfer Konvention in diese Aktivitäten eingebettet ist», sagt Chetail.
Editiert von Virginie Mangin/livm/ts; Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger

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