Kann der UNRWA-Bericht das Vertrauen in die Organisation wiederherstellen?
Der mit Spannung erwartete unabhängige Untersuchungsbericht über die Neutralität des Palästina-Hilfswerks UNRWA hat keine grösseren Missstände innerhalb der Organisation aufgedeckt. Ob er jedoch die USA und Israel beruhigen kann, ist fraglich.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ist «unersetzlich und unentbehrlich», aber es gibt nach wie vor «Neutralitätsprobleme».
Zu diesem Schluss kommt ein mit Spannung erwarteter unabhängiger BerichtExterner Link über die Arbeitsweise der vom Schweizer Philippe Lazzarini geleiteten Organisation, der am Montagnachmittag veröffentlicht wurde.
Er wurde vor allem von den Geberländern erwartet, die ihre finanziellen Beiträge an die Organisation ausgesetzt haben, weil sie von Israel der Unterwanderung durch die Hamas beschuldigt wird.
Zwei namhafte Experten erklären aber, sie seien nicht sicher, ob der Bericht ausreichen werde, um das Vertrauen wiederherzustellen.
Der «Colonna-Bericht» – benannt nach der ehemaligen französischen Aussenministerin Catherine Colonna, der Vorsitzenden der Untersuchungskommission – war von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres in Auftrag gegeben worden.
Dies, nachdem Israel behauptet hatte, zwölf UNRWA-Mitarbeitende seien an den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen. Drei skandinavische Forschungsinstitute unterstützten die Arbeit der Gruppe.
Zu den Vorwürfen Tel Avivs gegen die Mitarbeitenden des Hilfswerks, das in Gaza 13’000 Menschen beschäftigt, heisst es in dem Bericht, Israel habe keine Beweise vorgelegt. Das bedeute aber nicht, dass es keine gebe, stellte Colonna bei einer Pressekonferenz in New York klar.
Die zwölf von Israel beschuldigten Personen sind Gegenstand einer separaten, noch laufenden Untersuchung des Büros für Interne Aufsichtsdienste (OIOS) der Vereinten Nationen.
Die Organisation, die im Nahen Osten Nothilfe, Bildung und Gesundheitsversorgung für rund sechs Millionen Menschen bereitstellt, verfüge über zahlreiche Mechanismen, um die Einhaltung humanitärer Prinzipien, darunter das der Neutralität, zu gewährleisten, heisst es in dem Bericht. Diese Mechanismen seien ausgefeilter als die anderer UNO-Organisationen.
Dennoch kommt die Untersuchungskommission zum Schluss, dass weitere Fortschritte notwendig sind. Er schlägt rund 50 Empfehlungen vor, um die Governance, die Neutralität oder die Kommunikation der Organisation mit den Geberländern zu verbessern.
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Die Geberländer überzeugen
Als Reaktion auf die israelischen Vorwürfe hatten die wichtigsten Geberländer im Januar beschlossen, ihre finanziellen Beiträge an die Organisation auszusetzen. Dadurch entstand ein Loch von 450 Millionen US-Dollar.
Inzwischen haben einige von ihnen, darunter die Europäische Union und Kanada, ihre Zahlungen wieder aufgenommen. Andere, darunter die USA, Grossbritannien und die Schweiz, wollen die Ergebnisse der Untersuchung abwarten.
«Dieser Bericht wird wahrscheinlich einige der Geberländer beruhigen, die gezögert haben, wieder zu zahlen, indem er ihnen zeigt, dass die Risiken, die mit der Finanzierung der UNRWA verbunden sind, überschaubar sind. Aber ich glaube nicht, dass er ausreicht, um die USA kurzfristig zu überzeugen», meint Richard Gowan, Direktor für UNO-Fragen bei der New Yorker Denkfabrik International Crisis Group.
Der US-Kongress, ein enger Verbündeter Tel Avivs, hat kürzlich beschlossen, die Finanzierung der Organisation für ein Jahr auszusetzen und erst im März 2025 über weitere Zahlungen zu entscheiden.
Das Schweizer Aussendepartement erklärte am Dienstag, es werde den Bericht «gründlich analysieren», bevor es über seinen Beitrag von 20 Millionen Franken für 2024 entscheide. Zuvor werde die Regierung die Aussenpolitischen Kommissionen beider Parlamentskammern konsultieren.
Der Entscheid der Schweiz, die Finanzierung aufgrund blosser Anschuldigungen einzustellen, ohne eine Untersuchung abzuwarten, hat im Inland Kritik hervorgerufen.
Riccardo Bocco, emeritierter Professor am IHEID in Genf, äusserte sich nach der Veröffentlichung des Berichts besorgt: «Für mich stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage die Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihre Entscheide treffen? Überprüfen sie die Informationen, die sie erhalten?»
Pierre-André Page Nationalrat der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), bestritt am Montagabend in einem Interview mit der Tagesschau des Westschweizer Fernsehens RTS, dass das Parlament zu schnell gehandelt habe.
«Der Colonna-Bericht macht etwa fünfzig Verbesserungsvorschläge, um eine bessere Neutralität zu erreichen. Ich denke also, dass es einige Elemente gibt, die verbessert werden müssen, bevor wir diese Unterstützung zurückgeben», sagte er.
Herausforderung für die Zukunft
Das israelische Aussenministerium erklärte seinerseits, dass «der Colonna-Bericht den Ernst des Problems ignoriert und kosmetische Lösungen vorschlägt, die das Ausmass der Infiltration der UNRWA durch die Hamas nicht berücksichtigen».
Zu den Verschlägen gehören eine bessere Kommunikation zwischen dem Hilfswerk und seinen Geldgebern sowie die Einstellung von mehr internationalem Personal. Tel Aviv fordert die Geberländer auf, andere Hilfsorganisationen in Gaza zu finanzieren.
In Genf ansässige Humanitäre Organisationen halten diese Option für unrealistisch, obwohl die UNRWA rund 30’000 Mitarbeiter in Gaza, im Westjordanland, in Jordanien, im Libanon und in Syrien beschäftigt.
Fachleuten zufolge ist es vielmehr das UNRWA-Mandat, das die israelische Regierung verärgert, da es das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge garantiert. Jetzt fordert Tel Aviv die Auflösung des Hilfswerks.
«Israel möchte die UNRWA loswerden. Aber es kann die Auflösung nicht ohne eine Abstimmung in der Generalversammlung durchsetzen, und die würde dem sicher nicht zustimmen», meint Bocco.
Seiner Meinung nach besteht die israelische Strategie also darin, das Image der Organisation zu schädigen, um sie vor allem finanziell zu schwächen.
Die Empfehlungen des Colonna-Berichts sollten es der Organisation ermöglichen, ihre Zukunft zu sichern. Gowan ist jedoch der Meinung, dass diese Empfehlungen nicht sofort umgesetzt werden können, da sich die Organisation in einer beispiellosen Krise befindet.
Er kommt zu dem Schluss: «Die Herausforderung für die Zeit nach dem Krieg wird darin bestehen, ob die UNRWA ihre Glaubwürdigkeit als wichtigste internationale Akteurin im Gazastreifen aufrechterhalten kann.»
Und weiter: «Die Frage ist nicht, ob es heute neue Kontrollen einführen oder seine Schulbücher überarbeiten kann. Die Frage ist vielmehr, ob die Umsetzung dieser Empfehlungen nach dem Ende der Feindseligkeiten den israelischen und amerikanischen Bedenken Rechnung tragen wird.»
Editiert von Virginie Mangin/livm, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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