Keine Waffen mehr für Israel? Die Schweiz organisiert eine brisante Nahost-Konferenz
Auf Geheiss der UNO lädt die Schweiz die Vertragsstaaten der Genfer Konventionen im März zu einer Nahost-Konferenz ein. Die politischen Auswirkung könnten erheblich sein. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
1. Die UNO-Generalversammlung hat die Schweiz beauftragt, eine Konferenz zur 4. Genfer Konvention zu organisieren ‒ weshalb?
Die Schweiz ist der Depositarstaat der Genfer Konventionen, das heisst, sie bewahrt das Original dieser internationalen Verträge auf, steht im Dienst der Vertragsstaaten und ist zur Unparteilichkeit verpflichtet.
Die vier Genfer Konventionen von 1949 und ihre Zusatzprotokolle enthalten Normen für den Schutz von Personen im Krieg.
Die Abkommen bilden die Grundlage des humanitären Völkerrechts und schützen Menschen, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind. Dazu zählen Zivilpersonen, das Gesundheitspersonal, Verwundete, Kranke und Kriegsgefangene.
Alle 196 Staaten haben die Genfer Konventionen ratifiziert. Das humanitäre Völkerrecht gilt für die Palästinensergebiete, weil sie militärisch besetzt sind.
Im letzten Juli hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem von der UNO-Generalversammlung beantragen Gutachten geurteilt, dass Israels seit 1967 andauernde Präsenz in den besetzten Palästinensergebieten, einschliesslich Ost-Jerusalems, illegal sei und so rasch wie möglich beendet werden müsse.
Um über Massnahmen zur Durchsetzung des IGH-Gutachtens zu beraten, beschloss die UNO-Generalversammlung im vergangenen September, eine Konferenz zur 4. Genfer Konvention zu organisieren, die vor allem die Zivilbevölkerung schützt.
Denn die Vertragsstaaten der Genfer Konventionen sind verpflichtet, für die Einhaltung dieser Abkommen zu sorgen. Die Schweiz wurde beauftragt, die Konferenz innert sechs Monaten einzuberufen.
Der Staat Palästina, der an der UNO Beobachterstatus hat, brachte die Resolution in die UNO-Generalversammlung ein. «Wir hofften, die Schweiz werde aufgrund des IGH-Gutachtens von sich aus eine Konferenz einberufen», sagte der palästinensische UNO-Botschafter in New York, Ryad Mansour, Anfang November vor den Medien in Genf.
Die Schweiz sei jedoch zurückhaltend gewesen. Sie hat sich bei der Abstimmung über die Resolution der Stimme enthalten.
2. Warum hat sich die Schweiz im September 2024 bei der Abstimmung über die UNO-Resolution der Stimme enthalten?
Die Schweiz hat zum Rechtsgutachten des IGH beigetragen und unterstützte es, wie sie in ihrer Stellungnahme Externer Linknach der Abstimmung erklärte.
«Die Illegalität der seit 1967 andauernden israelischen Besetzung des palästinensischen Gebiets steht ausser Zweifel. Sie muss beendet und ein politischer Horizont wiederhergestellt werden.»
Ihre Stimmenthaltung begründete die Schweiz damit, dass einige Punkte der Resolution über das IGH-Gutachten hinausgingen. So sei die vorgesehene Frist von 12 Monaten für Israels Rückzug aus den besetzten Palästinensergebieten zu kurz und auch nicht aus dem IGH-Gutachten ableitbar, erklärte die Schweiz.
Die Stimmenthaltung beeinträchtige jedoch in keiner Weise das Schweizer Engagement für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts im gesamten besetzten palästinensischen Gebiet, heisst es weiter in der Stellungnahme.
«Als Depositarstaat dieser Konventionen wird die Schweiz das ihr in der Resolution erteilte Mandat erfüllen.» Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA will die Konferenz im März 2025 organisieren. Sie wird in Genf auf Ebene der UNO-Botschafterinnen und -Botschafter stattfinden.
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3. Was besagt die 4. Genfer Konvention?
Die 4. Genfer Konvention schützt Zivilpersonen, die sich in Feindeshand ‒ in eigenem oder in einem besetzten Gebiet ‒ befinden. Sie verbietet etwa die Ansiedlung von Teilen der Bevölkerung einer Besetzungsmacht in besetztem Gebiet sowie Deportationen von geschützten Personen aus diesem Gebiet (Artikel 49).
Weiter verpflichtet die 4. Genfer Konvention eine Besetzungsmacht, die Zivilbevölkerung mit Nahrung und Kleidung zu versorgen.
Wenn sie diese Güter nicht liefern kann, ist die Besetzungsmacht verpflichtet, die Unterstützung von neutralen humanitären Organisationen zu akzeptieren.
4. Die israelische Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten sind gemäss der 4. Genfer Konvention illegal. Aber anerkennt Israel, dass es diese Gebiete, einschliesslich Ost-Jerusalem, besetzt?
Expertinnen und Experten weisen darauf hin, dass es keine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wies das Urteil des IGH zurück, als es verkündet wurde.
«Das jüdische Volk ist kein Besatzer in seinem eigenen Land, auch nicht in unserer ewigen Hauptstadt Jerusalem oder in Judäa und Samaria [dem Westjordanland], unserem historischen Heimatland», twitterte Externer Linker.
Völkerrechtsfachleute halten diese Interpretation jedoch nicht für überzeugend. «Sie ist politisch motiviert: Wenn die Gebiete besetzt sind, sind die Siedlungen unrechtmässig», sagt Marco Sassòli, Honorarprofessor für Völkerrecht an der Universität Genf, gegenüber SWI swissinfo.ch.
Der Oberste Gerichtshof Israels wendet das Besatzungsrecht auf die seit 1967 besetzten Gebiete an. Die aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen hingegen haben erklärt, es handle sich nicht um eine Okkupation und die Vierte Genfer Konvention würde für die fraglichen Gebiete nicht gelten.
Hingegen hat Israel den 1967 eroberten östlichen Stadtteil Jerusalems 1980 formell annektiert, was die grosse Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkennt. Der UNO-Sicherheitsrat erklärte die Annexion 1980 für nichtig.
5. Ist dies die erste Konferenz der Vertragsstaaten der Vierten Genfer Konvention in diesem Kontext?
Nein, es hat bereits drei Konferenzen zu diesem Thema gegeben, 1999, 2001 und 2014. Bei den ersten beiden Treffen bekräftigten die Staaten, dass die Vierte Genfer Konvention für die besetzten Gebiete einschliesslich Ost-Jerusalem anzuwenden ist.
Die Konferenz von 2014 wurde nach einem 50-tägigen Krieg im Gazastreifen einberufen. Sie verabschiedete eine übereinstimmende Erklärung, dass nichtstaatliche Organisationen das humanitäre Völkerrecht einhalten müssten, dass der israelische Mauerbau in den besetzten Gebieten illegal sei und dass die Zivilbevölkerung geschützt werden müsse.
Die nun geplante Konferenz kann sich mit weiteren Themen befassen. «Mit dem Rechtsgutachten des IGH erübrigen sich derzeit Diskussionen an einer Konferenz über die israelischen Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten oder über die Segregation der palästinensischen Bevölkerung in diesen Gebieten», sagt Marco Sassòli, Honorarprofessor für Völkerrecht an der Universität Genf, gegenüber SWIswissinfo.ch.
6. Welche Resultate der Konferenz sind zu erwarten?
Die Konferenz kann mit einer Erklärung der Teilnehmerstaaten enden. Sie kann zwar keine verbindlichen Beschlüsse fassen, jedoch die Regeln des humanitären Völkerrechts und die damit verbundenen Verpflichtungen der Vertragsstaaten bekräftigen.
Bei den bisherigen Konferenzen über die 4. Genfer Konvention wurde über deren Inhalt debattiert.
Aus Sicht von Völkerrechtler Sassòli stellt sich heute mit dem IGH-Gutachten eher die Frage, inwiefern die Vertragsstaaten Israel aufgrund der Verstösse gegen die 4. Genfer Konvention sanktionieren sollen.
Es geht darum, was Drittstaaten tun müssen, um für die Einhaltung der Konvention zu sorgen. Daher hält es Sassòli beispielsweise nicht für entscheidend, ob Israel an der Konferenz teilnimmt oder nicht.
Wie das IGH-Gutachten ruft die UNO-Generalversammlung ihre Mitgliedstaaten in der Resolution dazu auf, Israels Anwesenheit in den besetzten Palästinensergebieten nicht als rechtmässig anzuerkennen.
Dazu zählt, dass die Staaten keine Güter aus israelischen Siedlungen in diesen Gebieten importieren. Die Resolution fordert zudem, Waffenlieferungen an Israel zu stoppen, wenn der begründete Verdacht bestehe, dass sie in den besetzten palästinensischen Gebieten eingesetzt werden könnten.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag veröffentlichte am 19. Juli 2024 ein Gutachten zu den rechtlichen Folgen von Israels Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschliesslich Ost-Jerusalems.
Die UNO-Generalversammlung hatte den obersten Gerichtshof der UNO im Dezember 2022 darum ersucht. Der IGH hielt in seinem Gutachten fest, dass Israels Anwesenheit in den palästinensischen Gebieten völkerrechtswidrig ist.
Der Gerichtshof forderte Israel auf, den Siedlungsbau im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem einzustellen und die «illegale» Besetzung dieser Gebiete sowie des Gazastreifens so bald wie möglich zu beenden.
Laut dem Gutachten bedeutet der Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 nicht das Ende der Besetzung dieses Gebiets, da Israel eine tatsächliche Kontrolle über den Gazastreifen ausübt.
Dies entspricht der bisherigen Ansicht der UNO und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Das Gutachten des Gerichtshofes ist rechtlich nicht bindend, hat aber dennoch ein politisches Gewicht.
Israel baute seit dem Sechstagekrieg 1967 im Westjordanland und in Ostjerusalem rund 270 Siedlungen, in denen etwa 750’000 Israelis leben. Das Gericht bezeichnete die Siedlungen als illegal.
Israel hat stets bestritten, gegen das humanitäre Völkerrecht zu verstossen. Der Gerichtshof forderte Israel auf, die Siedlungen zu räumen und den Palästinenserinnen und Palästinensern für die durch die Besetzung verursachten Schäden Wiedergutmachung zu leisten.
Der IGH erklärte weiter, Israels Politik laufe auf eine Annexion grosser Teile der besetzten palästinensischen Gebiete hinaus, was gegen das Völkerrecht verstosse. Israel habe keinen Anspruch auf Souveränität über irgendeinen Teil der besetzten Gebiete.
Israel beansprucht die Souveränität über ganz Jerusalem, dessen östlichen Teil es 1967 erobert hatte. Es betrachtet Jerusalem als seine unteilbare Hauptstadt, was der Grossteil der internationalen Gemeinschaft jedoch zurückweist.
Das Gutachten bezeichnet zudem die Beschränkungen, die den Palästinenserinnen und Palästinensern in den besetzten Gebieten durch Israel auferlegt werden, als systematische Diskriminierung, unter anderem aufgrund von Religion oder ethnischer Herkunft.
Israel beute die natürlichen Ressourcen der Palästinenserinnen und Palästinenser illegal aus und verletze ihr Recht auf Selbstbestimmung.
Den anderen Staaten hat das Gericht empfohlen, Massnahmen zu vermeiden, die zum Erhalt der derzeitigen Situation beitragen.
Editiert von Imogen Foulkes/gw/ts/livm, Übertragung aus dem Englischen von Marc Leutenegger
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