NGO-Mitarbeiterin: Afghaninnen haben «grosse Angst» vor neuem Taliban-Gesetz
Sibylle Mani, die Menschenrechtskoordinatorin für Afghanistan bei der Weltorganisation gegen Folter (OMCT), reiste Ende August nach Afghanistan. Im Gespräch berichtet sie über ihren Auftrag, einen Einblick in die derzeitige schwierige Menschenrechtslage und den schrumpfenden zivilgesellschaftlichen Raum im Land zu bekommen.
Afghanistan hat 1987 die UNO-Konvention gegen Folter ratifiziert, die es unabhängig von der jeweiligen Regierung einhalten muss. Mani war nicht mehr in das Land gereist, seit die Taliban vor mehr als drei Jahren an die Macht kamen.
Die OMCT ist vom UNO-Ausschuss gegen Folter beauftragt, die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu koordinieren, die weltweit Berichte über ihre Länder vorlegen. Die OMCT arbeitet in über 90 Ländern und hat rund 200 Mitgliederorganisationen. Dies war die erste OMCT-Mission in Afghanistan.
Während ihres einwöchigen Einsatzes traf Mani mit lokalen und internationalen NGOs zusammen und hatte einen seltenen Zugang zu ehemaligen Gefangenen, die ihre Bedingungen hinter Gittern schilderten, wo sie Folter und andere Formen der Misshandlung erlebt haben.
Sie konnte auch Frauen und Menschenrechtsaktivist:innen treffen und mit ihnen über die neuen Einschränkungen ihrer Freiheiten sprechen, die seit dem Sommer gelten.
SWI swissinfo.ch: Seit die Taliban an der Macht sind, haben sie die Rechte von Mädchen und Frauen stark eingeschränkt. Mädchen dürfen die Sekundarschule nicht besuchen, Frauen haben wenig Arbeitsmöglichkeiten und dürfen nicht ohne einen männlichen Verwandten reisen. Seit August sind mit dem neuen PVP-Gesetzespaket zur «Förderung der Tugend und Verhütung des Lasters» (Propagation of Virtue and Prevention of Vice Law) neue Beschränkungen für die Frauen in Kraft, darunter eine strenge Kleiderordnung. Wie wirken sich diese neuen Vorschriften auf das tägliche Leben von Mädchen und Frauen aus?
Sibylle Mani: Die Frauen haben grosse Angst vor diesem Gesetz, das alle Regeln zusammenfasst, welche die Taliban seit ihrer Machtübernahme erlassen haben. Es ist extrem restriktiv und greift tief in ihr Privatleben ein.
Das Gesetz schreibt unter anderem vor, wie sich Frauen zu kleiden haben: Sie müssen ihr Gesicht mit einer Maske sowie auch Hände und Füsse bedecken, wenn sie das Haus verlassen.
Eine Frau erzählte mir, wenn sie bisher eine Beschwerde bei den örtlichen Behörden vorbrachte, konnte sie dies dem Büro des Provinzgouverneurs melden. Sie durfte das Gebäude betreten und den Angestellten ihr Anliegen durch ein Fenster mitteilen.
Seit der Einführung des PVP-Gesetzes wird ihr der Zutritt zum Gebäude mit der Begründung verweigert, ihre Augen seien nicht bedeckt und sie habe nicht mehr das Recht, in der Öffentlichkeit zu sprechen.
Einer anderen Frau, die eine Privatklinik besitzt, wurde von den Behörden mitgeteilt, dass sie keine Familienplanungskurse für Frauen mehr durchführen darf. Sie darf auch keine Gesundheitskits mehr an Frauen verteilen.
Diese Kits enthalten unter anderem Menstruationsbinden, Cremes zur Wundheilung und Schmerzmittel. Sie müssen nun vom Bezirksgesundheitsamt, also der Regierung, abgegeben werden, und zwar an die Ehemänner.
Viele Männer schämen sich, solche Artikel anzunehmen. Dies führt dazu, dass nicht mehr alle Frauen solche Produkte erhalten.
Je nachdem, wie konservativ ein lokaler Mullah ist, kann das Leben in Afghanistan einfacher sein oder eben nicht. Die Umsetzung der Vorschriften ist unterschiedlich.
In Kabul zum Beispiel tragen die meisten Frauen derzeit weder Socken noch Handschuhe und setzen sich nur an einem Checkpoint eine Maske auf.
Betrifft das PVP-Gesetz auch die Männer?
Das Gesetz enthält auch Bestimmungen für Männer, beispielsweise wie lange ihr Bart sein muss. Ein weiterer neuer Aspekt des Gesetzes ist, dass Frauen und Männer nicht mit Ausländern zusammenarbeiten sollen.
Die PVP-Behörden, also das Ministerium für die «Verbreitung von Tugend und die Verhütung des Lasters», sind zuständig für Bestrafungen, nicht die Polizei. Und sie können jederzeit Hausbesuche machen.
Die Taliban üben auch Druck auf die Männer aus, damit sie ihre Frauen unter Kontrolle halten.
Die Taliban nehmen Männer fest und bedrohen sie, indem sie zum Beispiel sagen: «Du kannst deine Frau nicht kontrollieren, sie hat das Haus ohne Schleier verlassen. Du musst dich an die neuen Regeln anpassen, sonst greifen wir zu anderen Massnahmen.»
Aus welchen Gründen werden Frauen inhaftiert?
Die meisten Fälle betreffen Beziehungen. Es ist eine Straftat, wenn eine Frau ihren Mann verlässt. Frauen können dafür verhaftet und öffentlich ausgepeitscht werden.
Frauen, die nicht richtig verschleiert sind, können verhaftet und auf eine Polizeistation gebracht werden. In der Regel werden sie nach einigen Stunden oder Tagen wieder freigelassen, wenn ein Mann ihrer Familie eine Garantie unterschreibt, dass seine Verwandte sich in Zukunft korrekt bedeckt.
Männer, die gegen die Regierung demonstrieren, werden in ein Sicherheitsgefängnis der Generaldirektion des Geheimdiensts (GDI) gebracht. Uns ist derzeit nicht bekannt, ob sich Frauen in GDI-Gefängnissen befinden.
Viele Frauen, die an Demonstrationen teilnahmen und verhaftet wurden, wurden sexuell belästigt und missbraucht. Und jene, die eine Chance bekamen, verliessen nach ihrer Freilassung das Land.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) kann derzeit Gefangene in Strafvollzugsanstalten besuchen, nicht aber solche in GDI-Gefängnissen. Wie ist die Situation in den Gefängnissen? Ist Folter ein Problem?
Der Emir, das Oberhaupt der Taliban, Haibatullah Akhundzada, hat 2022 ein Dekret erlassen, das die Folter in Afghanistan verbietet.
Ich habe jedoch Menschen getroffen, die entweder in Gefängnissen, Polizeistationen oder anderen Hafteinrichtungen gefoltert wurden. Wir wissen auch aus vielen anderen Zeugenaussagen und Berichten, dass es Folter gibt.
Was ich herausfinden konnte, ist, dass die Verwaltung der Strafvollzugsanstalten offen für die Umsetzung der so genannten Mandela-Regeln zur Verbesserung der Haftbedingungen ist. Neben dem IKRK hat auch die UNO-Mission in Afghanistan UNAMA Zugang zu diesen Gefängnissen.
Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte verurteilt die zahlreichen willkürlichen Verhaftungen in Afghanistan. Sind davon auch Männer betroffen?
Männer sind von willkürlichen Verhaftungen stärker betroffen als Frauen, und es wird derzeit wenig über ihr Schicksal berichtet. Männer werden oft unter dem Vorwurf verhaftet, sie hätten etwas gegen die Taliban gesagt.
Ein Menschenrechtsaktivist, nennen wir ihn Hassan, erzählte mir, dass er von Männern in Zivil verhaftet wurde, als er auf dem Weg zur Arbeit war. Er war zehn Wochen lang inhaftiert und hatte keinen Kontakt zu einem Anwalt oder seiner Familie. Verurteilt wurde er nicht.
Nach seiner Verhaftung wurde er in einen Keller gebracht und zwei Wochen lang jeden Tag schwer gefoltert, unter anderem durch simuliertes Ertränken (waterboarding). Er wurde nach den Namen von Menschenrechtsaktivisten und Medienvertretern gefragt. Es wurde ihm nie gesagt, wo er sich befand.
Nach zwei Wochen sollte er in ein Sicherheitsgefängnis gebracht werden. Dort wurde eine Aufnahme abgelehnt, da er sich aufgrund der Folter in einem schlechten Gesundheitszustand befand.
Stattdessen wurde er für zwei Wochen in das zuständige Gefängnisspital gebracht. Anschliessend verbrachte er sechs Wochen in dem Sicherheitsgefängnis, wo er zwar verhört, aber nicht gefoltert wurde.
Schliesslich wurde ihm gesagt, er werde freigelassen, wenn er niemandem von seiner Inhaftierung erzählte und ein Bürge zusammen mit ihm unterschreibe, dass er seine Tätigkeit als Aktivist aufgebe. Wenn er sein Wort nicht hält, kann der Bürge zur Verantwortung gezogen werden.
Hassan wurde freigelassen, verlor aber seine Familie, sein Haus und seinen Arbeitsplatz. Er war stark traumatisiert und sein Umfeld war damit überfordert.
Müssen Häftlinge für ihre Freilassung bezahlen?
Mir ist der Fall eines Aktivisten bekannt, der verhaftet wurde, kurz nachdem er einen Workshop für Frauen über geschlechtsspezifische Gewalt durchgeführt hatte.
Er verbrachte mehr als 70 Tage in einem Sicherheitsgefängnis in einer Zelle, in der er nicht aufrecht stehen konnte. Er wurde unter anderem mit Elektroschocks gefoltert.
Erst drei Tage vor seiner Freilassung wurde ihm der Grund für seine Inhaftierung mitgeteilt: Er hatte Frauen geschult und war ein Menschenrechtsaktivist.
Für seine Freilassung musste er etwa das 100-fache des Monatsgehalts eines Beamten zahlen. Diese Geldforderung war illegal, aber der Mann bezahlte trotzdem, damit er auf freien Fuss kam.
Sie haben bis 2020 fünf Jahre lang in Afghanistan als Beraterin für internationale Menschenrechts- und humanitäre Organisationen gearbeitet. Wie war es, in das Land unter der Herrschaft der Taliban zurückzukehren?
Als ich zu Fuss durch Kabul ging, war ich zunächst verunsichert, so vielen Taliban zu begegnen. Wohin sollte ich jetzt schauen – geradeaus oder, wie es die neuen Regeln verlangen, Blickkontakt vermeiden und die Augen auf den Boden richten?
Während meiner fünf Jahre in Afghanistan war die Begegnung mit Taliban ein Sicherheitsrisiko. Und jetzt, wo sie an der Macht sind, verwirrte mich diese Änderung.
Editiert von Virginie Mangin/ts
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