Sind Frauenrechte in Afghanistan verhandelbar?
Das Taliban-Regime wird international nicht anerkannt. Dies erschwert den Umgang von UNO-Behörden mit Afghanistans De-facto-Regierung. Nichtregierungsorganisationen kritisieren die UNO dafür, dass sie auf Kosten der Frauen Konzessionen an die Taliban gemacht habe.
Kurz vor unserem geplanten Interview schreibt uns Nazifa Jalali per Mail, dass sie das Gespräch verschieben müsse. «Ich muss mich zuerst um einen Fall von Steinigung kümmern», erklärt die afghanische Menschenrechtsaktivistin. Einige Tage später berichtet sie, dass es bei der Steinigung um ein 17-jähriges Mädchen geht, das von ihrem Bruder, einem Kommandanten der Taliban, vergewaltigt worden war. Die Taliban in der fraglichen Provinz im Herzen Afghanistans hatten beschlossen, das Mädchen zu steinigen – nicht etwa den Bruder.
Deshalb hat Jalali versucht, lokale Persönlichkeiten, einschliesslich Stammesälteste, zu Verhandlungen mit den Taliban zu bewegen, damit das Mädchen zu seinem Schutz an einen anderen Ort gebracht werden kann.
Jalali ist Mitglied der Menschenrechtsorganisation HRD+ und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan. Sie lebt aktuell in Norwegen. Sie hat auch an der Herbstsitzung des UNO-Menschenrechtsrats in Genf teilgenommen.
Jalali kritisiert die internationale Gemeinschaft dafür, dass sie in drei Jahren seit der Machtübernahme der Taliban nichts als schriftliche Berichte verfasst hat, anstatt die Taliban aktiv zur Verantwortung zu ziehen. Dies habe den Frauen in Afghanistan geschadet, ist Jalali überzeugt.
In diesen drei Jahren haben die Taliban über 80 Dekrete und Beschlüsse erlassen, die die Rechte von Frauen und Mädchen beschneiden. So ist es Mädchen beispielsweise nicht erlaubt, die Sekundarschule zu besuchen, während Frauen praktisch nicht mehr arbeiten, sich nicht in Parks aufhalten oder – so das jüngste Verbot – sich nicht mehr in der Öffentlichkeit äussern dürfen.
Die Taliban werden insbesondere deshalb international nicht anerkannt, weil sie Mädchen und Frauen ihre Grundrechte und das Recht auf Bildung verweigern. Dies erschwert den politischen Kontakt zwischen der UNO und der De-facto-Regierung der Taliban.
Keine Frauen am Verhandlungstisch
Ende Juni fand die dritte Sitzung des sogenannten Doha-Prozesses statt, einer von der UNO organisierten Konferenz mit Diplomat:innen aus rund 25 Ländern und internationalen Organisationen. An der Konferenz, die sich mit den Herausforderungen Afghanistans befasst, nahmen beim Sommertreffen erstmals auch die Taliban teil. Ihre Hoffnung: internationale Anerkennung.
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Nicht dabei sein durften hingegen Frauen aus Afghanistan. UNO-Vertreter liessen verlauten, man habe den Dialog nicht gefährden wollen und sei deshalb auf die Forderung der Taliban eingegangen, die Konferenz ohne afghanische Frauen durchzuführen.
Zur ersten Sitzung der UNO im Mai 2023 waren die Taliban erst gar nicht eingeladen worden. Zur zweiten Sitzung im Februar 2024 waren sie dann zwar eingeladen, blieben dem Treffen aber fern, weil Vertreter:innen der afghanischen Zivilbevölkerung und damit auch Frauen anwesend waren.
Die Treffen sollten die Taliban eigentlich an ihre Verpflichtungen gemäss internationalem Recht erinnern. Im Dezember 2023 hat der UNO-Sicherheitsrat eine Resolution verabschiedet (ohne Unterstützung von Russland und China), gemäss der die internationale Anerkennung der Taliban davon abhängt, ob das Regime Grundrechte anerkennt, z.B. das von Afghanistan unterzeichnete Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW).
Keine Konzessionen ohne Reform
Vorsitzende des Doha-Treffens war Rosemary DiCarlo, UNO-Untergeneralsekretärin für politische Angelegenheiten und Friedenskonsolidierung. Sie hielt nach dem Treffen gegenüber den Medien fest, dass Frauenrechte offiziell zwar nicht auf der Tagesordnung gestanden hätten, dass das Thema aber bei den Gesprächen mehrmals aufgekommen und die Notwendigkeit einer inklusiven Regierung hervorgehoben worden sei.
Im Zentrum der Gespräche standen die Entwicklung eines privaten Wirtschaftssektors und die weitere Unterstützung der Taliban in ihrem bisher erfolgreichen Kampf gegen Drogen. Seit der Machtübernahme durch die Taliban hat der Opiumanbau um ca. 90% abgenommen.
DiCarlo schloss jedoch aus, dass das De-facto-Regime in Kabul anerkannt werde, solange die Taliban Frauen jegliche Bildung verwehren und diese weiter vom öffentlichen Leben ausschliessen. Ihrer Ansicht nach ist eine Anerkennung der Taliban allerdings nicht die Verantwortung der UNO, sondern die Entscheidung einzelner Länder. Bis jetzt hat noch kein Land die Taliban-Regierung anerkannt, 16 betreiben allerdings eine Botschaft in Afghanistan, darunter Japan, China und Indien.
In Doha ging die dritte Gesprächsrunde schliesslich ohne Reformversprechen seitens der Taliban und ohne Zugeständnisse der internationalen Gemeinschaft zu Ende. Die teilnehmenden Länder einigten sich provisorisch auf die Schaffung von Arbeitsgruppen zu den Themen wirtschaftliche Entwicklung, Kampf gegen Drogen und Terrorismus.
Ein «zu hoher Preis»
Für Richard Bennett, UNO-Berichterstatter zu Afghanistan für den Menschenrechtsrat in Genf, ist der Ausschluss von Frauen beim Doha-Treffen ein «zu hoher Preis». Afghanische Frauen und Exilorganisationen sowie internationale Menschenrechtsorganisationen kritisierten die UNO ebenfalls.
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«Die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan sind nicht verhandelbar», betont Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, in einer Stellungnahme vor der Konferenz.
«Es macht mich traurig, über die dritte Doha-Konferenz zu sprechen, im Wissen, dass Frauen nicht teilnehmen durften», erklärt die afghanische Menschenrechtsaktivistin Fereshta Abbasi, die für Human Rights Watch in Grossbritannien arbeitet.
Abbasi bezieht sich auf Resolution 1325 des UNO-Sicherheitsrats, nach der die UNO die Teilnahme von Frauen am Verhandlungstisch gewährleisten muss. Die Resolution aus dem Jahr 2000 verpflichtet UNO-Mitgliedsstaaten eigentlich darauf, Frauenrechte zu schützen und Frauen bei Friedensverhandlungen, in der Schlichtung von Konflikten und beim Wiederaufbau als gleichberechtigte Partnerinnen zu behandeln.
Dass die dritte Doha-Konferenz ohne afghanische Frauen stattfand, findet Nazifa Jalali fatal. «Die Menschen in Afghanistan haben die Hoffnung in die internationale Gemeinschaft mittlerweile aufgegeben. Die Taliban können nun weiter schalten und walten, wie sie wollen – und sich erst noch sicher sein, dass sie für ihre Verbrechen nicht belangt werden», konstatiert Jalali.
Gender-Apartheid
Berichterstatter Bennett und verschiedene UNO-Behörden beschreiben die Menschenrechtssituation von Frauen und Mädchen in Afghanistan als institutionalisierte Gender-Apartheid. Die Verfolgung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts gilt heute als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Afghanische und internationale Menschenrechtsorganisationen verlangen deshalb, dass der Begriff «Gender-Apartheid» in das Übereinkommen zur Vermeidung und Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen wird, das die UNO-Vollversammlung gegenwärtig verhandelt. Einige westliche Diplomat:innen tun sich mit dem Begriff allerdings noch schwer, weil er an die Rassentrennung in Südafrika erinnert, als gegen das damalige Apartheid-Regime strenge Sanktionen erlassen wurden.
Ehemaliger und aktueller UNO-Botschafter
Weil die Taliban-Regierung international nicht anerkannt wird, wird Afghanistan bei den Vereinten Nationen in Genf weiterhin von Nasir Ahmad Andisha vertreten, der bereits vor der Machtübernahme der Taliban afghanischer UNO-Botschafter war. Er repräsentierte sein Land dieses Jahr auch beim internationalen Prüfverfahren UPR (Universal Periodic Review) zur Menschenrechtssituation in Afghanistan. Im Rahmen des UPR erhielt Afghanistan 243 Empfehlungen der UNO-Mitglieder zur Verbesserung der Menschenrechtssituation.
Afghanistan bzw. die afghanische Delegation von Botschafter Andisha akzeptierte 215 davon, darunter auch die Abschaffung von Körperstrafen wie Auspeitschen und die Aufhebung der drakonischen Massnahmen, die Mädchen und Frauen von Bildung und Arbeit ausschliessen. Die UNO-Mission in Afghanistan (UNAMA) hat die Aufgabe, die Umsetzung dieser Empfehlungen durch die Taliban-Behörden regelmässig zu prüfen.
Im Oktober verlängerte der UNO-Menschenrechtsrat in Genf das Mandat von Richard Bennett um ein weiteres Jahr. Nicht eingegangen wurde bei der Resolution jedoch auf die Forderung der Nichtregierungsorganisationen nach einem zusätzlichen Gremium, das Beweise zu Menschenrechtsverletzungen zusammenträgt, damit die Täter vor Gericht gebracht werden können.
Das Mädchen, dem die Steinigung droht, sitzt nach wie vor im Gefängnis.
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Das Internationale Genf
Editiert von Imogen Foulkes/vm/ts, Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler/cm
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