So setzen sich Städte für Migrant:innen und Geflüchtete ein
Migrationspolitik ist Regierungssache. Auf lokaler Ebene gehen Städte eigene Wege zur Integration von Migrant:innen und Geflüchteten. An einer Konferenz in Genf stellten sie kürzlich ihre innovativen Ansätze vor.
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten. Und die Uno-Abteilung für wirtschaftliche und soziale Fragen UN-DESA erwartet, dass die Städte weiter wachsen.
Laut der UNO-Organisation suchen heute bereits 70% der Geflüchteten und Binnenvertriebenen in Städten Zuflucht. Auch Arbeitsmigrant:innen ziehen vor allem in Städte.
Nationale Regierungen entscheiden, wer sich in einem Land aufhalten darf. Es sind jedoch fast immer die lokalen Behörden, die sich um die Unterbringung und die Integration von migrierten Menschen kümmern.
Eine negative Haltung gegenüber Geflüchteten und Migrant:innen ist zurzeit weltweit verbreitet, es gibt aber auch andere Stimmen. So entwickeln manche Städte eigene Wege, um Geflüchtete und Migrant:innen zu unterstützen.
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Nicht zuständig für diese Fragen
In der Schweiz boten Zürich und weitere Städte an, mehr Geflüchtete aufzunehmen, als ihnen Bund und Kantone zuweisen, da sie über grössere Kapazitäten verfügen als kleine Gemeinden.
Doch der Bund beschied ihnen, sie seien für diesen Entscheid nicht zuständig. Zu weiteren Initiativen zählt, dass der Kanton Genf langjährige Sans-Papiers von 2017 bis 2018 legalisiert hatte. Im Februar 2024 erklärte sich Bern als erste Schweizer Stadt zum «sicheren Hafen» für Geflüchtete.
International vernetzen sich Städte in verschiedenen Organisationen. Kürzlich tauschten die beteiligten Städte am Gipfel des Global Forum on Migration and Development (GFMD) in Genf ihre Erfahrung aus und stellten ihre innovativen Aktivitäten vor. Das jährliche Treffen wird jeweils von einem anderen Staat organisiert. Diesmal war es Frankreich.
SWI swissinfo.ch hat sich am Forum in Genf umgehört und stellt einige der Stadtprojekte vor.
Poitiers: Wohnungen für Sans-Papiers
Poitiers, eine 90’000-Einwohner:innen-Stadt in Frankreich, pflegt eine Politik der Gastfreundschaft für Geflüchtete und Migrant:innen. Zusammen mit Hilfsorganisationen kümmert sich die Stadt um Wohnungen für schutzbedürftige Personen ohne Aufenthaltsbewilligung.
«Priorität hat die Hilfe für Familien mit Kindern, die hier eingeschult werden», sagt Khalid Rhimou im Gespräch mit SWI am GFMD-Treffen. Man sehe bei den Kindern inzwischen bedeutende Fortschritte in der Schule, denn eine Wohnung führe zu Stabilität. Rhimou ist in Poitiers für die «Politik der Gastfreundschaft» zuständig.
Poitiers ist Mitglied der Organisation ANVITAExterner Link (Association Nationale des Villes et Territoires Accueillants), die sich gegen das neue, verschärfte und auch umstrittene Einwanderungsgesetz in Frankreich wehrt.
Inzwischen hat der Verfassungsrat, das französische Verfassungsgericht, einen Teil des Gesetzes für verfassungswidrig erklärt – unter anderem die Schlechterstellung von Ausländer:innen bei den Sozialleistungen.
Seit 2020 profitierten 12 Familien, rund 50 Personen, vom Wohnprogramm in Poitiers. Die Co-Direktorin von ANVITA, Léa Enon Baron, bezeichnet diese Anzahl von Begünstigten gegenüber SWI als beachtlich für eine Stadt, die eigentlich kein Budget dafür habe.
Denn in Frankreich ist der Zentralstaat zuständig für die Unterbringung von Personen, egal welcher Nationalität sie sind. Die Einschulung der Kinder ist dagegen Aufgabe der Städte.
«Wir alle sind Barranquilla»
Die kolumbianische Millionenstadt Barranquilla macht vorwärts bei der Arbeitsintegration. Sie will Geflüchtete vor allem aus Venezuela sowie kolumbianische Vertriebene in den formellen Arbeitsmarkt integrieren.
Das Projekt «Wir alle sind Barranquilla» (Todos Somos Barranquilla) bietet dazu neben beruflicher Fachausbildung und psychosozialer Betreuung einen direkten Zugang zu zahlreichen Unternehmen, mit denen die Stadt zusammenarbeitet. Wie der Name des Projekts vermuten lässt, haben die Geflüchteten einen legalen Aufenthaltsstatus.
«Barranquilla ist avantgardistisch», sagt Daniela Cepeda Tarud, Beraterin für Migrationsfragen der Stadt, am GFMD nicht ohne Stolz. «Unser Ziel ist, dass die Menschen unabhängig werden und keine Unterstützung mehr brauchen.»
Seit 2021 bot das inzwischen abgeschlossene Pilotprojekt mehr als 100 Personen einen Arbeitsplatz. Finanziell unterstützt wurde es durch einen Fonds der Städteorganisation Mayors Migration Council sowie von internationalen philanthropischen Geldgeber:innen. Nun baut Barranquilla das Projekt zum ständigen Programm aus.
Accra: Integration in formelle Wirtschaft
Mehrere internationale Städtenetzwerke haben einen Aufruf zu lokalem Handeln (Call to Local Action) gestartet, der die Umsetzung des Globalen MigrationspaktsExterner Link und des Globalen FlüchtlingspaktsExterner Link fördern soll.
Der Aufruf wird von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) unterstützt. Am GFMD wurde eine Zusammenstellung der Projekte von weltweit mehr als 100 Städten präsentiert.
In Afrika beteiligt sich etwa die ghanaische Hauptstadt Accra an dem Aufruf. Die meisten Geflüchteten und Vertriebenen leben in Entwicklungsländern.
Accra verpflichtete sich dazu, die Arbeitsbedingungen von Migrant:innen in der informellen Abfallwirtschaft von Armenvierteln zu verbessern.
Die Abfallarbeiter:innen werden offiziell angestellt und erhalten damit auch Zugang zur Gesundheitsversorgung. Zudem richtet Accra Kindertagesstätten ein, damit sich die Kinder der Abfallarbeiter:innen in sauberen Räumen aufhalten können.
Zürich: Gesellschaftliche Teilhabe für alle
Auch die Stadt Zürich hat sich dem «Call to Local Action for Migrants and Refugees» angeschlossen. Sie will städtische Dienstleistungen für Schutzbedürftige verbessern, darunter für irreguläre Migrant:innen. Die Stadt verpflichtete sich, die Gesundheitsversorgung auch für alle Personen ohne Krankenkasse zu gewährleisten.
Weiter arbeitet Zürich an der für Anfang 2026 geplanten Einführung der Züri City Card, die es allen Einwohner:innen unabhängig vom Aufenthaltsstatus ermöglichen soll, etwa ein Bankkonto zu eröffnen oder ein Handy-Abonnement zu kaufen.
Die Stadtzürcher Stimmbevölkerung hatte sich 2022 für diese lokale Identitätskarte ausgesprochen. Aus Sicht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist die City Card eine Chance für die gesellschaftliche Teilhabe.
Auf das Risiko einer Wegweisung, beispielsweise aufgrund einer Polizeikontrolle, habe die Karte jedoch keinen Einfluss.
Quezon City: Unterstützung für Landsleute im Ausland
Auf eine ganze andere Realität richtet sich Quezon City aus. Sie ist die grösste Stadt der Philippinen – einem Staat, den viele für eine Beschäftigung im Ausland verlassen.
Quezon City unterstützt Landsleute, die als Arbeitsemigrant:innen in Ausland gehen. Dabei arbeitet sie mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zusammen.
«Quezon City hat menschenzentrierte Konzepte», sagt Djohanna Delia Ravelo, Leiterin des Zentrums für Emigrant:innen der philippinischen Stadt.
Die Stadt klärt die Landsleute über ihre Rechte auf. Damit die Betroffenen leichter eine Stelle finden, führt sie Schulungen durch, und bietet auch Hilfe bei der Rückkehr ins Land an.
Dank der umfassenden Informationen sollen sich die Arbeitsemigrant:innen besser vor Ausbeutung schützen können. Die Stadt bemüht sich zudem darum, dass die Emigrant:innen sich in Gruppen zusammenschliessen.
Dies fördert nach den Worten von Ravelo ein Gefühl der Zugehörigkeit und der gegenseitigen Unterstützung im Gastland.
Für mehr Zusammenarbeit
Zum Abschluss des Treffens sprachen sich die Vertreter:innen der Städte, von UNO-Organisationen und weitere Teilnehmende für eine verstärkte Zusammenarbeit aller Interessengruppen aus, damit bei der Migrationspolitik auch die Menschenrechte eingehalten werden.
Zu diesen Gruppen zählten sie Regierungen, Parlamente, Provinzen, Städte, NGOs, Universitäten und den Privatsektor. Die Mobilität der Menschen müsse sicher sein, erklärten sie.
Dazu brauche es mehr legale Migrations- und Fluchtwege, wie dies die beiden – rechtlich unverbindlichen – globalen UNO-Pakte zu Geflüchteten und zur Migration vorsehen.
Bei der UNO haben Städte weniger Rechte als NGOs. Doch auch die Städte wollen international mitreden und bringen sich verstärkt ein:
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Städte fordern Mitsprache bei internationalen Verhandlungen
Editiert von Benjamin von Wyl
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