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UNO schlägt Alarm: Sudanesische Geflüchtete in Libyen festgehalten und misshandelt

Ein Mann trägt ein Kind auf einem Boot
Eine Rettungsaktion der libyschen Küstenwache vor der Küste Libyens, 15. Januar 2018. REUTERS/Hani Amara

In Libyen haben über 200’000 Menschen vor dem Krieg im Sudan Zuflucht gesucht. Dort sind sie jedoch massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Die UNO befürchtet, dass die Geflüchteten nach Europa weiterreisen, wenn sie vor Ort keine Unterstützung erhalten.

Die UNO schlägt angesichts der hohen Zahl an Kriegsopfern im Sudan Alarm: Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR wurden seit Ausbruch des Kriegs zwischen den sudanesischen Streitkräften und der paramilitärischen Gruppe Rapid Support Forces (RSF) im April 2023 zehn Millionen Menschen vertrieben. Rund zwei Millionen von ihnen sind in Nachbarländer geflohen.

Nirgendwo ist ihre Lage kritischer als in Libyen, wo viele Geflüchtete hoffen, nach Europa oder Tunesien weiterreisen zu können.

Satellitenaufnahmen eines Lagers vor und nach dem Krieg im Sudan
Das Flüchtlingslager Zamzam ausserhalb der Stadt al-Fasher in der sudanesischen Region Darfur, vor (links) und nach dem Angriff des 14. Januar 2025. Maxar Technologies via AP

Im Januar 2025 schätzte das UNHCR die Zahl der sudanesischen Flüchtlinge in Libyen auf 210’000. Oft haben sie keine Ausweispapiere dabei, womit sie nach libyschem Recht illegal eingereist sind. «Sudanesische Flüchtlinge werden in der Regel sofort verhaftet und in Haftzentren oder auf Polizeistationen gebracht, wo wir als Anwälte eingreifen müssen», erklärt Omar, ein Anwalt aus einer Stadt im Süden Libyens, gegenüber SWI swissinfo.ch. Nach Angaben des UNHCR suchten 2024 allein im Bezirk Alkufra im Südosten Libyens täglich 400 bis 500 Menschen aus dem Sudan Zuflucht.

Omar ist Mitglied des libyschen Anti-Folter-Netzwerks LAN. Er spricht anonym mit uns, weil Anwälte und NGOs in Libyen mit Strafverfolgung rechnen müssen, wenn sie Geflüchtete unterstützen.

Laut einer UntersuchungExterner Link, die von LAN gemeinsam mit der Weltorganisation gegen Folter OMCT im November 2024 veröffentlicht wurde, sind sudanesische Geflüchtete in Libyen gravierenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Obwohl sie als Kriegsflüchtlinge nach internationalem Recht als schutzbedürftig gelten, sind sie in Libyen «willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen, Erpressung, Menschenhandel, Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt und Rassendiskriminierung ausgesetzt», hält der Bericht fest.

Im Sudan selbst bleiben Kriegsverbrechen seit Jahren ungeahndet:

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Derweil ist Libyen mit seinem eigenen internen Konflikt beschäftigt. Ein von der NATO unterstützter Volksaufstand stürzte 2011 den langjährigen Machthaber Muammar al-Gaddafi. Seitdem ist das Land zu einer gefährlichen Durchgangsstation für Geflüchtete und Migrant:innen geworden. In Libyen sind zwei Regierungen in unterschiedlichen Teilen des Landes an der Macht, gleichzeitig gibt es zahlreiche bewaffnete lokale Gruppen. Diese Konstellation hat zur Folge, dass Verstösse gegen Menschenrechte an der Tagesordnung sind.

Libyen hat die UNO-Flüchtlingskonvention von 1951 nicht ratifiziert, wohl aber ein vergleichbares Abkommen der Afrikanischen Union. Dies hindert das Land jedoch nicht daran, Geflüchtete und Asylsuchende in Haft zu nehmen.

Männer auf dem Boden sitzend und von Sicherheitskräften überwacht
Menschen in einem provisorischen Auffanglager, nachdem sie von den libyschen Behörden in Tripolis, Libyen, festgenommen wurden, 8. Oktober 2015 REUTERS/Ismail Zitouny

Libyen: Willkürliche Verhaftungen sind gängig

Zusammen mit anderen Anwält:innen im Süden Libyens unterstützt Omar jährlich mehrere hundert sudanesische Flüchtlinge, die in Polizeistationen in Haft sitzen. Seine Organisation arbeitet mit Anwält:innen im ganzen Land zusammen. «Manchmal können wir die nach libyschem Recht erforderliche Geldstrafe für die Freilassung bezahlen», erklärt Omar. «Oft gelingt es uns, Inhaftierte freizubekommen, wenn die Polizeistationen einer strafrechtlichen Verfolgung zustimmen und ein Gerichtsverfahren eröffnet wird.»

Wird eine willkürlich und ohne Gerichtsverfahren festgehaltene geflüchtete Person an einen anderen Ort verlegt, wird es für die Anwälte schwierig, sie wieder aufzuspüren. Manchmal bleiben Menschen ohne Grund jahrelang in Haft, selbst wenn ihr Aufenthaltsort bekannt ist und bei der Generalstaatsanwaltschaft Beschwerden eingereicht wurden.

Sudanesische Geflüchtete kommen zuerst im Süden Libyens an, wo sie mit zusätzlichen Problemen wie Obdachlosigkeit, Raub und Vergewaltigung konfrontiert sind. Zudem werden sudanesische Kinder und Jugendliche oft zu Zwangsarbeit auf Bauernhöfen gezwungen. Omar kritisiert, dass das UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) in der Region zu wenig präsent seien. Kinder seien dort besonders gefährdet, meint er. Im September und Oktober 2024 starben mehrere Kinder an Hunger.

Der Süden und Osten Libyens wird von der bewaffneten Gruppe Libyan Arab Armed Forces (LAAF) kontrolliert. Dort laufen Geflüchtete aus dem Sudan Gefahr, an die sudanesische paramilitärische Miliz RSF übergeben und so in ihr Herkunftsland zurückgeschickt zu werden. Mehrere Dutzend Männer seien an die RSF ausgeliefert worden, erklärt Abdelaziz Muhamat, Mitglied des Komitees der sudanesischen Diaspora, gegenüber SWI swissinfo.ch.

Letztes Jahr fanden in Genf Verhandlungen über eine Waffenruhe statt – wir berichteten, wie sudanesische Aktivistinnen sich einbrachten:

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Nächster Halt: Europa

Viele Flüchtlinge versuchen, den Norden des Libyens zu erreichen, wo die Versorgung besser ist. In der Hauptstadt Tripolis können sie sich in einem Aufnahmezentrum des UNHCR als Geflüchtete registrieren lassen. Obwohl Libyen nicht Mitglied der UN-Flüchtlingskonvention ist, erhoffen sich viele davon einen gewissen Schutz und die Aussicht auf eine Umsiedelung in ein Drittland. Tatsächlich umgesiedelt werden jedoch nur sehr wenige. Deutschland hat im Vergleich viele Geflüchtete aus Libyen aufgenommen, dennoch sind es nur etwa 450 Personen.

Für viele geht die Reise über Libyen hinaus weiter. Nach Angaben des UNHCR kamen zwischen Anfang 2023 und April 2024 rund 6000 sudanesische Geflüchtete über Tunesien und Libyen nach Italien, fast sechs Mal mehr als im Vorjahr. Viele die versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, werden von der libyschen Küstenwache aber abgefangen und mit Gewalt nach Libyen zurückgebracht.

Filippo Grandi, UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sudanesische Geflüchtete nach Europa weiterreisen könnten, wenn sie nicht vor Ort ausreichend Unterstützung von den reichen Ländern erhalten.

«Die reichen Länder sind ständig besorgt über die sogenannte ‘irreguläre Migration’. Sie unternehmen aber zu wenig, um den Menschen zu helfen, bevor sie an Menschenhändler gelangen», hielt Grandi Ende Mai 2024 vor dem UN-Sicherheitsrat fest.

Die EU hat die libysche Küstenwache seit 2017 mit mindestens 59 Millionen Euro in Form von Militärschiffen, Geld und Ausbildung unterstützt, um Geflüchtete und Migranten von einer Reise nach Europa abzuhalten.

Die Geflüchteten, die von der Küstenwache abgefangen werden, würden oft ertrinken oder verletzt und dann an verschiedene Orte gebracht, wo sie misshandelt würden, berichtet Mohamed, der für LAN im Nordwesten Libyens arbeitet. Zeugenaussagen, die von LAN und einer unabhängigen Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrats zusammengetragen wurden, bestätigen diese Schilderung. Es gebe auch Beweise dafür, dass die Küstenwache im Norden des Landes mit Menschenhändlern zusammenarbeite.

Eine Seenotrettungsoperation findet statt
Eine Seenotrettung der italienischen Küstenwache vor Lampedusa, Italien, am 11. November 2023. EPA/ELIO DESIDERIO

Das UNHCR und die IOM fordern seit langem ein Ende der Rückführung von Menschen nach Libyen, die von der libyschen Küstenwache aufgegriffen werden, weil ihnen dort die willkürliche Festnahme und Misshandlung droht. Die Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrats verurteilte in ihrem Bericht vom März 2023 Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Geflüchteten und Migrant:innen in Gefängnissen der libyschen Behörden, einschliesslich der Küstenwache.

LAN sammelt Informationen über Menschenrechtsverletzungen und leitet sie an internationale Organisationen wie die UNO-Unterstützungsmission in Libyen und das UNHCR weiter. Nur so könne tatsächlich Druck auf die Regierung ausüben, sagt Mohamed. «Dank unserer Bestrebungen wurden drei Haftanstalten geschlossen.»

Mohamed klagt, dass die Betroffenen nicht einmal respektiert würden, wenn sie tot sind. Er zeigt uns auf seinem Handy Fotos von Leichen ertrunkener Menschen, von denen einige bereits verwest sind und bei den libyschen Küsten angespült wurden. Diese Toten zwar würden zwar auf speziellen Friedhöfen begraben, aber in der Regel nicht identifiziert.

Verhaftet, deportiert, gefoltert – und vergessen

Wer von Tunesien aus nach Europa gelangen will, wird an der Grenze aufgehalten, nach Libyen zurückgeschickt und in einem Haftlager in Al-Assa in der Nähe der Grenze untergebracht. Mohamed zufolge befinden sich immer rund 700 Personen in Al-Assa. Wenn das Lager überfüllt ist, werden Geflüchteten laut OMCT anderswo inhaftiert, ohne dass ihre persönlichen Daten erfasst würden. «Viele Menschen gehen hier verloren, werden entweder vermisst, sterben oder werden in anderen Einrichtungen gefoltert», berichtet Mohamed.

Anfang Februar wurden im Osten Libyens in der Wüste zwei Massengräber entdeckt: Bei Jakharrah (400 km südlich von Benghazi) wurden in einem Grab 19 Leichen gefunden, in einem zweiten in der Alkufra-Wüste im Südosten werden bis zu 70 Leichen vermutet. Die Umstände ihres Todes und ihre Nationalitäten sind unbekannt. Beide Gräber wurden nach einer Polizeirazzia entdeckt, bei der Hunderte von Geflüchteten und Migrant:innen vor Menschenhändlern gerettet worden waren. Bereits im März 2024 waren in der Wüste im Südwesten Libyens nahe der tunesischen Grenze 65 Leichen in einem Massengrab entdeckt worden.

«Das UNHCR fordert weiterhin, dass für Geflüchtete und Migrant:innen Möglichkeiten geschaffen werden, um ein neues Leben aufzubauen, dass die humanitäre Hilfe gewährleistet bleibt und in Libyen und entlang der Migrationsrouten, wo kriminelle Netzwerke schutzbedürftige Menschen für Lösegeld und Missbrauch ausbeuten, der Zugang zu einer Grundversorgung ermöglicht wird», so das UNO-Flüchtlingswerk.

Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler

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