Verstösse gegen Menschenrechte ans Licht zu bringen, wird zunehmend schwieriger
Kriegsparteien unternehmen viel, damit ihre Menschenrechtsverletzungen nicht aufgeklärt werden. In bewaffneten Konflikten ist die Arbeit von Verteidiger:innen der Menschenrechte darum von besonderer Bedeutung.
Lyubov Smachylo lebt in Kiew und Paris. Das Grauen des Kriegs zeigt sich in den Dokumenten, die sie studiert. Für die ukrainische Organisation Media Initiative for Human Rights MIHR analysiert sie Aussagen über russische Kriegsverbrechen.
Das Problem an dieser Arbeit: «Wir können nicht in die von Russland besetzten Regionen im Osten und Süden der Ukraine gehen», sagt Smachylo. «Wir haben aber einige Kontakte dort.»
Kommt dazu: Für die Menschen in jenen Regionen sei es gefährlich, darüber zu sprechen, wie ihre Rechte verletzt werden, dass sie etwa ohne russischen Pass keine Krankenversicherung erhalten. Denn die russischen Behörden führten Razzien in Wohnungen durch und kontrollierten Computer und Telefone.
Menschenrechtsverteidiger:innen ermitteln und sammeln Informationen über Verstösse gegen die Menschenrechte. Sie sensibilisieren die Öffentlichkeit dafür mit dem Ziel, dass die Menschenrechte eingehalten werden.
Wie arbeiten sie in einem Kriegsgebiet oder in einem Umfeld, in dem ein Grossteil der öffentlichen Meinung gegen sie ist? SWI swissinfo.ch hat an der UNO in Genf eine ukrainische Menschenrechtlerin sowie zwei aus Israel getroffen.
Smachylos Organisation MIHR spricht auch vor Ort mit Opfern, Zeugen und Zeuginnen von Menschenrechtsverstössen, etwa in befreiten Gebieten im Norden des Landes. Zu den Tätern gehören die russischen Streitkräfte, die straffrei agierten und Zivilisten willkürlich inhaftierten, sagt Smachylo. Darum komme es oft zu Misshandlungen.
Kaum eine internationale Organisation kann die besetzten ukrainischen Regionen besuchen, nicht einmal das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte.
Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) kann Kriegsgefangene nur begrenzt besuchen. Daher bestehe eine verstärkte Gefahr, dass diese misshandelt werden und die Täter straflos davonkommen, sagt Smachylo.
Weniger Spielraum
Auch Israel hat den Zugang zu politischen Gefangenen eingeschränkt. Für Menschenrechtler:innen ist der Spielraum seit dem Überfall der palästinensischen Islamistenorganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 enger geworden.
«Zum Thema Folter zu arbeiten war in Israel nie einfach», sagt Menschenrechtsanwältin Tal Steiner, Direktorin der Organisation Public Committee Against Torture in Israel (PCATI).
Das gelte in Israel überall dort, wo Menschenrechte auf israelische Sicherheitsinteressen träfen. Seit dem 7. Oktober sei die Arbeit noch schwieriger geworden, sagt Steiner.
Ihre NGO zieht den Staat Israel wegen der Anwendung von Folter zur Rechenschaft. Obwohl in internationalen Dokumenten wie der UNO-Menschenrechtserklärung ein absolutes Folterverbot verankert ist, ist diese in Israel nicht verboten.
Für viele Israeli sei die nationale Sicherheit im Moment wichtiger als Menschenrechte. Es gebe auch Rachegefühle gegenüber Palästinensern, und das zeige sich besonders in Gefängnissen.
Diese seien seit dem 7. Oktober überbelegt, die Lebensbedingungen hätten sich stark verschlechtert, sagt Steiner. So sei etwa der Zugang zu Wasser, Nahrung und medizinischer Versorgung eingeschränkt.
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An dem SWI-Gespräch mit Steiner nimmt auch Miriam Azem teil. Die Völkerrechtsexpertin arbeitet für die palästinensische Organisation Adalah, die palästinensische Angeklagte aus Israel und den besetzten Gebieten an israelischen Gerichten verteidigt.
Adalah ist eine von elf NGO, die das Schweizer Aussendepartment EDA nach dem 7. Oktober auf ihre Finanzierung hin kontrollierte. Nach einer Untersuchung unterstützt die Schweiz die NGO weiter.
«Seit dem 7. Oktober werden unsere Anwält:innen nach ihrer Loyalität gegenüber Israel befragt», sagt Azem. Dies habe sich etwa vor Disziplinarausschüssen an Universitäten gezeigt.
«Über 120 Disziplinarverfahren wurden seither gegen palästinensische Student:innen – israelische Bürger:innen – eingeleitet, nachdem sie sich in sozialen Medien israelkritisch äusserten.»
Die grosse Mehrheit der Posts sei nicht strafrechtlich relevant gewesen. Die Vorwürfe gegen die Aktivist:innen hätten sich aber auf das Antiterrorgesetz gestützt, das hohe Haftstrafen vorsehe.
Arbeit unter erschwerten Bedingungen
In der Ukraine befasst sich MIHR unter anderem mit Kriegsgefangenen und Zivilpersonen, die in den russisch besetzten Regionen festgenommen wurden oder sich an unbekannten Haftorten befinden.
Die Inhaftierten würden geschlagen und gefoltert, einige seien wegen der schlechten Haftbedingungen gestorben, sagt Smachylo. MIHR habe dies von inhaftierten Personen erfahren, die freigelassen wurden.
«Wir wissen von 55 Haftorten in den besetzten Regionen der Ukraine und von 40 in Russland, wo insgesamt mindestens 1550 ukrainische Zivilpersonen inhaftiert sind», sagt Smachylo.
Das in Russland vertretene IKRK könne nicht alle diese Orte überprüfen und Gefangene besuchen. Das IKRK selbst äusserte sich auf Anfrage nicht dazu, ob es Zugang zu den besetzten Regionen hat.
PCATI und Adalah sowie zwei weitere israelische Organisationen schickten im Februar einen dringenden Appell an die UNO-Sonderberichterstatterin über Folter, Alice Jill Edwards.
Sie forderten sie auf, unverzüglich einzugreifen, um Folter und systematische Misshandlungen von palästinensischen Gefangenen in israelischen Hafteinrichtungen zu stoppen.
Abgesehen von privaten Anwältinnen und Anwälten besuchen zurzeit nur die vier Organisationen israelische Gefängnisse – Israel verweigert dem IKRK den Zugang dazu seit dem 7. Oktober.
«Wir sind daher die einzigen, die berichten können, was wir dort gesehen haben», sagt Steiner. Rund 10’000 palästinensische Gefangene sind derzeit in israelischer Haft, viele von ihnen ohne Gerichtsverfahren.
Niemand darf jedoch die israelischen Militärcamps für Gefangene aus dem Gazastreifen besuchen. PCATI befürchtet dort ein «neues Guantanamo», in Anspielung auf das US-Gefangenenlager auf Kuba, in dem nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 Gefangene auf unbestimmte Zeit ohne Gerichtsverfahren festgehalten wurden.
Die vier Organisationen erklärten sich in dem Appell auch sehr besorgt über eine entmenschlichende Rhetorik von israelischen Regierungsvertretern. So sprach sich der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, dem der Strafvollzug unterstellt ist, wiederholt dafür aus, Palästinenser:innen einer erniedrigenden Behandlung zu unterziehen.
Inzwischen forderte UNO-Berichterstatterin Edwards Israel auf, die zahlreichen Vorwürfe von Folter an Palästinenser:innen aufzuklären. Seit dem 7. Oktober seien Tausende von ihnen, darunter Kinder, inhaftiert worden, teilte sie mit.
Edwards hatte Berichte über Personen erhalten, die geschlagen wurden, die mit verbundenen Augen und Handschellen übermässig lange in Zellen festgehalten, ihres Schlafs beraubt sowie mit körperlicher und sexueller Gewalt bedroht wurden.
Burnouts und Todesdrohungen
Smachylo sagt, der Krieg in der Ukraine, der sich über das ganze Land erstreckt, sei eine zusätzliche Belastung für die anstrengende Arbeit. Für Kolleg:innen, die vor Ort während vielen Stunden die Berichte von Folteropfern aufschreiben, bestehe das Risiko, ein Burnout zu erleiden.
Die Genfer Weltorganisation gegen Folter (OMCT), die mit MIHR zusammenarbeitet, unterstützt daher psychologisch-therapeutische Klausurtagungen von MIHR finanziell.
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Auch Steiner weist besonders auf die grosse Arbeit hin. «Angesichts der Trauer über die Tragödien vom 7. Oktober und über den Krieg im Gazastreifen erweist sich die Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinenser:innen als aufgabenreich.» Für sie selbst sei es elementar, dass jede inhaftierte Person das Recht auf Verteidigung habe.
Es gab auch Verleumdungskampagnen. Der israelische TV-Sender Channel14, der dem rechten US-Sender Fox News entspricht, machte eine abwertende Sendung über PCATI und weitere Organisationen, die sich für die Rechte der Palästinenser:innen einsetzen.
«Schande: die israelischen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich um die Behandlung von Hamas-Terroristen kümmern», titelte er. Das führte zu Schikanierungen und Drohanrufen.
Einige Mails, die Steiner erhielt, hätten Vergewaltigungs- und Todesdrohungen enthalten, in andern wurde ihr und ihrer Familie alles Übel gewünscht.
Azem betont ihrerseits: «Wir bewegen uns in einem Raum, der unserer Arbeit ablehnend gegenübersteht. Als in Israel registrierte NGO sind wir extrem vorsichtig.»
Steiner ergänzt, die Verfolgung von NGO in Israel und Palästina habe eine lange Geschichte. Sechs palästinensische Menschenrechtsorganisationen seien von Israel als terroristisch eingestuft worden. Und aktuell sähen mehrere Gesetzesvorlagen eine hohe Besteuerung von israelischen NGO vor. Das würde deren Arbeit erschweren.
Editiert von Virginie Mangin und Balz Rigendinger
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