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Was bei den Schlagzeilen um Verletzungen des Völkerrechts vergessen geht

Humanitäre Hilfspakete landen mit Hilfe von Fallschirmen, nachdem sie aus einem Flugzeug abgeworfen wurden
Humanitäre Hilfsgüter landen mit Fallschirmen in Khan Yunis, Gaza, am 4. Juni 2024. Anadolu / Ashraf Amra

Das humanitäre Völkerrecht soll Menschen in Kriegszeiten schützen. Auch wenn Verstösse die Schlagzeilen dominieren: Es ist nicht wirkungslos.

Ob im Krieg in der Ukraine, im Sudan oder im Gazastreifen: Humanitäre Organisationen rufen Kriegsparteien immer wieder dazu auf, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren.

Wie es scheint ohne Erfolg: «Alle humanitären Helfer:innen stellen bei ihrer täglichen Arbeit fest, dass das humanitäre Völkerrecht nicht eingehalten wird», sagte der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, unlängst vor dem UNO-Sicherheitsrat.

Und er zeichnete ein düsteres Bild: Fast alle Konfliktparteien hätten aufgehört, die Grundregeln des Kriegs zu respektieren. Zivilpersonen würden getötet, sexuelle Gewalt werde als Kriegswaffe eingesetzt, zivile Infrastruktur werde zerstört und humanitäre Helfer:innen würden zur Zielscheibe.

Humanitäres Völkerrecht: Das sind die Regeln

Grundlage des humanitären Völkerrechts sind die vier Genfer Konventionen von 1949, die alle Staaten ratifiziert haben. Die Staaten sind verantwortlich für dessen Einhaltung. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat das Mandat, auf die korrekte Anwendung zu achten und sicherzustellen, dass die Staaten über ihre Pflichten informiert sind.

So muss das humanitäre Völkerrecht beispielsweise Teil der Gesetzgebung und der militärischen Ausbildung sein. Zu den wichtigsten Bestimmungen zählt, dass Kriegsparteien die Zivilbevölkerung schützen müssen und nur militärische Ziele angreifen dürfen.

Militärische Operationen müssen zudem verhältnismässig sein. In diesem Kontext wird der grossflächige Einsatz von schweren Bomben in dicht besiedelten Städten im Gazastreifen und in der Ukraine von verschiedenen Seiten kritisiert.

Zu den Regeln gehört auch, dass Spitäler geschützt sind. Wird ein Spital als Kampfstützpunkt missbraucht, stellt sich für die Gegenseite als erstes die Frage, ob es deshalb seinen Schutz verliert und ganz oder teilweise zu einem militärischen Ziel wird. Anschliessend braucht es eine Aufforderung, die militärische Nutzung des Spitals einzustellen. Und es ist dafür eine angemessene Frist zu setzen.

Auch die Verhältnismässigkeit eines geplanten militärischen Einsatzes muss geprüft werden. Es geht um die Fragen: Wie wird sich der Einsatz auf die Zivilbevölkerung auswirken? Welche Folgen hat es beispielsweise für die Menschen, die im Spital behandelt werden, wenn Generatoren ausser Betrieb gesetzt werden?

Es müssen zudem Schutzmassnahmen ergriffen werden, um die Auswirkungen möglichst gering zu halten. Und die Bevölkerung muss vor einem Angriff gewarnt werden.

Nach Meinung von Christopher Lockyear, Generalsekretär von Médecins sans Frontières MSF, missachtet Israel im Gaza-Krieg verschiedene dieser Auflagen: «Es steht für mich ausser Frage, dass das humanitäre Völkerrecht vorsätzlich missachtet wird», sagt er gegenüber SWI swissinfo.ch.

Hunger werde als Waffe eingesetzt. Und mit inzwischen über 38’000 getöteten Menschen sieht er das Prinzip der Verhältnismässigkeit verletzt. Lockyear kritisierte zudem, dass Israel die Bevölkerung im Gazastreifen in vielen Fällen zu kurzfristig vor Angriffen gewarnt hat, um Menschen aus Spitälern zu evakuieren.

Die Genfer Konvention
Die Genfer Konvention von 1949, die regelt, was in Konflikten erlaubt ist und was nicht. Keystone / Gaetan Bally

Eine Frage der Wahrnehmung

Wird das humanitäre Völkerrecht also heute weniger respektiert als noch vor einigen Jahren? Das sei nicht zu beantworten, sagt Anne Quintin, Völkerrechtsexpertin beim IKRK. Es sei eine Frage der Wahrnehmung, wissenschaftliche Vergleichsstudien fehlten.

Die Medien berichteten oft über Verstösse, jedoch kaum, wenn das humanitäre Völkerrecht respektiert werde, so Quintin.

Und dass heute Ereignisse in sozialen Netzwerken praktisch in Echtzeit verfolgt werden können, erwecke den Eindruck, dass es sehr viel mehr Verstösse gegen gebe als vor Jahren. Dabei habe die Öffentlichkeit in der Zeit vor den sozialen Medien schlicht weniger über Verstösse erfahren.

In vielen Fällen aber werde das humanitäre Völkerrecht täglich respektiert, sagt Quintin: Jedes Mal, wenn eine Kriegspartei auf eine militärische Aktion verzichte, weil zu viele Zivilpersonen betroffen wären.

Oder jedes Mal, wenn das IKRK Gefangene besuchen, mit den Kriegsparteien sprechen oder mit weiteren Organisationen humanitäre Hilfe leisten könne.

Es geht auch um die Reputation

Das wirft die Frage auf, welche Interessen Kriegsparteien haben, um das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Quintin sagt, die Tatsache, dass alle Staaten die Genfer Konventionen ratifiziert haben, zeige deren allgemeine Akzeptanz. Manche Staaten hielten das Völkerrecht aus ökonomischen Gründen ein, also um Sanktionen durch andere Staaten zu vermeiden.

Wieder andere wollen sich positionieren, der Ruf eines Landes spielt gemäss Quintin auch bei den eigenen Wählerinnen und Wählern eine Rolle. Und dann gilt das Gebot der Gegenseitigkeit: Wenn die eine Seite Besuche des IKRK von Kriegsgefangenen zulässt und diese menschlich behandelt, wird auch die andere Seite dazu tendieren, Kriegsgefangene korrekt zu behandeln.

Auch viele bewaffnete nichtstaatliche Gruppen sind heute sensibel in Bezug auf ihre Reputation. Vor allem Gruppen, die beabsichtigen, einmal eine Regierung zu bilden. Sie wollen als glaubwürdige Akteure gelten. Auf der Weltbühne bedeute das, internationale humanitäre Regeln einzuhalten, so Quintin.

Gemäss dem Artikel 1 der Genfer Konventionen haben Drittstaaten zudem die Pflicht, nicht zu Verstössen des humanitären Völkerrechts beizutragen, also keine Waffen an Regierungen oder Gruppen zu verkaufen, die damit Kriegsverbrechen begehen. Daher überprüfen einige westliche Regierungen wie beispielsweise Grossbritannien die Rechtmässigkeit ihrer Waffenexporte nach Israel.

Das humanitäre Völkerrecht hat sich über die Jahre weiterentwickelt. So ist der Einsatz von Antipersonenminen erst seit der Ottawa-Konvention von 1997 für entsprechende Mitgliedstaaten verboten, während Streubomben seit 2008 nicht mehr verwendet werden dürfen.

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Kriegsverbrecher – ein Wort mit Wirkung

Andrew Clapham, Professor für Völkerrecht am Graduate Institute in Genf, sagt, das humanitäre Völkerrecht helfe den Kriegsparteien dabei, Fehlverhalten zu vermeiden, und nicht als Kriegsverbrecher dazustehen.

«Die Ereignisse der vergangenen Monate haben den Menschen vor Augen geführt, dass es eine enorme Auswirkung hat, jemanden als potenziellen Kriegsverbrecher zu bezeichnen», sagte er im von SWI swissinfo.ch produzierten Podcast «Inside Geneva».

Wenn Politiker wie der russische Präsident Wladimir Putin oder der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als Kriegsverbrecher taxiert würden, leiste man Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen, falls man ihr Tun unterstütze, sagt Clapham.

Gegen Putin liegt ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs ICC vor, gegen Netanjahu beantragte der ICC-Generalstaatsanwalt einen Haftbefehl.

Für eine solche Zusammenarbeit könnten Staaten zur Rechenschaft gezogen werden. Gerichte könnten zum Schluss kommen, es bestehe die Gefahr, dass exportierte Waffen für ein Kriegsverbrechen verwendet werden.

Die Wirkung weist über die Staatenebene hinaus

So geschehen im Fall eines niederländischen Gerichts: Das Berufungsgericht in Den Haag wies die Regierung an, eine Lieferung von Teilen für F-35-Kampfflugzeuge an Israel zu blockieren. Grund war die Befürchtung, dass diese für Verletzungen des humanitären Völkerrechts verwendet werden könnten.

Spanien wiederum weigerte sich im Mai, ein Schiff an einem seiner Häfen anlegen zu lassen, das Waffen aus Indien für Israel transportierte. Der spanische Aussenminister José Manuel Albares erklärte, der Nahe Osten brauche nicht mehr Waffen, sondern mehr Frieden.

Und die Wirkung reicht über die Ebene von Staaten hinaus: So teilte beispielsweise Ende Juni die private norwegische Pensionskasse KLP, die rund 90 Milliarden Dollar verwaltet, mit, nicht mehr in den US-Konzern Caterpillar zu investieren. Es bestehe ein Risiko, dass das Material des Konzerns im Gazastreifen und im Westjordanland zu Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen beitrage.

Caterpillar liefere seit langem Bulldozer an Israel, die im Westjordanland dazu verwendet würden, palästinensische Häuser zu zerstören, um Platz zu machen für israelische Siedlungen, schrieb KLP. Laut Berichten setze Israels Armee Caterpillar-Maschinen auch im Gaza-Krieg ein.

Trotz der täglichen Schlagzeilen über Verstösse und Gräueltaten bleiben das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen also nicht wirkungslos.

Editiert von Imogen Foulkes, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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